Die Bremer Stadtmusikanten, Marathon-Man und Captain Picard

Auf der Einladungskarte stand in Kleinbuchstaben geschrieben „begegnungen“. Das Konzert  fand im alten römischen Kulturkeller statt. Auf der Bühne der syrische Musiker Hesen Kanjo mit seinem orientalischen Instrument Qanun, einer Art Zither, an den Percussion-Instrumenten Jürgen Dahmen und am Kontrabass Konstantin Wienstroer. Klassische arabische Musik begegnete Jazz-Rhythmen und Jazz-Basslinien. Eine glückliche Begegnung auf kleiner Bühne, die wir andächtig genossen. Hörte ich das von Jazz begleitete Qanun seit Jahr und Tag, würde es bei mir wahrscheinlich irgendwann einen Würgereiz hervorrufen, wie die Carglass -, die Seidenbacher-Müsli-Werbung, Platz 1 der Popmusik-Charts oder „Die kleine Nachtmusik“? So aber war es tatsächlich eine glückliche Begegnung. Dem Begriff Glück wohnt – wie dem Begriff der Kunst – das Ungewöhnliche, Unerwartete, Überraschende – jedenfalls nichts Objektives – bei. Ihre semantische Bedeutung erlangen die Begriffe durch ihre immanente Seltenheit. All das wusste ich, als ich wegen einer versuchten Mordsache als Nebenklagevertreter nach Bremen fuhr. Ich war davon ausgegangen, dass nur kurz verhandelt werden würde, da der Verteidiger des Angeklagten auf  den schlechten gesundheitlichen Zustand seines Mandanten hingewiesen hatte. In der Hoffnung auf nachmittägliche Freizeit nahm ich meine Lebensgefährtin mit in die alte Hansestadt. Am Anreisetag quartierten wir uns abends  in ein Hotel direkt am Markt des Rolanddenkmals ein und flanierten bei sommerlichen Temperaturen durch die Stadt, setzten uns schließlich auf´s Deck des Theaterschiffs und lauschten bei kühlen Weinschorlen bis spät in die Nacht den Klängen einer kubanischen Jazztruppe. Hin und wieder hörte man das Platschen von größeren Fischen in der braunen Flusssuppe, während die Sonne im pastellfarbenen Himmel über der Weser unterging. Noch ahnte ich nichts vom Marathon-Man und Captain Picard, die ich bald kennenlernen sollte. Bei strahlendem Sonnenschein überquerte ich mit meiner schweren Aktentasche am nächsten Morgen den Bremer Marktplatz und legte die wenigen Schritte bis zum ehrwürdigen Bremer Landgericht zurück. Um kurz vor 9 stand ich am Raum 218 vor noch verschlossener Türe, als ein auf den ersten Blick junger, dynamischer Mann auf mich zustürmte, zur Begrüßung meine Hand ergriff und sich fröhlich auf eine sehr bestimmte Art vorstellte: „Kellermann. Sie sind bestimmt Rechtsanwalt Meister aus Mönchengladbach. Wir haben telefoniert. Warten Sie, ich schließe Ihnen die Türe auf. Es dauert noch einen Moment – und passen Sie solange auf den Saal auf.“ Mit diesen Worten schob mich der Vorsitzende Richter in den Saal. „Sie tragen die Verantwortung dafür, dass nichts wegkommt!“ und weg war er. Ich nahm den Geruch von alter Holzvertäfelung, Bänken, Pulten und Balustraden auf, ein Geruch, der mich an die Zigarrenkisten meines Vaters erinnerte, an denen ich als Kind immer geschnuppert hatte. Ich hatte gelesen, dass hier früher auch Bürgerversammlungen abhalten worden waren, bei denen die reichen Kaufleute dicke Zigarren geraucht hatten, deren Qualm bis hinauf zur 6 Meter hohen Decke gestiegen war, um sich für Dekaden in jede Holzpore und Deckenritze einzubrennen und sich dauerhaft mit dem gewachsten Holz zu diesem würzigen Wohlgeruch zu vermischen. Mit Bewunderung blickte ich mich in dem riesigen Schwurgerichtssaal um und atmete den Geist einer längst verstrichenen Epoche ein. Nach und nach erschienen die anderen Prozessbeteiligten, allerdings nicht – wie ich vielleicht für einen Moment geträumt hatte – mit weiß gepuderten Perücken, Monokeln, Tintenfass und Federkiel, sondern durchaus zeitgemäß gekleidet. Der Staatsanwalt, der Verteidiger des Angeklagten, die Protokollführerin, der Dolmetscher und der Sachverständige grüßten mich nicht unfreundlich, aber distanziert und begannen vertraut untereinander zu plaudern und zu scherzen. Jetzt hatte ich das Gefühl, zwar doch in der richtigen Epoche zu sein, aber dennoch nicht dazu zu gehören. Der Prozess begann. Mein Mandant, das Opfer einer Messerstecherei, saß angespannt neben mir und beäugte den Angeklagten mit Rachegefühl in den Augen. 6 Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet und sein Hass auf den damaligen Freund, der nun auf der Anklagebank wegen versuchten Mordes saß, war seither mit jedem Tag, den er auf den Prozess gewartet hatte, tiefer geworden. Ungläubig hatte er den Kopf geschüttelt, als ich ihm berichtete, dass sein vorheriger Anwalt die 3-jährige Verjährungsfrist für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche vergeigt hatte und die Mordanklage möglicherweise in der Beweisaufnahme wie ein angeschossenes Pferd zusammenbrechen würde. „So langsam, wie die Justiz, kann kein Pferd sein!“, hatte er immer noch kopfschüttelnd meinen Vergleich aufgegriffen, woraufhin ich in gespielter Zerknirschung erwiderte, „der Amtsschimmel manchmal schon!“ Die folgende Beweisaufnahme bestätigte meine Prognose und ließ die als gesichert geltende Erkenntnis durchschimmern, Strafverteidiger sollten keine Nebenklage vertreten. Mit einer, meine Position als „Opferanwalt“  möglicherweise nicht in Einklang zu bringender Anerkennung, verfolgte ich aufmerksam die wohlwollende, mit Aktenkenntnis gespickte, und dennoch durchaus kritische Befragung des Angeklagten durch den Richter. Während ich weiter über meine Rolle als Nebenklagevertreter sinnierte, beobachtete ich den mir immer sympathischer werdenden Staatsanwalt, dem ich angesichts seines Dienstsitzes in der Hansestadt und einer bekannten Fernsehserie den Beinamen Captain – Captain Picard – verpasste. Auch er blieb während des gesamten Prozesses gegenüber dem Angeklagten im ernsten Bemühen um Objektivität ohne Schärfe, ohne Polemik und hinterfotzige Unterstellung, obwohl seine Mordanklage während des Verfahrens immer mehr in Richtung gefährliche Körperverletzung wie Knäckebrot zerbröselte. Mir kam der Gedanke, dass auch vermeintlich gesicherte Erkenntnisse einer Überprüfung zugänglich sind. Ja, doch! Auch Verteidiger können ohne Verrat und unsinnige Schärfe eine Nebenklage vertreten. Welchen Dienst könnte ich meinem Klienten erweisen, indem ich Öl ins Feuer gösse, indem ich im Ignorieren der erarbeiteten Beweisergebnisse versuchte, den Staatsanwalt rechts zu überholen, indem ich die verbitterte Perspektive des Mandanten aufgriffe und ihn bis zur Urteilsverkündung im Trügerischen bestärkte, ein erhofftes, hartes Urteil werde seinen Rachedurst löschen. Nein, auch Verteidiger können Opfer vertreten. Ihre Aufgabe ist es dann an der Wahrheitsfindung aktiv mitzuwirken und mit Einfühlungsvermögen, den Mandanten auf ein realistisches Ergebnis einzustellen, ihm bei allem Verständnis für seine Gefühlslage klarzumachen, dass blinde Rache an sich und vor allem, wenn sie sich im Rechtsstaat nicht verwirklichen lässt, letztlich ein Irrweg ist. In den nachfolgenden Gesprächen verdeutlichte ich dem Geschädigten, dass es nicht dem Angeklagten anzulasten ist, dass der vorheriger Opferanwalt 6 Jahre lang nichts unternommen hatte, um diesem dicken weißen Pferd einen Tritt zu geben, Beschleunigung ins Verfahren zu bringen und berechtigte Schadensersatzansprüche titulieren zu lassen – auch wenn das gezahlte, bescheidene Honorar eigentlich keine übersteigerten Erwartungen hätte aufkommen lassen

Der arme Herr Beuter!

Eigentlich kämen wir mit drei Zimmern wunderbar aus: Küche, Schlafzimmer, Bad, würden völlig genügen – denn allabendlich sitzen wir vor dem Zubettgehen noch einige Zeit in der Küche. Auf der kleinen Bose-Box dudelt über das iPhone unsere aktuelle Lieblingsmusik – zur Zeit Roy Hargrove und Snarky Puppy. Der Küchentisch ist überladen mit Büchern, Zeitungen und Krimskrams, der erst am nächsten Tag an seinen angestammten Ort in Hand- oder Hosentaschen zurückwandert oder eben einfach bis zur nächsten Aufräumaktion liegen bleibt. Da, wo noch Platz ist, stehen Teekanne und unsere Teetassen. Es gibt kaum etwas Langweiligeres als Juristen, die ständig über ihre Fälle reden (bloggen ist was anderes; muss ja keiner lesen/zuhören?!) und so bemühe ich mich, mein Alltagsgeschäft nicht zum Thema zu machen, was mir im Allgemeinen nicht schwer fällt. Wir reden über Gott und die Welt, Kinder, die Bücher, die wir gerade lesen oder die Musik, die wir gerade mögen. Die Gespräche verlaufen ungefähr so geordnet, wie unser Küchentisch meistens aussieht. Vor einigen Tagen aber ertappte mich Anna in Gedanken an einen Bankraub-Prozess, in dem ich gerade verteidige. „Hey Kjanqs (armenischer Kosename), woran denkst du gerade?“ „Mmh …, an Weicheier, und ich weiß nicht, ob ich Herrn Beuter damit nicht Unrecht tue.“ `Wer ist dieser Herr Beuter?´ fragen ihre dunklen, strahlenden Augen, die Menschen, die Anna nicht kennen, oftmals in Unsicherheit, wenn nicht Angst versetzten. „Ach, das ist ein Bankangestellter, der das Pech hatte, in wenigen Monaten dreimal von meinem Mandanten in verschiedenen Bankfilialen überfallen worden zu sein. Heute schilderte er als Zeuge, welche Auswirkungen die Überfälle auf ihn hatten. So betroffen, wie die Schöffen dreinschauten, war das keine Sternstunde für die Verteidigung. Er kann nicht mehr mit Kunden arbeiten, Schlafstörungen, Angstattacken, wenn er z.B. mit seiner Frau beim Waldspaziergang auf Fremde trifft …, seit Monaten in therapeutischer Behandlung … Ich weiß nicht, das kam mir irgendwie übertrieben vor. Ich kann mir so ein Trauma jedenfalls nicht wirklich vorstellen, zumal der Bankräuber vergleichsweise human agiert hat. Es gab keine körperliche Gewalt, die ungeladene Pistole hatte er zwar bei seiner Forderung, den Tresor zu öffnen, sichtbar in der Hand, richtete sie aber nicht auf Herrn Beuter, sondern sicherte ausdrücklich zu, es werde nichts passieren, wenn Herr Beuter keine Dummheiten mache.“ „Schon klar, dir hätte das bestimmt nichts ausgemacht?! Beim dritten Überfall hättest du dem Räuber nach der Geldübergabe wahrscheinlich noch einen Kaffee angeboten, ein Autogramm gefordert, ihm die Tür aufgehalten und dich mit `Tschüss, bis zum nächsten Mal!´ verabschiedet.“ Ich grinse gequält. „Ich bin selbst schon mit einer scharfen Waffe bedroht worden.“ Sie legt ihre Hand auf meine: „Erzähl!“ „Das ist schon lange her. Ich war mit meiner damaligen Freundin und den Kindern Jeff und Simon in meinem rostigen, uralten und schrecklich gelben Passat auf dem Weg nach Hause. Wir fuhren gerade durch unsere Siedlung, als plötzlich ein junger Mann auf die Straße trat. Ich bremste und hielt unmittelbar vor ihm an, als er eine Knarre hob und über die Motorhaube direkt auf meinen Kopf zielte. Mit der Pistole bedeutete er mir, aus dem Wagen zu steigen, dann sah ich wieder direkt in die Mündung seiner Waffe. Ich weiß nicht mehr genau, was ich damals dachte, ich weiß nur noch, dass die Zeit plötzlich viel langsamer lief, während ich meine Chancen ausrechnete und versuchte, den Typ einzuschätzen. Ich hatte das Gefühl, er sei stark angetrunken, was ihn noch unberechenbarer machte. Die Waffe weiter auf meinen Kopf gerichtet, machte er einen Schritt zur Seite auf meine Fahrertüre zu .., und ich gab Vollgas. Er flog über meinen Kotflügel und landete glimpflich neben meinem Fahrzeug. Aus dem Seitenfenster sah ich, wie die Pistole über den Asphalt gegen den Bordstein schlitterte. Ich raste um die Ecke, hielt an der dortigen Telefonzelle (ja, es gab eine Zeit ohne Handys) und rief die Polizei. Wundersamer Weise fuhr drei Minuten später ein Streifenwagen vor. Die Beamten ließen sich kurz den Sachverhalt schildern, fuhren davon und verhafteten den Mann.“ „Oh Gott, aber war das klug von dir? Er hätte dich erschießen können!“ „Tja, im Nachhinein kann ich sagen, es war die richtige Entscheidung. Was wäre passiert, wenn ich ihm das Auto mit hysterischer Frau und zwei schreienden, kleinen Kindern überlassen hätte! Den geilen Passat hätte ich nie wieder gesehen!“ „Und? Ging es dir danach wie Herrn Beuter?“ Ich lächele sie an. „ Ich hab nach wie vor ein Trauma bezüglich hysterischen Frauen, schreienden Kindern und gelben Autos, aber ansonsten – nöh! Ich war ein paar Stunden aufgeregt, aber irgendwie hat es mich nicht sonderlich betroffen. In dem Prozess gegen den Mann habe ich später noch ein gutes Wort für ihn eingelegt… Alkohol, keine richtige Angst, so schlimm war das alles nicht, etc.“ Anna zeigt mir ihr ironisches Lächeln: „Mmh, vielleicht ist ein Bankraub doch noch etwas anderes? Immerhin geht es da um Geld und nicht nur um Frauen, Kinder und Autos?“ „Das Verrückte ist, dass die Kollegin von Herrn Beuter, die mit überfallen wurde, kein Trauma erlitt. Sie schilderte den Vorfall ganz nüchtern. Sie hätte kaum Angst gehabt und  glaubte dem Räuber, dass ihr nichts passiere, wenn sie seinen Forderungen nachkomme. Das habe sie gemacht und alles sei gewaltlos abgelaufen.“ „Vielleicht will Herr Beuter einfach ein hohes Schmerzensgeld haben und dramatisiert deshalb so? Aber das zu unterstellen, wäre wohlmöglich ungerecht. Jeder empfindet halt anders?! Oder, was denkst du? Ich zucke mit den Achseln. „Also, vielleicht doch kein Weichei, dieser Herr Beuter, sondern einfach verdammt ausgebufft? In jedem Fall hast du Recht: Jeder empfindet halt anders!“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach