Das Tagebuch eines Gestörten
Am Rande medienwirksamer Prozesse trifft man oftmals auf merkwürdige Menschen, die mit dem jeweiligen Prozess eigentlich nichts zu tun haben, sich aber doch daran ergötzen. Keiner soll glauben, es gehe diesen Menschen um Prozessbeobachtung oder Mitgefühl für die Opfer oder Täter. Es geht ihnen ausschließlich um die geeignete Szenerie, um die kleine Bühne, auf der sie ihr kleines Flämmchen züngeln lassen. Eine besondere Art der Öffentlichkeit eben. So erhalten Verteidiger, Staatsanwälte und Richter Post oder per Email oder bei abgepasster Gelegenheit auf dem Gerichtsflur zugeraunzte Tipps und Ratschläge – wenn man Glück hat – und Beschimpfungen und Häme – wenn man Pech hat. So ist das, und man hat gelernt, damit umzugehen. Eine ganz besondere Lichtgestalt aber verfolgt mich nunmehr seit Wochen. Nachdem ein von mir verteidigter Einzeltäter wegen des Mordes an einem kleinen Kind rechtskräftig verurteilt worden war, erhielt ich eine erste Email, in welcher der Absender behauptete, bei der Tat dabei gewesen zu sein. Ob ich ihn gegebenenfalls wegen seines Tatbeitrages an dem Mord verteidigen könne, fragte er freundlich an und ließ durchblicken, er kenne den Mörder seit seiner Kindheit und habe interessante Informationen für mich, die Licht ins Dunkle bringen könnten. Da der Fall für mich letztlich viele Fragen offen gelassen hatte, schrieb ich zurück, ich könne ihn zwar nicht vertreten und schreibe auch nicht in der Eigenschaft eines Anwalts, sondern interessiere mich nur privat für alles Erhellende. Wolle er sich mit mir treffen, unterläge ich nicht der anwaltlichen Schweigepflicht. In weiteren Mails erfuhr ich, dass er mit einem Kumpel aus Ostdeutschland anreisen wolle, und da ich im Zusammenhang mit der Verteidigung des Kindermörders deutliche Drohungen aus rechtsradikalen Kreisen bekommen hatte, ging ich vor dem vereinbarten Treffen in unserer Kanzlei auf Nummer sicher. Für den Fall einer gewalttätigen Eskalation hatte ich Schutzmaßnahmen getroffen und mir ein paar Bodyguards organisiert. Als zwei milchbubihafte Hänflinge eintraten und sich vorstellten, verzogen die Bodyguards ihre grimmigen Mienen in mitleidiges Schmunzeln, das wohl auch mir gelten sollte. „Vor solchen Typen hast du Angst?“, sagten ihre Blicke. Um sich den Spaß aber nicht ganz verleiden zu lassen, unterzogen sie die beiden Gäste noch einer kurzen, freiwilligen Leibesvisitation, winkten ab, und ich entließ sie mit einem Achselzucken, das bedeuten sollte – „man kann ja nie wissen…“. Was ich dann in der nächsten Stunde von meinem neuen Informanten zu hören bekam, übertraf alle Erwartungen an vorstellbarem Schwachsinn. Er referierte all das, was man seit Monaten in den Zeitungen zu dem Fall hatte lesen können, gemischt mit ein paar Schwänken aus den angeblichen gemeinsamen Kindertagen mit dem verurteilten Mörder. Zum guten Schluss fragte ich ihn, ob er etwas gegen mich habe oder warum er mir meine kostbare Zeit stehle, in der ich mir eine Folge der „Simpsons“ hätte ansehen können. Das hätte wenigsten einen gewissen Unterhaltungswert gehabt. Das Gespräch hier aber sei quälend. Ob er schon mal daran gedacht habe, sich in psychologische Behandlung zu begeben, fragte ich ernsthaft. Die beiden Hänflinge sahen mich wie zwei aus dem Wasser gehobene Goldfische an. Dann erhob sich der eigentliche Informant und verließ beleidigt das Zimmer, während sein Begleiter noch einen Moment nachdenklich sitzen blieb und sagte: „Ich bin froh, dass sie das mit der psychologischen Behandlung gesagt haben. Ich rate ihm seit Monaten dazu, aber auf mich hört er ja nicht!“ Er verabschiedete sich schließlich mit einer gemurmelten Entschuldigung, und ich sah die beiden nie wieder. Weit gefehlt, wenn man denkt, die Angelegenheit wäre damit abgeschlossen. Seither schreibt mir der Informant täglich 5 bis 17 WhatsApp-Nachrichten oder – wenn´s mal ausführlicher sein soll – ellenlange Mails. Er lässt sich auch nicht davon abschrecken, dass ich grundsätzlich nie antworte, sondern schreibt fleißig und beständig weiter. Ging es dabei anfänglich noch um seine angebliche Tatbeteiligung, bin ich jetzt offenbar zu seinem Tagebuch verkommen. Aus dem angemessen „Sie“ und „Herr Meister“ ist inzwischen ein vertrauliches „du“ oder „dir“ geworden, wenn er mir von seinem neuesten Liebeskummer, der Krankheit der Mutter, der frustrierenden Jobsuche und seiner in Etappen aufgearbeiteten Lebensgeschichte erzählt. Zwischendurch werde ich mit Berichten über interessante Prozesse mit dazugehörenden Links gefüttert oder erfahre, dass er beabsichtigt, sich wissenschaftlich mit der Entstehung von Kriminalität zu befassen. Jeden Morgen wünscht er mir einen erfolgreichen Tag, und jeden Abend angenehme Träume. Bei so viel Freundlichkeit fällt es mir natürlich schwer, den armen Kerl aus meiner WhatsApp-Liste zu streichen oder seine Mails als Junk zu kennzeichnen. Schließlich muss ich den Kram ja nicht lesen, und vielleicht helfe ich ihm ja als Tagebuch, seine Probleme in den Griff zu bekommen. Was diesen Menschen reitet, würde mich allerdings am Rande doch interessieren. Vielleicht bekomme ich demnächst noch einen Heiratsantrag von ihm, wer weiß? Fest steht, dass ich darauf ebenfalls nicht antworten werde, und so besteht die Hoffnung, dass er irgendwann von alleine aufgibt und ich nicht grob werden muss. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach