Herr Vorsitzender, ich will keinen Krieg, aber …
In meinem letzten Artikel „Was man in einer kurzen Verhandlungspause so gar nicht braucht“ hatte ich von meinem geplanten Befangenheitsantrag gegen einen psychiatrischen Sachverständigen in einem Mordverfahren berichtet, der dann auch prompt von mir gestellte wurde. Der Sachverständige rang während der Verlesung des vierseitigen Antrages mit Fassung. Er tat mir aufrichtig leid, aber eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeit eines anderen gelingt selten, ohne dass sich der Kritisierte auch persönlich angegriffen fühlen muss. Und so beeile ich mich zu sagen, dass der Mann sicherlich ansonsten ein hervorragender Arzt ist. Als Gutachter aber hatte er mangels forensischer Erfahrung einfach zu viele Fehler gemacht. Bereits am ersten Tag rief er ein gewisses Amüsement hervor, als er mit einem ans Revers geheftete Namensschild – wie auf einem Ärztekongress – im Schwurgerichtssaal erschien und unsicher über die Sitzordnung, zunächst einmal bescheiden und verloren hinten bei den Zuschauerrängen herumstand, bis ihn der freundlich Staatsanwalt zu sich heranwinkte und ihm seinen Platz zuwies. Für die nächsten Verhandlungstage meldete sich der Arme auf unabsehbare Zeit krank, und der auch von der Verteidigung favorisierte neue Sachverständige begann unverzüglich mit seiner Arbeit. Ich hatte der Kammer für einen der nächsten Verhandlungstage eine schriftlich von mir zu verlesende Einlassung des Angeklagten angekündigt, der sich – vielleicht aus Scham wegen einer mitangeklagten Vergewaltigung – außerstande sah, selbst vor Gericht das Wort zu ergreifen. Die Einlassung musste nun vorbereitet werden, und so besuchte ich den Angeklagten mit der hervorragenden Dolmetscherin in der JVA. Wie immer war der Mandant auffallend wortkarg und in sich gekehrt. Eine Vergewaltigung bestritt er, nickte aber die Vorhalte seines polizeilichen Geständnisses im Übrigen ab. Die Frage nach dem „Warum“ der Tat kommentierte er mit den Worten „Kurzschluss“ und „Wodka“, und ich verlegte mich darauf, ihn nun auch mit falschen, angeblich von ihm stammenden, polizeilichen Aussagen zum zeitlichen Ablauf der Tat zu konfrontieren. Auch hier bestätigte er die von ihm so nie gemachten Angaben mit einem stoischen Nicken. Ich fragte nach, ob er denn so etwas tatsächlich bei der Polizei gesagt habe, bis mir schließlich der Kragen platzte und ich ihn über meinen Hinterhalt aufklärte. „Also, warum hast du bei der Polizei dann eine Vergewaltigung behauptet?“, fragte ich. „Das wäre doch die einzig Erklärung dafür, dass ich die Frau ausgezogen habe?!“, antwortete er und blickte mich dabei offen an. Ich zeigte ihm andere mögliche Erklärungen auf und wies ihn darauf hin, dass Menschen, ob betrunken oder nicht, oft auch unplausible Dinge täten und dass auch er ansonsten völlig unsinnige Vorgänge bei der Polizei geschildert habe. Wieder nickte er. Bei seiner Vernehmung habe er einfach Angst gehabt, und was die Polizeibeamten vermutet hätten, wäre ihm da irgendwie logisch erschienen. Ich wiederholte, dass es hier um seinen Arsch ginge und es ihm nichts nütze, jetzt plötzlich meine vermeintlich logischen – aber tatsächlich falschen – Vorhalte immer nur zu bestätigen. Er solle sich Mühe geben und mir die Sache einmal richtig im zeitlichen Ablauf schildern. Im stundenlangen, mühsamen Gespräch kamen wir der Sache so zumindest näher. Es zeigte sich die Möglichkeit auf, dass das Opfer bei den in Tötungsabsicht zugefügten massiven Schlägen mit Wahrscheinlichkeit bereits tot gewesen sein könnte. Der Angeklagte beschrieb, dass die Frau nach einem Schlag mit der Hand und ihrem Sturz auf den Boden so komisch nach Luft geschnappt und sich dann nicht mehr bewegt habe. Da habe er sie noch nicht töten wollen. Er habe sie auf den Rücken gedreht und wieder dieses merkwürdige Geräusch gehört. Dann habe sie ganz ruhig da gelegen, und er habe mehrere Zigaretten geraucht. Die Angst sei in ihm hochgestiegen, sie könne tot sein. Erst dann habe er ganz sicher gehen wollen und die Frau noch mehrmals mit einem Metallstab auf den Kopf geschlagen. Diese Schilderung war nicht von der Hand zu weisen, da sich im Obduktionsbericht auch mögliche postmortale Verletzungen finden. Ich versuchte dem Mandanten klar zu machen, dass somit auch „nur“ ein versuchter Mord in Frage käme, und dass eine präzise Beschreibung des Tatablaufs schon nützlich sei. Meine Frage, ob er das nicht auch so selber bei Gericht mündlich vortragen könne, verneinte er vehement. Er wolle jetzt nichts mehr sagen. Die Tat sei so schlimm und er könne sich angesichts der Nebenkläger und seiner im Zuschauerraum sitzenden Familie nicht äußern. Erschöpft verließen wir das Gefängnis, und ich machte mich daran, das soeben gehörte in meinem Schriftsatz zusammenzufassen. Am nächsten Verhandlungstag teilte ich dem Gericht mit, dass ich nun im Namen und mit Vollmacht die angekündigte Erklärung verlesen werde, der Angeklagte aber aus psychischen Gründen nicht in der Lage sei, selbst zu sprechen oder Fragen des Gerichts zu beantworten. Gegenüber dem Sachverständigen werde er aber in der Intimität der Explorationssitzung Angaben machen, die so ja auch in die Hauptverhandlung eingeführt werden könnten. Zu meiner Überraschung lehnte der von mir sehr geschätzte Vorsitzende diese Vorgehensweise unter Hinweis auf die neuere Rechtsprechung des BGH entschieden ab. Er lasse eine Verlesung der Einlassung nur zu, wenn sich der Angeklagte danach den Fragen des Gerichts stelle. Natürlich könne er mir nicht verwehren, meinen Schriftsatz als Anhang zum Protokoll zu den Akten zu reichen. Konsterniert bat ich um eine Unterbrechung, suchte die Kammer im Beratungszimmer auf und leitete das Gespräch mit den Worten ein, dass ich keinen Krieg wolle, aber … Die Kammer griff mein „Aber“ freundlich auf, und wir diskutierten – ja, man kann sagen in aller Freundschaft – das prozessuale Problem, ohne Einigkeit zu erzielen. Bei den meisten anderen Gerichten hätte ich mit Sicherheit einen Befangenheitsantrag aus der Tasche gezogen, hier aber wollte ich das nicht, denn die Kammer war eindeutig – trotz anderer Meinung – nicht befangen. Schließlich lösten wir das Problem nach Rücksprache mit dem Angeklagten einvernehmlich, und er beantwortete – so gut er konnte – die durchaus wohlwollenden Fragen des Gerichts. Der Prozess ist noch nicht beendet und vielleicht berichte ich an anderer Stelle über seinen Ausgang. Da mich die Sache aber immer noch wurmt, schickte ich dem Vorsitzenden den folgenden Link, der nicht als Klugscheißerei verstanden werden soll, sondern als Fortsetzung unserer kleinen Diskussion. Mir ist bewusst, dass der Vorsitzende und seine