„Die Rache für ein totes Baby“; Lindbergh und Hauptmann, ein „Jahrhundert-Prozess“?
Charles Lindbergh war bereits ein Nationalheld, als sein 20-monatiger Säugling, Charles Augustus, am 1. März 1932 ermordet wurde, so jedenfalls die späteren Feststellungen des an sich unzuständigen Gerichts in Flemmington, New Jersey. Als großer, schlaksig wirkender Mann hatte Charles Lindbergh im Mai 1927 nach einem schwierigen Start von Long Island aus mit seiner einmotorigen, 223 PS starken Spirit of St. Louis in 33 Stunden und 32 Minuten als erster Mensch den Atlantik nonstop überquert und dafür den ausgelobten Preis von 25.000 Dollar gewonnen. Der Haupttank seiner Maschine war dabei in der Kabine vor dem Pilotensitz eingebaut, so dass der Flugpionier nur mittels eines Periskops nach vorne schauen konnte. In eisiger Kälte schlief er über dem Atlantik in seiner engen Kabine ein, verlor die Orientierung und wäre fast abgestürzt. Mit letzter Kraft und wohl dem letzten Tropfen Sprit erreichte er das Festland, wo er bei seiner Landung in Le Bourget bei Paris von einer frenetischen Menschenmenge empfangen wurde. Damit lagen die Kontinente nicht mehr Wochen, sondern nur noch vergleichsweise wenige Tage auseinander. Auf der eigens für Lindbergh abgehaltenen Parade in New York City flatterten 1.800 Tonnen Konfetti durch die Luft – ein weiterer Rekord. Berthold Brecht war von Lindberghs Erlebnisbericht „We“ (gemeint waren er selbst und sein Flugzeug) so begeistert, dass er den Text „Lindberghflug“ für die 1929 in Berlin uraufgeführte Kantate für Soli, Chor und Orchester von Kurt Weill schrieb. Ein neues Zeitalter brach an, und dennoch befanden sich die Vereinigten Staaten von Amerika mit über 12.000.000 Arbeitslosen immer noch in der größten Wirtschaftskrise ihrer jungen Geschichte. Präsident Herbert Hoover, der in besseren Zeiten gewählt worden war, musste den Platz für Franklin D. Roosevelt räumen. Vom kommenden Wirtschaftsaufschwung des New Deal war noch nichts zu spüren, und in schwierigen Zeiten brauchen die Menschen Helden wie Charles Lindbergh, zu denen sie aufblicken können. Als Lindbergh 1929 die hübsche und kluge Millionärstochter und Schriftstellerin Anne Morrow heiratete, bestätigte sich für die Massen der amerikanische Traum – sehr zum Leidwesen des jungen Traumpaares, das von Paparazzi gejagt wurde und nur noch mit Hut und Brillen verkleidet am öffentlichen Leben teilhaben konnte. Der wegen seiner Nähe zum Naziregime kritisierte aus Düsseldorf stammende Publizist Friedrich Sieburg beschrieb 1954 in der „Zeit“ den Grund für die Abneigung der Lindberghs gegenüber der Presse: „Den strahlenden Amerikaner, der einst wie ein Halbgott mit unsterblichen Flügelschlägen den Ozean überflogen hat, holte der Fluch der Publizität ein und schlug ihn zu Boden.“ Genau diese Presse aber war es, die letztlich auch den vermeintlichen Mörder des Lindbergh-Babys, Bruno Hauptmann, zu Boden schlug und die öffentliche Stimmung gegen den aus Deutschland illegal eingewanderten Zimmermann so aufheizte, dass ein fairer Prozess nicht mehr möglich – vielleicht von den unter dem Druck der öffentlichen Meinung stehenden Ermittlungsbehörden auch nicht erwünscht – war. Nachdem das ratlose Kindermädchen am Abend des 1.3.1932 Lindbergh an das leere Bettchen des blonden, blauäugigen Kindes geführt hatte, soll Lindbergh in Panik gerufen haben: “ Anne, sie haben unser Kind geraubt!“ Auf der Fensterbank fand man einen Erpresserbrief mit einer Lösegeldforderung von 50.000 $ und am Fuße des Fensters, über das der oder die Täter ins im 1. Obergeschoss gelegenen Kinderzimmers eingedrungen waren, eine zusammensteckbare 3-teilige Holzleiter, dessen eine Sprosse zerbrochen war. Schon in den ersten Stunden nach der Entführung erschienen hunderte von Journalisten an dem im französischen Landhausstil gerade neu erbauten Anwesen der Lindberghs und zertrampelten auf dem Grundstück sämtliche noch nicht gesicherten Spuren. Das war der Auftakt zu dem von der Presse hochstilisierten „Prozess des Jahrhunderts“. Alleine der Zeitungsbaron William Randolph Hearst schickte 2 mobile Fotolabors, und als am nächsten Morgen die Zeitungen erschienen, setzte eine planlose Fahndungswelle ein, bei der völlig unschuldige Eltern mit kleinen blonden Kindern in das Visier der nicht zimperlichen Fahnder gerieten. Aber auch Lindbergh selber trug dazu bei, dass die polizeilichen Ermittlungen dem Chef der Staatspolizei von New Jersey, Norman Schwarzkopf, dessen Sohn später für die USA den 2. Golfkrieg gewinnen sollte, entglitten. Er überließ letztlich Lindbergh die Initiative, wenn nicht sogar das Kommando über die Ermittlungen. Im Glauben, die Unterwelt müsse für die Entführung verantwortlich sein, beschritt Lindbergh unkonventionelle und letztlich erfolglose Wege. In der Hoffnung auf neue Informationen nahm er Kontakt zu Salvatore Spitale und Owney Madden, den bekanntesten Gangsterbossen auf, die während der Prohibition als ein neuer Typus der Schwarzhandelskaufmänner zu Geld und Einfluss gekommen waren. Selbst Al Capone, der zu der Zeit wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis saß, bot seine Hilfe an. Einen dieser Mittelsmänner aus dem Milieu, den Lindbergh als Privatsekretär und Detektiven eingestellt hatte, beging den Fehler, den in krakeliger Handschrift und mit vielen auf einen deutschstämmigen Täter deutenden (das englische good wurde z.B. „gut“ geschrieben) orthographischen Fehlern versehenen Erpresserbrief in der einschlägigen Szene herumzuzeigen. Trittbrettfahrer des Verbrechens, die nur so an die Erkennungszeichen des Briefes gelangt sein können, tauchten auf und behinderten die Ermittlungen. Als einzig zuverlässiger Mittelsmann verblieb schließlich Dr. John F. Condon, ein 72-jähriger pensionierter und kurzsichtiger Schuldirektor, der mittels verschlüsselter Kleinanzeigen in der Lokalzeitung Bronx Home News tatsächlich Kontakt zu dem wohl richtigen Entführer herstellen konnte. Nachdem Lindbergh das von der New Yorker Polizei registrierte Geld in Form von Goldzertifikaten besorgt hatte, verabredete sich Dr. Condon mit dem Entführer zu einen nächtlichen Geldübergabetermin auf einem Friedhof im Staat New York. Später berichtete er, dass er das Geld einem Mann namens John, mit spitzem Gesicht und hervortretenden Backenknochen, übergeben habe. Der Mann habe mit starkem, wahrscheinlich deutschem Akzent, gesprochen und ihm einen Zettel mit dem Schiffsnamen „Nelly“, das vor der Küste von Long Island liegen solle, überreicht. Dort könne der Junge wohlbehalten abgeholt werden. Lindbergh flog sofort mit einem Wasserflugzeug los, fand das Boot trotz verzweifelter Suche aber nicht. Der Entführer „John“ meldete sich nie wieder. Am 12.5.1932 entdeckte ein Lastwagenfahrer keine 5 km vom Anwesen der Lindberghs die stark verweste Leiche eines Kindes. Die Obduzenten stellten fest, dass die Leiche dort unmittelbar nach der Entführung abgelegt worden sein musste. Die New York Daily News veröffentlichte am nächsten Morgen als erste Zeitung die schreckliche Nachricht unter der Schlagzeile „Baby dead!“, die jeder Amerikaner sofort verstand.