Arman kotzt mich an!
An dem Tag, als der Urgroßvater meines Freundes Arman starb, war seine Familie mit Trauern beschäftigt, und Arman fühlte sich fehl am Platz. So besuchte er mich an dem verregneten Nachmittag, war aber so erschöpft und müde, dass er sofort auf meinem Bett einschlief. Nach einer Stunde schlich ich zum Schlafzimmer, und da lag er wach auf dem Rücken und strahlte mich mit seinen braunen, armenischen Augen an. Ich legte mich für einen Moment zu ihm und streichelte ihm tröstend über den Kopf. Während ich ihm von dem köstlichen Essen berichtet, das ich extra für ihn zubereitet hatte, betrachtete er mich weiter mit seinem hypnotisierenden Blick und lächelte erfreut. Wir gingen nach unten in die Küche. Noch immer sagte er kein Wort und verschlang gierig sein Essen. Dann rülpste er laut und fing begeistert an zu erzählen. Es gibt Menschen, die Armans Geschichten für Blödsinn halten, ja, die behaupten, sie ergäben nicht den geringsten Sinn und das, was er zu sagen hätte, könne keiner so richtig verstehen. Aber diese Menschen hören nicht richtig hin oder sind einfach begriffsstutzig. Und obwohl ich seine Sprache nicht perfekt spreche, verstehe ich Arman und er mich! Ausführlich berichtete er über seine jüngsten, aufregendsten Erlebnisse und kam dabei immer wieder auf sein Lieblingsthema zurück – die Milch, als wichtigstes Lebensmittel, und dass er einfach nicht davon lassen könne. Ich verstand den Wink und reichte ihm die Flasche. Er nahm einen tiefen Zug und berichtete weiter über seine gesunde Leidenschaft. Obwohl ich das Thema von ihm zur Genüge kenne, hörte ich aufmerksam zu. Irgendwann unterbrach ich ihn, schaute ihm tief in die Augen und fragte nachdenklich, ob ihn der Tod seines Urgroßvaters nicht traurig mache. Für einen Moment blickte er mich ernst an. Dann beugte er sich plötzlich vor, riss mir die Brille vom Kopf und warf sie mit Schmackes auf den Boden, wo sie in zwei Teile zerbrach. Ich zuckte erschrocken zurück. Offenbar war ich ihm bei meiner Frage zu nahe gekommen, und ich hätte es wissen müssen. So ist Arman, und das war jetzt schon die dritte Brille, die er vernichtet hatte. Ich warf die Brillenteile in den Mülleimer und trat auf ihn zu. Dabei hob ich den Zeigefinger und drohte energisch mit dem Ende unserer Freundschaft. Er lächelte mich frech an und sagte: „Öhgröööh!“ Ich schaute ihn an und fragte: „Was hast du gerade gesagt?!“. Ich zog ihn aus seinem Stuhl, nahm ihn am Schlafittchen und hielt ihn mit ausgestreckten Armen über meinem Kopf, und da kotzte er mir auf mein frisches Hemd. Ich wischte die Babykotze mit dem Küchenhandtuch weg und nahm ihn mit in den Flur. Wir betrachteten uns im Dielenspiegel und ich forderte ihn auf: „Hey Kumpel, sag das nochmal. Sag Öhgröööh! Das war klasse!“. Obwohl er es wahrscheinlich viel besser wusste als ich, erklärte ich ihm das universale Wort: „Weißt du Arman, ich kenne mich mit Babys aus, auch mit so vier Monate alten Pupsern, wie du einer bist. Hab schon ne ganze Reihe davon mit groß gezogen, und alle haben irgendwann dieses Wort gesagt. Nicht etwa Auto, Mama oder Papa, nein, das erste Wort war immer Öhgröööh! Und weißt du, was es bedeutet? Naja, es ist schwer zu übersetzen, und es hat wohl mehrere Bedeutungen. Eigentlich drückt es mehr so ein Gefühl aus, von allen geliebt und respektiert zu werden. Man könnte vielleicht sagen, es drückt die pure Lebensfreude aus! Aber eines ist gewiss: Egal, ob in China, in Afrika, Arabien, Armenien oder hier, alle glücklichen Babys dieser Welt benutzen bestimmt dieses Wort. Und dass du es gerade gesagt hast, beweist, dass auch du glücklich bist, obwohl heute für deine Familie ein sehr trauriger Tag ist. Aber das Leben geht weiter, stimmt´s?! Und ich hoffe, das Öhgröööh-Gefühl bleibt dir für die Zukunft erhalten.“ Ich drehte ihn zu mir, und wir schauten uns an. Er wiederholte das Wort zwar nicht, aber er lächelte mich freundschaftlich an. Ich gab ihm einen Kuss auf die Nase und sagte: „Ich will nämlich nicht, dass du eines Tages auf die schiefe Bahn gerätst und einer meiner Mandanten wirst. Obwohl …, wenn du mir noch eine Brille kaputt machst, fange ich an, mir ernsthafte Sorgen zu machen. Das ginge dann schon in die Richtung von schädlichen Neigungen, und du weißt, was das bedeutet! So, jetzt kriegst du erst einmal eine frische Windel verpasst.“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach