Psychologische Verzerrungen im Strafprozess: Ein Leitfaden für Strafverteidiger

In Strafverfahren geht es offiziell um Logik, Beweise und Rechtsanwendung.

Tatsächlich beeinflussen psychologische Verzerrungen – sogenannte „Biases“ – fast jede Phase des Verfahrens: Ermittlungen, Zeugenaussagen, Beweiswürdigung und Urteilsfindung. Dieser Leitfaden erklärt die wichtigsten Biases kurz, prägnant und mit klaren Beispielen aus der Strafverteidigung.

Er soll helfen, typische Denkfehler zu erkennen und im Verfahren aktiv zu adressieren.

1. Verfügbarkeitsheuristik

Problem: Menschen überschätzen die Häufigkeit oder Gefahr von Dingen, die besonders präsent,
anschaulich oder emotional sind.
Im Strafverfahren: Nach mehreren Jugendgewalt-Fällen in kurzer Zeit wirkt ein ähnlicher Fall automatisch „schlimmer“. Das verzerrt das Urteilsklima.
Im Alltag: Nach großen Flugzeugabstürzen wirken Flüge gefährlicher als Autofahren – obwohl das
Gegenteil wahr ist.

2. Ankerheuristik (Anchoring Bias)

Problem: Die zuerst genannte Zahl oder Einschätzung beeinflusst alle späteren Urteile – selbst wenn sie falsch oder überzogen ist.
Im Strafverfahren: Staatsanwaltschaft fordert 5 Jahre → das Gericht bewegt sich unbewusst in dieser Nähe, selbst wenn die Beweislage milder ist.
Im Alltag: „199 ¤ durchgestrichen – jetzt 119 ¤“: Der hohe Anker macht das Angebot attraktiv.

3. Repräsentativitätsheuristik

Problem: Menschen verwechseln Stereotype („passt ins Bild“) mit Wahrscheinlichkeit. Basisraten werden ignoriert.
Im Strafverfahren: Ein junger, sportlicher Mann in dunkler Kleidung „passt“ ins Täterprofil. Das führt zu Verdachtsfehlern.
Im Alltag: Eine Person, die „wie ein Musiker aussieht“, wird als Musiker eingeschätzt – obwohl das selten zutrifft.

4. Confirmation Bias (Bestätigungsfehler)

Problem: Man sucht nur Beweise, die den ersten Verdacht bestätigen. Widersprechendes wird ausgeblendet.
Im Strafverfahren: Einmal auf einen Verdächtigen eingeschossen, ignorieren Ermittler entlastende Hinweise – der klassische Ermittlungstunnelblick.
Im Alltag: Wer eine Automarke nicht mag, bemerkt jede Panne genau dieser Marke – die vielen problemlosen Fahrten nicht.

5. Hindsight Bias (Rückschaufehler)

Problem: Im Nachhinein wirkt alles vorhersehbar, obwohl es vorher offen war.
Im Strafverfahren: „Er hätte wissen müssen, dass es eskaliert.“ – reine Rückschau-Konstruktion.
Im Alltag: „Ich wusste, dass wir verlieren.“ – stimmt nie.

6. Overconfidence Bias (Überzuversicht)

Problem: Menschen sind zu sicher in ihren Erinnerungen und Wahrnehmungen.
Im Strafverfahren: Zeugen behaupten, sie seien „100 % sicher“. Unter Stress sinkt die Trefferquote massiv.
Im Alltag: „Ich bin ein besserer Autofahrer als die meisten.“ – mathematisch unmöglich.

7. Fundamentaler Attributionsfehler

Problem: Verhalten wird fälschlich über Charakter erklärt, nicht über Situation.
Im Strafverfahren: Angeklagter wirkt nervös → Gericht unterstellt Lüge. Tatsächlich: Stress, Druck, Angst.
Im Alltag: Jemand schneidet uns im Verkehr → wir halten ihn für rücksichtslos, statt an einen Notfall zu denken.

8. Optimism Bias

Problem: Menschen glauben, negative Ereignisse treffen andere, nicht sie selbst.
Im Strafverfahren: Mandanten unterschätzen mögliche Strafen („es wird schon gut ausgehen“).
Im Alltag: Raucher glauben, dass eher „andere“ Krebs bekommen.

9. False Consensus Effect

Problem: Man überschätzt, wie viele die eigene Meinung teilen.
Im Strafverfahren: „Jeder hätte so gehandelt.“ – das Gericht sieht es ganz anders.
Im Alltag: „Alle mögen diese Musik.“ – stimmt nie.

10. Framing-Effekt

Problem: Gleiche Fakten – andere Wirkung durch Formulierung.
Im Strafverfahren: „Er hat das Opfer angegriffen“ statt „es kam zu einer Auseinandersetzung“.
Im Alltag: „90 % fettfrei“ klingt positiver als „enthält 10 % Fett“.

11. Halo-Effekt

Problem: Ein einzelner Eindruck färbt das Gesamtbild einer Person.
Im Strafverfahren: Ein gepflegter Angeklagter wirkt sofort glaubwürdiger.
Im Alltag: Attraktive Menschen wirken kompetenter.

12. Survivorship Bias

Problem: Man sieht nur die Erfolgreichen, ignoriert die Gescheiterten.
Im Strafverfahren: „Bewährung klappt immer“ – man sieht nur die Erfolge.
Im Alltag: Erfolgreiche YouTuber verzerren die Realität.

13. Sunk Cost Fallacy

Problem: Man hält an Entscheidungen fest, weil man schon investiert hat.
Im Strafverfahren: Ermittler bleiben an falschem Verdacht hängen, weil viel Arbeit investiert wurde.
Im Alltag: Ein schlechtes Essen wird aufgegessen „weil es bezahlt wurde“.

Fazit

Psychologische Biases wirken still, aber massiv: auf Ermittler, Zeugen, Sachverständige und Richter. Wer diese Verzerrungen kennt, kann Fehler in Beweiswürdigung, Wahrnehmung und Urteilsfindung sichtbar machen – und gezielt für die Verteidigung nutzen.

Gerd Meister, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht