Zeugen Jehovas, Salafisten, Buddha und meine goldene Zündapp
Als es am Sonntag um 14 h klingelte, ahnte ich, wer da draußen vor der Haustüre stand. Ich zurrte meinen Morgenmantel fest und strich mir durch die stubbeligen Haare, was zu keiner Verbesserung führte. Mit nackten Füßen schlich ich zur Haustüre und spähte durch die verzierte Scheibe, wobei mir der Unsinn des heimlichen Vorgehens sofort bewusst wurde. Von draußen konnten sie mich ebenso gut sehen wie ich sie. Es blieben nur zwei Möglichkeiten, aber ein beobachtetes Zurückschleichen wäre mir peinlich gewesen, also öffnete ich entschlossen die Haustüre. Die beiden Herren blickten in ihren schwarzen Anzügen so freundlich die zwei Stufen zu mir herauf, dass mir der spontane Satz „Sie schon wieder!“ auf der glatten Zunge ins Straucheln geriet und so von einem griffigen „Guten Morgen!“ rechts des Gaumenzäpfchens überholt wurde. „Sie hatten gesagt, wir könnten wiederkommen. Passt es Ihnen heute?“, fragte der Ältere und brachte seine große Nase durch vorsichtiges Zurücklegen des Kopfes in Sicherheit, als erwarte er erneut ein bissiges „Nein!“, das nach ihm hätte schnappen können. Ich zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, was ihnen Mut machte. Sie traten einen Schritt näher und blickten mich hoffnungsfroh an. „Nun ja, ich bin ein wenig derangiert. Bitte entschuldigen Sie. Es war hart. Die ganze Zeit im Gefängnis, das macht einen müde.“ Ihre Blicke glitten von meinen zerzausten Haaren an mir herunter, streiften das von meinem unartigen Bademantel geöffnete Dreieck mit der spärlichen, grauen Brustbehaarung, verweilten einen Moment an meinen stacheligen Beinen und prüften meine Fußnägel. Mit einem verzagten Gleichschritt zurück, versuchten sie Sicherheitsabstand zu gewinnen, und um ganz sicher zu gehen, klemmten sie sich ihre braunen Lederkladden schützend vor die Brust. „Oh, das tut uns leid …, wir wollten nicht stören …, aber …. Wir dachten …, weil sie ja die letzten Wochen auch immer geöffnet haben …, Gefängnis?“ „Nein, nein! Sie stören nicht.“ Um Vertrauen zu gewinnen, öffnete ich den Gürtel meines Bademantels und gewährte ihnen einen Blick auf meine Unterhose. Dann zog ich mir den Mantel dicht um die Schultern und band den Gürtel wieder fest zu. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Das geht nun schon 20 Jahre so. Rein in den Knast, raus aus dem Knast. Man gewöhnt sich daran. Glauben Sie mir, so schlimm ist das nicht!“ Der Jüngere musterte mich mitleidig. „Aber dann würde Ihnen ein Gespräch mit uns vielleicht helfen. Glauben Sie an Gott?“ Ein leichtes Nieseln kündigte ein von Süden schnell aufziehendes Gewitter an. Ich rückte meine Lesebrille zu Recht und schaute ihn über den Brillenrand hinweg an. „Gott? Ich dachte Sie seien vom Finanzamt! Ich hab mich schon gewundert, dass Beamte sonntags arbeiten. Nun ja, … Gott? Ich weiß nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden …“ Ich spürte, wie die Hoffnung auf missionarischen Erfolg in ihnen aufkeimte und beendete meinen Satz: „…, ich meine, ich habe mich noch nicht entschieden, für welchen Gott. Da gibt es ja so einige?“ Draußen hatte sich der immer zorniger werdende Niesel zu einem heftigen Regenfall gesteigert. Dicke Tropfen prasselten auf den Bürgersteig und tanzten um die Schuhe der beiden Männer. Ein von dumpfem Donnergrollen gefolgter Blitz zuckte aus der dunklen Wolkendecke. Ich hob meine Stimme, um gegen das Unwetter anzusprechen: „Also, bitte erklären Sie mir, welcher Gott Sie schickt – und Sie glauben, er könne mir helfen?“ „Wir sind Zeugen Jehovas. Gott hilft den verlorenen Seelen, die bereit sind, sich zu öffnen und zuzuhören!“, sagte der Jüngere und sein älterer Jünger nickte weise und tapfer, mit einem irgendwie verschwommenen, beinahe spirituellen Blick, während der Regen von seinen mittlerweile klitschnassen Haaren aus den kürzesten Weg zwischen Hemdkragen und Nacken zum Hosenbund suchte. Ich versuchte, ihm in die Augen zu blicken, aber da war dieses vielleicht göttlich Verschleierte, nach außen begrenzt nur durch ein schwarzes Fielmann-Gestell, das mich irritierte, bis mir schlagartig klar wurde, dass die Brille des Mannes beschlagen und mit verschieden großen Wassertropfen übersät war, die punktuell – wie durch eine Lupe – kleinste Stellen seiner hinter dem Glas gelegene Iris vergrößerten und ihm ein unheimliches Aussehen verliehen. „Das ist vielleicht ein Scheißwetter! Wenn ich Millionär wäre, würde ich hier abhauen und mein Glück in Südamerika oder sonst wo suchen!“, brüllte ich gegen den zunehmenden Regen an. „Wollen Sie nicht lieber rein kommen?“ Die beiden drückten sich an mir vorbei in den Flur und schüttelten sich den Regen von den Schultern. Ich glaube, nur ihr eiserner Glaube hinderte sie daran das Wetter und mich, der so spät auf die rettende Idee gekommen war, ihnen Obdach zu gewähren, zu verfluchen. Sie sagten jedenfalls kein böses Wort, als ich ihnen die aus der Form geratenen, triefenden Jacketts abnahm und ordentlich auf einen Bügel an die Garderobe hing. „Wirklich ein Sauwetter! Da kriegt man ja Depressionen!“, versuchte ich sie zu trösten und schob sie dabei sanft in die Küche. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“ „Nein, danke“, sagte der Jüngere. „Wenn Sie vielleicht ein Mineralwasser für uns hätten?!“ Ich unterdrückte die Frage, ob sie für heute nicht schon genug Wasser gehabt hätten, schenkte ihnen ein Mineralwasser und mir einen wunderbar heißen Kaffee ein. Wir setzten uns an den Küchentisch und schwiegen, während ich an meinem dampfenden Kaffee nippte und mir eine Zigarette anzündete. „Wenn Ihr Gott es schafft, mich von meiner Nikotinsucht zu heilen, dann schafft er alles!“, durchbrach ich, mit dem Willen eine Diskussion anzuzetteln, die Stille. „Gott hilft denjenigen, die sich selber helfen!“, murmelte der Ältere und putzte dabei seine Brille trocken. Der Jüngere holte aus seiner durchweichten Kladde eine Zeitschrift heraus und überreichte sie mir feierlich. „Da steht alles drin – unsere Zeitung, der Wachtturm.“ „In dem dünnen Heft soll ALLES stehen?“ Ich schaute ihn skeptisch an. „Das hätten Sie mir einfach in den Briefkasten werfen können! … Ich meine, ich lese das Käseblättchen, die Metrowerbung …, das Ding hätte ich in 5 Minuten durchgehabt. Ich dachte, sie wollten mit mir ernsthaft über Glaubensfragen diskutieren?“ Der Ältere setzte seine Brille auf und hob beschwichtigend die Hände: „Wir gehen von Tür zu Tür und freuen uns über jedes offene Ohr, das die Botschaft des Herren vernehmen möchte.