LG Fulda: Totschlag an Neugeborenem - zum Begiff des Menschen im Strafrecht

Das Landgericht Fulda hat eine 35-jährige Mutter wegen Totschlags (§ 212 StGB) an ihrem neugeborenen Kind zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Nach Überzeugung der Kammer tötete die Frau ihr kurz zuvor geborenes Baby in einer öffentlichen Toilette und versteckte den Leichnam anschließend in einer Gefriertruhe.

Das Gericht sah von der Anwendung des regulären Strafrahmens des § 212 Abs. 1 StGB (Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren) ab und ging vielmehr von einem minderschweren Fall (§ 213 StGB) aus. Maßgeblich hierfür waren die psychische Ausnahmesituation der Mutter unmittelbar nach der Geburt, ihre familiäre Belastungssituation und das Fehlen von Anhaltspunkten für niedrige Beweggründe.

1. Warum Totschlag – und nicht § 218 StGB (Schwangerschaftsabbruch)?

Entscheidend für die rechtliche Einordnung war, dass das Kind bereits geboren war. Während § 218 StGB ausschließlich den Schutz des ungeborenen Lebens betrifft, finden die Tötungsdelikte der §§ 212 ff. StGB nur Anwendung, wenn das Opfer bereits als “Mensch” im Sinne des Strafrechts gilt.

Damit rückte eine zentrale strafrechtliche Frage in den Fokus:

Ab welchem Zeitpunkt ist ein Baby strafrechtlich ein “Mensch” – und damit taugliches Tatobjekt eines Tötungsdelikts?

2. Der Begriff des „Menschen“ im Sinne der §§ 212 ff. StGB

Der Gesetzgeber definiert den Begriff des „Menschen“ nicht ausdrücklich. Die Abgrenzung wurde daher durch die Rechtsprechung und herrschende Meinung der Strafrechtswissenschaft entwickelt.

a) Grundsatz: Mensch ist, wer “geboren” ist

Nach h.M. beginnt der strafrechtliche Lebensschutz der §§ 212 ff. StGB mit dem Beginn der Geburt.

Das bedeutet:

Ein Wesen ist dann “Mensch”, wenn der Geburtsvorgang eingeleitet ist, also die Leibesfrucht sich in einem Zustand befindet, der typischerweise in die vollständige Geburt mündet.

b) Wann beginnt die Geburt?

Hier ist zu differenzieren:

  • Bei vaginaler Geburt:
    Der Beginn der Eröffnungswehen oder sonstiger natürlicher Geburtsvorgänge wird als maßgeblicher Zeitpunkt angesehen.
  • Bei Kaiserschnitt:
    Der Beginn der Geburt liegt vor, sobald der ärztliche Eingriff zur Herausholung des Kindes aus dem Mutterleib setzt (nicht erst, wenn das Kind den Körper der Mutter vollständig verlassen hat).

Damit entsteht ein strafrechtlich geschütztes menschliches Leben bereits während der laufenden Geburt – nicht erst mit dem ersten Atemzug oder vollständigen Abnabelung.

c) Ende der Leibesfrucht – Beginn des Menschen

Vor Beginn des Geburtsvorgangs ist das Ungeborene ausschließlich vom Schutzbereich der §§ 218 ff. StGB erfasst. Hier besteht ein eigenständiges, gegenüber den Tötungsdelikten deutlich abgeschichtetes Schutzsystem.

Mit dem Einsetzen der Geburt geht das Ungeborene jedoch nahtlos in den Schutzbereich der Tötungsdelikte über.

Das Neugeborene ist damit vollwertiger Träger des Rechtsguts “Leben” in der Dogmatik des Strafrechts.

d) Folgen für die Strafbarkeit

Die Konsequenz dieser Abgrenzung ist klar:

  • Wird ein Kind vor Beginn der Geburt getötet → Anwendung der §§ 218 ff. StGB.
  • Wird ein Kind während oder nach der Geburt getötet → Anwendung der §§ 212 ff. StGB.

Im Fall des LG Fulda war das Kind lebend geboren. Damit war es zweifellos ein “Mensch” im strafrechtlichen Sinne, sodass § 212 StGB – und nicht § 218 StGB – einschlägig war.

3. Minderschwerer Fall nach § 213 StGB

Das Landgericht erkannte trotz der Schwere der Tat einen minderschweren Fall an. Die dafür maßgeblichen Kriterien umfassten:

  • außerordentliche psychische Belastung der Mutter unmittelbar nach der Geburt,
  • fehlende soziale Unterstützung,
  • familiäre Überforderung,
  • keine Hinweise auf besonders verwerfliche Beweggründe.

Der Strafrahmen des § 213 StGB (1 bis 10 Jahre) ermöglicht es dem Gericht, die individuellen Belastungsfaktoren stärker zu berücksichtigen, als es im Regelstrafrahmen möglich wäre.

Mit einer Strafe von 6 Jahren bewegt sich das Gericht im mittleren Bereich dieses Sonderstrafrahmens.

4. Bedeutung der Entscheidung

Die Entscheidung des LG Fulda bestätigt mehrere zentrale Grundsätze des Strafrechts:

  1. Strikte Abgrenzung zwischen ungeborenem und geborenem Leben.
  2. Klare Anwendung der Tötungsdelikte auf Neugeborene.
  3. Einzelfallgerechte Strafzumessung bei außergewöhnlichen Lebenssituationen der Täterin.

Gerade im Bereich der Delikte gegen das Leben zeigt der Fall, wie bedeutsam die dogmatischen Grundfragen – insbesondere der Beginn des Menschseins im strafrechtlichen Sinn – für die richtige rechtliche Einordnung sind.

Fabian Kremers, Volljuristischer Mitarbeiter