In den Medien wird immer Zivilcourage gefordert – und jetzt sitze ich hier auf der Anklagebank

In einem „opening statement“  verweise ich auf gewisse typische Auffälligkeiten in der Ermittlungsakte: Die gleichlautenden, drehbuchähnlichen, übereinstimmenden und sehr ausführlichen polizeilichen Aussagen. Die sich aus der Ermittlungsakte nicht erschließende Notwendigkeit detailreicher Aktenvermerke, die den Eindruck hinterlassen, hier solle Vorwürfen entgegengetreten werden, die bei Abfassung des Vermerks offiziell noch nicht erhoben waren.  Dann reiche ich das Wort weiter an meinen Mandanten. Nachdenklichkeit erzeugt keine Geräusche. Im Gerichtssaal ist es ganz still geworden, nachdem der Angeklagte mit unterdrückter,  bebender Stimme seine ersten Sätze gesagt hatte: „Ich höre aus den Medien immer, die Bürger sollten bei Gewalt nicht wegschauen. Sie sollten eingreifen, Zivilcourage zeigen. Das habe ich gemacht. Was dann aber über mich kam …, ich bin immer noch schockiert. … Dass ich jetzt hier auf der Anklagebank sitze, macht mich fassungslos.“ Diese Sätze und Pausen sind wohl gesetzt. Sie erzeugen unmittelbare Glaubwürdigkeit. Man spürt, bei dem nicht vorbestraften 40jährigen Angeklagten handelt es sich um keinen Rowdy, keinen Schläger, dem man auch nur im Entferntesten Gewalt gegen Polizeibeamte zutrauen würde.  Auch der Staatsanwalt hört aufmerksam zu und erscheint betroffen. Hier sitzt ein  Bürger, der distinguiert von einem schlimmen Erlebnis mit der Staatsgewalt berichtet.  Der Richter lässt ihn ohne Unterbrechung erzählen, wie er in der Tatnacht auf dem Nachhauseweg versucht hatte, zwei sich streitende Jugendliche zu beruhigen, wie einer der Jugendlichen dem anderen plötzlich eine Kopfnuss verpasste und wie er nun eingeschritten sei, um Schlimmeres zu verhindern. Er habe es schließlich geschafft, den Angreifer in die Flucht zu schlagen und habe den blutüberströmten Verletzten aus der Gefahrenzone  in das Kiosk bugsiert, vor dem der Streit eskaliert war. Die türkische Kioskbesitzerin war durch den vor Schmerz und Wut schreienden Jugendlichen verängstigt und weigerte sich Tempo-Taschentücher zur Stillung der Blutung  zur Verfügung zu stellen. Offenbar schätzte sie die Situation falsch ein und verständigte die Polizei, die in nur wenigen Minuten mit mehreren Beamten im Kiosk erschien. Während er weiter versuchte, den Verletzten zu beruhigen, hatte dieser nichts Besseres zu tun, als die Polizisten anzupöbeln. Sie sollten sich verziehen, er brauche ihre Hilfe nicht. Er wolle jetzt nur noch nach Hause. Ohne Vorwarnung seien Polizeifäuste geflogen, mitten in das verletzte Gesicht. Der Jugendliche wurde brutal auf den Boden geworfen, ein Knie in seinen Rücken gerammt, Handschellen angelegt.  Er habe „Halt, was machen Sie denn da? Er ist das Opfer!“ gerufen und sei dabei einen Schritt auf die Beamten zugegangen. „Kümmern Sie sich lieber um seine Verletzungen, rufen Sie bitte einen Krankenwag…“ In diesem Moment habe er selbst einen kräftigen Schlag ins Gesicht erhalten, wurde zu Boden gebracht und in Handschellen gelegt. Die Polizisten hätten ihn bäuchlings in das Einsatzfahrzeug gestoßen, an den Haaren in eine Sitzposition gezerrt, geohrfeigt und ihm gedroht, „er solle bloß die Fresse halten, sonst gäbe es gleich auf der Wache die Abreibung seines Lebens.“ Und so sei es gekommen. Mit dem Kopf sei er mehrfach vor die stählerne Tür seiner Arrestzelle gestoßen worden, bis er fast ohnmächtig gewesen sei. Man habe ihm Schuhe, Gürtel und seine Jacke ausgezogen und mit einem Tritt in die kalte Zelle befördert.  Eine Decke wurde ihm  verweigert. Als er nach 1-2 Stunden nach einer Schmerztablette und einem Glas Wasser gerufen habe, sei niemand gekommen. Er habe gegen die Zellentüre geklopft bis schließlich ein Beamter die Sichtluke geöffnet habe. Er habe seine Bitte wiederholt, worauf ihm der Beamte einen vollen Wasserbecher ins Gesicht schüttete.  In den nächsten Stunden sei die Luke noch mehrfach geöffnet worden. Eine Hand mit einem vollen Wasserbecher habe sich ihm aus der Luke entgegengestreckt. Mit trockener, pelziger Zunge habe er sich von der kalten Betonpritsche hochgehievt, um das köstliche Nass entgegenzunehmen, aber jedesmal habe sich der Becherinhalt auf dem grauen Zementboden ergossen, noch ehe er zugreifen konnte. Am nächsten Morgen sei er dann kommentarlos aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden und nun sitze er hier – auf der Anklagebank – wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Die Art mit der der Angeklagte während seines Berichts immer wieder den Kopf schüttelt ist nicht alleine traurig. Er verzieht dabei das Gesicht zu einem vielleicht spöttischen oder zynischen Lächeln, als hätte er gerade eine unglaubliche Geschichte erzählt, die ihm wohl keiner glauben will. Nach einigen langen Sekunden räuspert sich der Staatsanwalt, schaut hoch zur Richterbank und sagt: „ Ich für meinen Teil verzichte auf weitere Zeugen. Ich rege an, das Verfahren nach § 153 StPO einzustellen und zwar auf Kosten der Staatskasse, die auch die notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen hat.  Ich stimme dem Verteidiger zu. Auch bei mir geht angesichts einer gewissen Aktenführung der Polizei eine rote Lampe an. Was von den polizeilichen Zeugen zu erwarten ist, antizipiere ich. Einen Freispruch kann ich bei dem jetzigen Verfahrenstand allerdings nicht beantragen, aber vielleicht kann sich der Angeklagte mit meinem Vorschlag arrangieren?“  Hierbei sieht mich der Staatsanwalt fragend an. P.S: 1. Das Verfahren wurde nach Rücksprache mit meinem Mandanten gemäß § 153 StPO eingestellt. Die ganze Sache spielte sich vor dem Jugendschöffengericht ab, da die beiden Jugendlichen mit auf der Anklagebank saßen. Sie hatten die Angaben meines ihnen unbekannten  Mandanten in ihren Einlassungen zur Sache im Wesentlichen bestätigt. Die Schöffen waren bezüglich meines „opening statements“ zunächst irritiert.  Mit einem vorweggenommenen Plädoyer nach der Einlassung meines Mandanten, berichtete ich über ähnliche Fälle aus meiner Praxis in den vergangenen Jahren.  Die weibliche Schöffin hatte hiernach Tränen in den Augen und auch der männliche Schöffe schaute einigermaßen entsetzt  drein. 2. Diese Geschichte soll keinesfalls Polizeibeamte unter Generalverdacht stellen. Ich kenne überwiegend korrekte Polizeibeamte, die trotz schwieriger Aufgaben und oft schwierigem Klientel durchaus rechtsstaatlich und fair mit ihrem Gegenüber umgehen. 3. Ob dieser Fall Konsequenzen für die betreffenden Polizeibeamten haben wird, steht in den Sternen. Aus verschiedenen Gründen wohl eher nein. 4. Folgende Links aus der süddeutschen.de lohnen sich für Interessierte: http://www.sueddeutsche.de/bayern/umstrittener-polizeieinsatz-in-rosenheim-das-vergisst-man-nie-1.1298407 http://www.sueddeutsche.de/bayern/polizeigewalt-bei-einsaetzen-wenn-beamte-zu-rambos-werden-1.1294594 http://www.sueddeutsche.de/bayern/prozess-um-polizeigewalt-bewaehrungsstrafe-fuer-pfefferspray-polizist-1.1283465 Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach