Ich glaube noch lange nicht alles.
Veröffentlicht am 14. April 2014 von Gerd Meister Da der liebe Mandant – nennen wir ihn Herr Watschen – keinen Besprechungstermin wahrgenommen hatte, konfrontiere ich ihn erst kurz vor der Verhandlung auf dem Gerichtsflur mit der recht dünnen Ermittlungsakte, in der nur kursorisch auf einer DIN A 4 Seite die beiden belastenden Zeugenaussagen von der Polizei vor Ort protokolliert worden sind. Danach soll Herr Watschen eine ältere Dame in der Sparkasse bedroht und beleidigt haben. Eine Sparkassenangestellte soll dieser Kundin verbal beigestanden und dafür dann vor der Sparkasse beim Aufschließen ihres Fahrrades von dem Angeklagten eine saftige Ohrfeige bekommen haben. Diesen Sachverhalt referiere ich dem erstaunten Watschen, der so lautstark und vehement bestreitet, dass sich das Publikum auf dem Gerichtsflur zu uns umdreht und ein aufmerksamer Justizbeamter mit gerunzelter Stirn den Kopf um die Ecke steckt, um nach dem Rechten zu sehen. Ich winke ihm zu. Alles in Ordnung. Er streckt seinen Daumen hoch und fährt mit seinem Aktenwägelchen beruhigt davon. Jetzt mischt sich auch noch die Verlobte von Herrn Watschen ein und sagt: „Ich war dabei. Mein Verlobter hat lediglich eine ältere Dame, die den notwendigen Diskretionsabstand in der Schlange vor der Kasse nicht eingehalten hat, gebeten, einen Schritt zurückzutreten. Dann kam diese asoziale Furie und hat meinen Mann als Penner und Zuhälter beschimpft. Mein Mann hat irgendetwas erwidert, und wenige Minuten später haben wir die Bank verlassen. Draußen wartete diese Furie und hat weiter auf Herrn Watschen eingeschimpft, der dann einen Schritt auf sie zugegangen ist. Plötzlich hat sie ihm mitten ins Gesicht gespuckt. Watschen hat sie daraufhin am Arm angefasst und gesagt, sie könne froh sein, eine Frau zu sein. Dann sind wir gegangen. Mehr war da nicht! Ehrlich!“ Ich verweise auf das polizeiliche Protokoll: „Hier steht, dass die angebliche Furie eine Sparkassenangestellte gewesen sei, und wenn das stimmt, können wir ja mal die Beweisaufnahme antizipieren. Was meint ihr? Wem wird die Richterin wohl glauben, wenn auch noch die andere Dame den Sachverhalt wie ihm Protokoll bestätigt?“ Herr Watschen stimmt meiner Einschätzung zerknirscht zu, bleibt aber bei seiner Schilderung und meint, die Furie sei keine Sparkassenangestellte gewesen. So eine arbeite nicht bei einer Sparkasse! „Okay“, sage ich zu der Verlobten. „Ich sorge dafür, dass sie als letzte Zeugin drankommen. Wenn ich deutlich wahrnehmbar den Kopf schüttele, dann machen Sie besser von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, da ansonsten ein Strafverfahren wegen Falschaussage droht. Einverstanden?“ Die Strafsache wird aufgerufen. Wir betreten den kleinen, überfüllten Sitzungssaal, in dem es sich die Rechtskundeklasse des geschätzten Kollegen Oliver Maier im Zuschauerbereich gemütlich gemacht hat. Olli winkt mir zu, und ich frage mich, wo der die Zeit für so etwas hernimmt. Auch die Richterin ist eine alte Bekannte von mir. Als Jugendliche sind wir uns damals in einer gewissen Szene unserer Heimatstadt häufiger mal in berüchtigten Kneipen über den Weg gelaufen, aber daran will sich heute keiner mehr so genau erinnern. Wir lächeln uns wissend an. Ich nicke der jungen Staatsanwältin und der Bewährungshelferin zu, und nach Verlesung der Anklage beginnt die Beweisaufnahme, die ich mit einer kurzen, knackigen Einlassung eröffne: „Nach der recht dünnen Aktenlage ist die Beweislage für meinen Mandanten vernichtend. Herr Watschen bestreitet den Anklagevorwurf dennoch und wird sich vorläufig nicht weiter zur Sache einlassen! Im Übrigen wundere ich mich darüber, dass lediglich ein nichtssagendes Foto der Überwachungskamera in der Akte ist und nicht das vollständige Video. Ich bin mal gespannt, ob wir heute wirklich zu einem Urteil kommen! Von mir aus können wir die Sache aber auch direkt im Hinblick auf den Freispruch, den ich für Herrn Watschen letzten Monat hier errungen habe, nach § 154 StPO einstellen?“ Die Staatsanwältin stutzt für einen Moment und versteht sodann den Witz: „Herr Verteidiger, ich tue Ihnen gerne mal einen Gefallen, aber Rechtsbeugung gehört leider nicht dazu.“ „Schade!“, sage ich. „Wie wär´s mit ner Einstellung wegen Geringfügigkeit?“ Aber auch darauf will sich die Staatsanwältin nicht einlassen. Die vermeintliche Sparkassenangestellte, eine korpulente Mittfünfzigerin mit rauchiger Stimme, tritt in den Zeugenstand und entpuppt sich schnell als einfache Kundin, die sich im breiten rheinischen Akzent über das polizeiliche Protokoll mokiert und damit zur allgemeinen Erheiterung beiträgt. „Wat haben denn die Kerle do reinjeschriewe?! Ich han mal bei de Sparkasse jeputzt, aver dat is och schon ewig her.“ Während die Richterin die Schulklasse zur Ruhe ermahnt, kann ich mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass doch nichts über eine gut ausermittelte Akte geht und handele mir damit direkt einen ordentlichen Rüffel ein: „Und Sie sind jetzt auch mal still!“, sagt die Richterin laut in meine Richtung und kann sich ein Grinsen dabei nicht verkneifen. In der einsetzenden Ruhe erwidere ich zwinkernd: „Stellen Sie mich ruhig vor der Schulklasse in den Senkel. Ich glaub, ich brauch das heute!“ Die Richterin verdreht die Augen und wendet sich wieder der Zeugin zu, die ihre kurzen Beine auf dem zu hohen Stuhl baumeln lässt und verwundert in die Runde blickt. Dann rückt sie ihr Gesäß bedeutungsschwer nach vorne auf die Stuhlkante, beugt sich über den kleinen Zeugentisch in Richtung der Richterin und setzt die Fußspitzen haltsuchend auf den Boden. Die Fragen der Richterin beantwortet sie auskunftsfreudig. Ja, sie habe sich da einmischen müssen, weil der junge Mann die arme alte Dame in der Kassenschlange so angeschnauzt und beleidigt habe. Da müsse man doch helfen. Auf meine Zwischenfrage, ob sie den „jungen Mann“ denn im Kassenraum als Zuhälter und Penner bezeichnet habe, kommt die spontane Äußerung: „Na, so jestriegelt und jebüjelt, wie de jetzt da sitzt, hätt der damals nit ussjesinn.“ „Darf ich das als ein Ja verstehen“, frage ich freundlich weiter dazwischen. Die Zeugin erwidert, dass sie nie ein Blatt vor den Mund nehme. Dann fährt sie in ihrer Schilderung der Ereignisse fort. „Wir han uns dann jekäbbelt und ich bin russ zu mingem Fahrrad. Da kam der en paar Minuten später och russ. Ich schloss jerade minge Fahrrad uff, da kam der janz nahe an misch ran und da hätt der misch anjepackt!“ „Wie hat er Sie angepackt?“, fragt die Vorsitzende. „Hat er Sie geschlagen?“ „Nee, jeschlagen nicht direkt. Der hätt der misch so fest an de Arm jegriffe!“ Ich