Psychologische Verzerrungen im Strafprozess: Ein Leitfaden für Strafverteidiger

Psychologische Verzerrungen im Strafprozess: Ein Leitfaden für Strafverteidiger In Strafverfahren geht es offiziell um Logik, Beweise und Rechtsanwendung. Tatsächlich beeinflussen psychologische Verzerrungen – sogenannte „Biases“ – fast jede Phase des Verfahrens: Ermittlungen, Zeugenaussagen, Beweiswürdigung und Urteilsfindung. Dieser Leitfaden erklärt die wichtigsten Biases kurz, prägnant und mit klaren Beispielen aus der Strafverteidigung. Er soll helfen, typische Denkfehler zu erkennen und im Verfahren aktiv zu adressieren. 1. Verfügbarkeitsheuristik Problem: Menschen überschätzen die Häufigkeit oder Gefahr von Dingen, die besonders präsent,anschaulich oder emotional sind. Im Strafverfahren: Nach mehreren Jugendgewalt-Fällen in kurzer Zeit wirkt ein ähnlicher Fall automatisch „schlimmer“. Das verzerrt das Urteilsklima. Im Alltag: Nach großen Flugzeugabstürzen wirken Flüge gefährlicher als Autofahren – obwohl dasGegenteil wahr ist. 2. Ankerheuristik (Anchoring Bias) Problem: Die zuerst genannte Zahl oder Einschätzung beeinflusst alle späteren Urteile – selbst wenn sie falsch oder überzogen ist. Im Strafverfahren: Staatsanwaltschaft fordert 5 Jahre → das Gericht bewegt sich unbewusst in dieser Nähe, selbst wenn die Beweislage milder ist. Im Alltag: „199 ¤ durchgestrichen – jetzt 119 ¤“: Der hohe Anker macht das Angebot attraktiv. 3. Repräsentativitätsheuristik Problem: Menschen verwechseln Stereotype („passt ins Bild“) mit Wahrscheinlichkeit. Basisraten werden ignoriert. Im Strafverfahren: Ein junger, sportlicher Mann in dunkler Kleidung „passt“ ins Täterprofil. Das führt zu Verdachtsfehlern. Im Alltag: Eine Person, die „wie ein Musiker aussieht“, wird als Musiker eingeschätzt – obwohl das selten zutrifft. 4. Confirmation Bias (Bestätigungsfehler) Problem: Man sucht nur Beweise, die den ersten Verdacht bestätigen. Widersprechendes wird ausgeblendet. Im Strafverfahren: Einmal auf einen Verdächtigen eingeschossen, ignorieren Ermittler entlastende Hinweise – der klassische Ermittlungstunnelblick. Im Alltag: Wer eine Automarke nicht mag, bemerkt jede Panne genau dieser Marke – die vielen problemlosen Fahrten nicht. 5. Hindsight Bias (Rückschaufehler) Problem: Im Nachhinein wirkt alles vorhersehbar, obwohl es vorher offen war. Im Strafverfahren: „Er hätte wissen müssen, dass es eskaliert.“ – reine Rückschau-Konstruktion. Im Alltag: „Ich wusste, dass wir verlieren.“ – stimmt nie. 6. Overconfidence Bias (Überzuversicht) Problem: Menschen sind zu sicher in ihren Erinnerungen und Wahrnehmungen. Im Strafverfahren: Zeugen behaupten, sie seien „100 % sicher“. Unter Stress sinkt die Trefferquote massiv. Im Alltag: „Ich bin ein besserer Autofahrer als die meisten.“ – mathematisch unmöglich. 7. Fundamentaler Attributionsfehler Problem: Verhalten wird fälschlich über Charakter erklärt, nicht über Situation.Im Strafverfahren: Angeklagter wirkt nervös → Gericht unterstellt Lüge. Tatsächlich: Stress, Druck, Angst.Im Alltag: Jemand schneidet uns im Verkehr → wir halten ihn für rücksichtslos, statt an einen Notfall zu denken. 8. Optimism Bias Problem: Menschen glauben, negative Ereignisse treffen andere, nicht sie selbst.Im Strafverfahren: Mandanten unterschätzen mögliche Strafen („es wird schon gut ausgehen“).Im Alltag: Raucher glauben, dass eher „andere“ Krebs bekommen. 9. False Consensus Effect Problem: Man überschätzt, wie viele die eigene Meinung teilen.Im Strafverfahren: „Jeder hätte so gehandelt.“ – das Gericht sieht es ganz anders.Im Alltag: „Alle mögen diese Musik.“ – stimmt nie. 10. Framing-Effekt Problem: Gleiche Fakten – andere Wirkung durch Formulierung.Im Strafverfahren: „Er hat das Opfer angegriffen“ statt „es kam zu einer Auseinandersetzung“.Im Alltag: „90 % fettfrei“ klingt positiver als „enthält 10 % Fett“. 11. Halo-Effekt Problem: Ein einzelner Eindruck färbt das Gesamtbild einer Person.Im Strafverfahren: Ein gepflegter Angeklagter wirkt sofort glaubwürdiger.Im Alltag: Attraktive Menschen wirken kompetenter. 12. Survivorship Bias Problem: Man sieht nur die Erfolgreichen, ignoriert die Gescheiterten.Im Strafverfahren: „Bewährung klappt immer“ – man sieht nur die Erfolge.Im Alltag: Erfolgreiche YouTuber verzerren die Realität. 13. Sunk Cost Fallacy Problem: Man hält an Entscheidungen fest, weil man schon investiert hat.Im Strafverfahren: Ermittler bleiben an falschem Verdacht hängen, weil viel Arbeit investiert wurde.Im Alltag: Ein schlechtes Essen wird aufgegessen „weil es bezahlt wurde“. Fazit Psychologische Biases wirken still, aber massiv: auf Ermittler, Zeugen, Sachverständige und Richter. Wer diese Verzerrungen kennt, kann Fehler in Beweiswürdigung, Wahrnehmung und Urteilsfindung sichtbar machen – und gezielt für die Verteidigung nutzen. Gerd Meister, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht

LG Fulda: Totschlags an Neugeborenem – Begriff des Menschen im Strafrecht

LG Fulda: Totschlag an Neugeborenem – zum Begiff des Menschen im Strafrecht Das Landgericht Fulda hat eine 35-jährige Mutter wegen Totschlags (§ 212 StGB) an ihrem neugeborenen Kind zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Nach Überzeugung der Kammer tötete die Frau ihr kurz zuvor geborenes Baby in einer öffentlichen Toilette und versteckte den Leichnam anschließend in einer Gefriertruhe. Das Gericht sah von der Anwendung des regulären Strafrahmens des § 212 Abs. 1 StGB (Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren) ab und ging vielmehr von einem minderschweren Fall (§ 213 StGB) aus. Maßgeblich hierfür waren die psychische Ausnahmesituation der Mutter unmittelbar nach der Geburt, ihre familiäre Belastungssituation und das Fehlen von Anhaltspunkten für niedrige Beweggründe. 1. Warum Totschlag – und nicht § 218 StGB (Schwangerschaftsabbruch)? Entscheidend für die rechtliche Einordnung war, dass das Kind bereits geboren war. Während § 218 StGB ausschließlich den Schutz des ungeborenen Lebens betrifft, finden die Tötungsdelikte der §§ 212 ff. StGB nur Anwendung, wenn das Opfer bereits als “Mensch” im Sinne des Strafrechts gilt. Damit rückte eine zentrale strafrechtliche Frage in den Fokus: Ab welchem Zeitpunkt ist ein Baby strafrechtlich ein “Mensch” – und damit taugliches Tatobjekt eines Tötungsdelikts? 2. Der Begriff des „Menschen“ im Sinne der §§ 212 ff. StGB Der Gesetzgeber definiert den Begriff des „Menschen“ nicht ausdrücklich. Die Abgrenzung wurde daher durch die Rechtsprechung und herrschende Meinung der Strafrechtswissenschaft entwickelt. a) Grundsatz: Mensch ist, wer “geboren” ist Nach h.M. beginnt der strafrechtliche Lebensschutz der §§ 212 ff. StGB mit dem Beginn der Geburt. Das bedeutet: Ein Wesen ist dann “Mensch”, wenn der Geburtsvorgang eingeleitet ist, also die Leibesfrucht sich in einem Zustand befindet, der typischerweise in die vollständige Geburt mündet. b) Wann beginnt die Geburt? Hier ist zu differenzieren: Damit entsteht ein strafrechtlich geschütztes menschliches Leben bereits während der laufenden Geburt – nicht erst mit dem ersten Atemzug oder vollständigen Abnabelung. c) Ende der Leibesfrucht – Beginn des Menschen Vor Beginn des Geburtsvorgangs ist das Ungeborene ausschließlich vom Schutzbereich der §§ 218 ff. StGB erfasst. Hier besteht ein eigenständiges, gegenüber den Tötungsdelikten deutlich abgeschichtetes Schutzsystem. Mit dem Einsetzen der Geburt geht das Ungeborene jedoch nahtlos in den Schutzbereich der Tötungsdelikte über. Das Neugeborene ist damit vollwertiger Träger des Rechtsguts “Leben” in der Dogmatik des Strafrechts. d) Folgen für die Strafbarkeit Die Konsequenz dieser Abgrenzung ist klar: Im Fall des LG Fulda war das Kind lebend geboren. Damit war es zweifellos ein “Mensch” im strafrechtlichen Sinne, sodass § 212 StGB – und nicht § 218 StGB – einschlägig war. 3. Minderschwerer Fall nach § 213 StGB Das Landgericht erkannte trotz der Schwere der Tat einen minderschweren Fall an. Die dafür maßgeblichen Kriterien umfassten: Der Strafrahmen des § 213 StGB (1 bis 10 Jahre) ermöglicht es dem Gericht, die individuellen Belastungsfaktoren stärker zu berücksichtigen, als es im Regelstrafrahmen möglich wäre. Mit einer Strafe von 6 Jahren bewegt sich das Gericht im mittleren Bereich dieses Sonderstrafrahmens. 4. Bedeutung der Entscheidung Die Entscheidung des LG Fulda bestätigt mehrere zentrale Grundsätze des Strafrechts: Gerade im Bereich der Delikte gegen das Leben zeigt der Fall, wie bedeutsam die dogmatischen Grundfragen – insbesondere der Beginn des Menschseins im strafrechtlichen Sinn – für die richtige rechtliche Einordnung sind. Fabian Kremers, Volljuristischer Mitarbeiter

AG Hamburg: Fahrlässige Tötung im Schwimmunterricht

AG Hamburg: Fahrlässige Tötung im Schwimmunterricht Das Amtsgericht Hamburg hat eine Schwimmlehrerin wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten verurteilt.Der tragische Vorfall ereignete sich während eines Kinderschwimmkurses („Seepferdchen“): Während die Lehrerin einem Kind mit einer Panikattacke beistand, geriet ein fünfjähriges Mädchen unbemerkt unter Wasser. Es blieb dort mehrere Minuten und verstarb schließlich. Nach Auffassung des Gerichts hat die Schwimmlehrerin ihre Aufsichtspflicht in mehrfacher Hinsicht verletzt. Sie hätte die übrigen Kinder aus dem Wasser schicken müssen, als sie sich einem einzelnen Kind widmete, und beim späteren Auffinden einer Schwimmnudel ohne Kind unverzüglich überprüfen müssen, ob alle Kinder anwesend waren. Dieses pflichtwidrige Unterlassen begründet – so das Gericht – eine fahrlässige Tötung gemäß § 222 StGB. Rechtliche Einordnung (§ 222 StGB): Nach § 222 StGB macht sich strafbar, wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht. Erforderlich ist, dass der Täter eine Sorgfaltspflicht verletzt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Fähigkeiten verpflichtet und fähig war, und dass gerade durch diese Pflichtverletzung der Tod eingetreten ist. Im vorliegenden Fall traf die Schwimmlehrerin eine Garantenstellung aus Übernahme einer Schutzpflicht: Als Kursleiterin war sie verpflichtet, die Kinder vor Gefahren im Wasser zu bewahren. Durch das Unterlassen notwendiger Sicherungsmaßnahmen – das Nicht-Herausschicken der Kinder sowie das unterlassene Nachzählen – hat sie ihre Sorgfaltspflicht verletzt. Diese Pflichtwidrigkeit führte kausal zum Tod des Kindes, sodass der Tatbestand des § 222 StGB erfüllt war. Das Urteil verdeutlicht, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Unterlassen auch im pädagogischen oder sportlichen Kontext weitreichend sein kann. Personen, die Aufsichts- oder Schutzpflichten übernehmen, müssen stets organisatorische und personelle Maßnahmen treffen, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden.   Fabian Kremers, Volljuristischer Mitarbeiter

OLG Dresden: Spionageurteil – rechtliche Einordnung

OLG Dresden: Spionageurteil – rechtliche Einordnung Am 30. September 2025 hat das Oberlandesgericht Dresden ein Urteil gesprochen: Jian G., ehemals Mitarbeiter des AfD-Politikers Maximilian Krah, wurde wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit für die Volksrepublik China zu vier Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Jian G. im Zeitraum seiner Tätigkeit für Krah im Europäischen Parlament Informationen an chinesische Stellen weitergeleitet und Dissidentinnen und Dissidenten in Deutschland ausgespäht haben soll.  Auch eine Komplizin, Yaqi X., wurde verurteilt – sie erhielt eine Bewährungsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten.  Hintergründe & Bedeutung In der Anklage heißt es, dass aus dem Umfeld des EU-Parlaments Dokumente, interne Informationen und persönliche Daten gesammelt und weitergeleitet wurden – darunter zu Sitzungen, Parteistrategien und zu chinesischen Oppositionellen in Deutschland.  Der Fall deckt – laut Medienberichten – erhebliche Sicherheitslücken auf, gerade im politischen Umfeld.  Der Fall löst auch Diskussionen darüber aus, wie sensibel Mandatsbüros und Parlamentarier auf verdeckte Einflussnahme reagieren müssen.  Parallel dazu gibt es inzwischen Ermittlungen gegen Krah selbst: Ihm wird u. a. Bestechlichkeit und Geldwäsche im Zusammenhang mit Zahlungen aus China vorgeworfen. Sein Immunität als Abgeordneter wurde aufgehoben, um diese Verfahren zu ermöglichen. Der Straftatbestand: Geheimdienstliche Agententätigkeit (§ 99 StGB) Der Tatbestand, der hier zur Verurteilung führte, ist „geheimdienstliche Agententätigkeit“ gemäß § 99 Strafgesetzbuch (StGB). Einige Kernpunkte: Agieren für ausländische Nachrichtendienste: Wer als Agent, Mitarbeiter oder in vergleichbarer Weise für einen ausländischen Geheimdienst tätig wird, handelt strafbar. Besondere Schwere: In besonders schweren Fällen – etwa bei großem Umfang, bei hoher Sensibilität der Informationen oder langfristiger Tätigkeit – drohen besonders hohe Strafen. Beweislast & Geheimhaltung: Solche Verfahren sind oft mit viel Geheimhaltung belegt; manche Beweismittel dürfen nicht öffentlich verhandelt werden. Schutz der inneren Sicherheit: Der Tatbestand schützt den Staat davor, dass sensible Informationen in die Hände fremder Mächte geraten. Die Verurteilung in diesem Fall unterstreicht, dass Deutschland solche Aktivitäten sehr ernst nimmt — insbesondere, wenn sie sich im politischen Raum abspielen. Fabian Kremers, volljuristischer Mitarbeiter

BGH: Spontanäußerung statt Vernehmung – Zum Beweisverwertungsverbot bei Aussagen im Krankenhaus

In einem Strafverfahren wegen eines mutmaßlichen Tötungsdelikts hatte der Angeklagte nach einem Autounfall im Krankenhaus spontan Angaben zum Tatgeschehen gemacht. Die Polizei hatte zuvor auf eine förmliche Vernehmung verzichtet – unter Verweis auf den Gesundheitszustand des Beschuldigten. Fraglich war, ob diese Äußerungen in der Hauptverhandlung verwertet werden durften oder ein Beweisverwertungsverbot nach § 136a StPO eingreift. Der Sachverhalt: Nach einer Messerattacke auf seine Ex-Partnerin wurde der Beschuldigte selbst verletzt und kam ins Krankenhaus. Dort erhielt er leichte Schmerz- und Beruhigungsmittel. Ein Polizeibeamter eröffnete ihm, dass er als Beschuldigter gelte, belehrte ihn ordnungsgemäß, erklärte aber, dass keine Vernehmung stattfinden werde. Dennoch äußerte sich der Beschuldigte im Rahmen der Spurensicherung ungefragt zur Tat. Die Entscheidung des BGH: Der Bundesgerichtshof verneinte ein Beweisverwertungsverbot: 🔹 Keine Vernehmung im prozessualen Sinn:Da der Polizeibeamte ausdrücklich mitteilte, keine Vernehmung durchführen zu wollen, lag keine „Aussageverlangen“ im Sinne von § 136a StPO vor. Die Äußerungen erfolgten ungefragt im Kontext anderer Maßnahmen und sind damit nicht durch § 136a Abs. 3 StPO geschützt. 🔹 Keine vernehmungsähnliche Situation:Auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur-Grundsatz) greift kein Schutz. Es gab keine Täuschung, keinen Zwang, keine Umgehung des Schweigerechts – der Beschuldigte hatte sich nicht auf sein Schweigerecht berufen und sprach von sich aus. 🔹 Spontanäußerungen sind verwertbar:Der BGH stellt klar: Spontan gemachte Angaben, die nicht auf Vernehmungsdruck oder polizeiliche List zurückgehen, unterliegen grundsätzlich keiner Verwertungsbeschränkung. Bedeutung für die Praxis: Diese Entscheidung verdeutlicht, dass der Schutz des Beschuldigten nach § 136a StPO nicht überspannt werden darf. Spontanäußerungen bleiben – trotz kritischer Gesamtsituation – verwertbar, solange keine vernehmungsähnliche Konstellation oder aktive Umgehung des Schweigerechts vorliegt. [BGH, Urt. v. 24.04.2025 – 5 StR 729/24] Fabian Kremers, Wissenschaftlicher Mitarbeiter

BGH: Gewerbsmäßigkeit beim Betrug – Konkretisierung der Anforderungen an Eigennützigkeit und Gehilfenvorsatz

Die Angeklagte war an mehreren sogenannten Schockanrufen beteiligt, mit denen ältere Menschen durch vorgetäuschte Notlagen zur Übergabe von Bargeld und Wertsachen bewegt werden sollten. Sie hielt Kontakt zu den Mittätern, unterstützte die Organisation der Taten und erhielt im Gegenzug von ihrem Lebensgefährten regelmäßige Geldleistungen, darunter Mietzahlungen, Taschengeld und Cannabis. Das Landgericht hatte die Angeklagte u.a. wegen gewerbsmäßigen Betrugs (§ 263 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB) verurteilt, lehnte jedoch den Qualifikationstatbestand des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs (§ 263 Abs. 5 StGB) ab – ebenso wie eine Strafbarkeit wegen Diebstahls mangels Gehilfenvorsatzes. Der BGH beanstandete beides. Zur Gewerbsmäßigkeit: Der BGH stellt klar: Gewerbsmäßiges Handeln liegt bereits dann vor, wenn sich der Täter – auch mittelbar – eine nicht nur unerhebliche und nicht nur vorübergehende Einnahmequelle aus der Tatbegehung verschaffen will. Es genügt, wenn der Vorteil – wie hier – nicht unmittelbar aus der Beute, sondern über regelmäßige Leistungen Dritter (z.B. durch einen Tatbeteiligten) erwartet wird. Dass die Angeklagte keine unmittelbare Beteiligung an der Beute hatte, steht der Gewerbsmäßigkeit nicht entgegen. Entscheidend ist, ob sie nach ihrer Vorstellung die Vorteile auch wegen ihrer Mitwirkung an den Taten erhielt – das war nach Ansicht des BGH der Fall. Zum Gehilfenvorsatz: Auch die Annahme fehlenden Vorsatzes in Bezug auf einen eigenmächtigen Diebstahl des Mitangeklagten wurde vom BGH verworfen. Es genügt beim Gehilfen ein bedingter Vorsatz, der sich auf den wesentlichen Unrechtsgehalt und die Angriffsrichtung der Tat bezieht. Im Kontext von Schockanrufen liegt es nahe, dass Dritte die Situation ausnutzen könnten, um zusätzlich durch Wegnahme von Wertgegenständen Vermögensschäden zu verursachen – diese Möglichkeit hätte das Landgericht prüfen müssen. Die Entscheidung schärft die Anforderungen an die strafrechtliche Bewertung arbeitsteilig begangener Vermögensdelikte – insbesondere in Bezug auf die mittelbare Vorteilserlangung und die Kenntnisgrenzen von Gehilfen. [BGH, Urt. v. 26.02.2025 – 2 StR 480/24] Fabian Kremers, Wissenschaftlicher Mitarbeiter

BGH: Täuschung oder Drohung? – Zur Abgrenzung von Betrug und Erpressung

In einem bemerkenswerten Fall hat der Bundesgerichtshof zur Abgrenzung zwischen Betrug (§ 263 StGB) und Erpressung (§ 253 StGB) Stellung genommen. Der Angeklagte hatte sich gegenüber den Geschädigten als Mitglied eines Rockerclubs ausgegeben, unter dem Pseudonym „Ö.“, und Geldzahlungen gefordert. Dabei drohte er mit einem „netten Gespräch“, falls nicht gezahlt werde – ein Begriff, den er unter seiner wahren Identität als Freund des angeblichen Rockers erklärte: Das solle heißen „Zusammenschlagen und Vergewaltigen“. Zur Untermauerung der Drohkulisse schilderte der Angeklagte, dass er selbst von „Ö.“ bereits bedroht worden sei, dass dieser gewalttätig sei und sogar die Bremsleitungen seines Fahrzeugs habe durchtrennen lassen. Aus Angst um seine Tochter habe er angeblich selbst bereits hohe Summen gezahlt. Das Landgericht hatte zunächst wegen Betrugs verurteilt. Der BGH stellte jedoch klar: In Wahrheit lag eine Erpressung vor. Die angebliche Person „Ö.“ diente allein dazu, eine bedrohliche Scheinrealität zu erzeugen – also eine Drohung, nicht eine Täuschung über Tatsachen. Der Täter gab sich zudem als jemand aus, der Einfluss auf das Gewaltpotenzial dieser fiktiven Figur habe – das genügt für eine Drohung im Sinne des § 253 StGB. Entscheidend ist dabei: Wenn eine Täuschung lediglich dazu dient, eine Drohung realistischer oder einschüchternder wirken zu lassen, geht sie in der Drohung auf. In solchen Fällen liegt keine Täuschung im Sinne des Betrugs vor, sondern eine Drohung – mit der Folge, dass die Tat als Erpressung zu werten ist. [BGH, Beschl. v. 25.02.2025 – 5 StR 739/24] Fabian Kremers, Wissenschaftlicher Mitarbeiter

BGH: Unmittelbares Ansetzen beim Betrug – Konkretisierung der Schwelle zum Versuch

In einer aktuellen Entscheidung hat sich der Bundesgerichtshof mit der Frage beschäftigt, wann beim Betrug der Versuch beginnt – also wann das sogenannte „unmittelbare Ansetzen“ vorliegt. Die Angeklagten hatten hochbetagte Geschädigte angerufen und sich als Bankmitarbeiter, Polizisten oder Staatsanwälte ausgegeben. Ziel war es, durch eine komplex angelegte Täuschung über angebliche Falschgeldauszahlungen und angebliche Auslandsüberweisungen eine Geldübergabe an Abholer zu erwirken. In einigen Fällen wurde das Gespräch jedoch vorzeitig abgebrochen, bevor der konkrete Bezug zu „Falschgeld“ thematisiert werden konnte. Trotzdem sah der BGH hierin bereits ein unmittelbares Ansetzen zum Betrug: Auch vorbereitende Täuschungshandlungen können ausreichen, wenn sie – wie hier – Teil eines durchdachten Tatplans sind, der ohne wesentliche Zwischenschritte in die Vermögensverfügung münden soll. Das bloße Erwecken eines allgemeinen Vertrauens reicht dabei zwar regelmäßig nicht aus – wohl aber dann, wenn die Täuschung bereits gezielt auf den Schaden des Opfers gerichtet ist. Besonders relevant ist die Klarstellung des BGH: Auch bei einer mehrstufigen Täuschung, die innerhalb eines zusammenhängenden Telefongesprächs erfolgt, kann bereits der erste irreführende Kontakt ein strafbarer Versuch sein – sofern nach Tätervorstellung eine natürliche Einheit mit der Vermögensverfügung besteht. Diese Entscheidung präzisiert die Schwelle vom straflosen Vorbereitungsstadium hin zum strafbaren Versuch bei sogenannten Callcenter-Betrugsfällen entscheidend. [BGH, Beschl. v. 14.01.2025 – 5 StR 583/24] Fabian Kremers, Wissenschaftlicher Mitarbeiter

BGH: Gefährliche Körperverletzung und Rücktritt vom Versuch – Abgrenzung bei § 224 I Nr. 3 StGB und § 24 StGB

Nach einem eskalierten Streit begab sich der Angeklagte mit einem ausgeklappten Einhandmesser zur Wohnung des Geschädigten. Unter dem Vorwand einer Entschuldigung täuschte er Friedfertigkeit vor, stach dann jedoch überraschend mit dem Messer in den Halsbereich des Opfers. Dieses überlebte schwer verletzt. Der Bundesgerichtshof hatte sich mit zwei zentralen strafrechtlichen Fragen zu befassen: Erstens, ob ein hinterlistiger Überfall im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB vorlag, und zweitens, ob ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch eines Tötungsdelikts (§ 24 Abs. 1 StGB) angenommen werden konnte. Der BGH stellte klar, dass ein hinterlistiger Überfall regelmäßig bereits dann vorliegt, wenn der Täter – wie hier – in friedfertiger Weise auftritt, seine wahre Absicht verbirgt und das Opfer dadurch überraschend und ohne Verteidigungsmöglichkeit angegriffen wird. Zugleich betonte der BGH die maßgebliche Bedeutung des sog. Rücktrittshorizonts bei der Frage, ob ein Versuch beendet oder unbeendet ist. Hält der Täter nach der letzten Ausführungshandlung den Erfolg nicht für möglich, kann ein strafbefreiender Rücktritt durch bloßes Aufgeben der weiteren Tatausführung vorliegen – selbst bei gefährlichen Gewalthandlungen. Im vorliegenden Fall hielt der Angeklagte nach der Stichbewegung offenbar den tödlichen Erfolg nicht mehr für wahrscheinlich und ließ von weiteren Angriffen ab. Damit war ein strafbefreiender Rücktritt vom unbeendeten Versuch anzunehmen. [BGH, Urteil vom 30.01.2025 – 4 StR 243/24] Fabian Kremers, Wissenschaftlicher Mitarbeiter

KG Berlin: Cannabis in der Zelle erlaubt

Sachverhalt: Ein Strafgefangener, der eine mehrjährige Freiheitsstrafe verbüßt, wurde vom Amtsgericht Tiergarten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt. Nicht strafbar sei jedoch – so das Amtsgericht – der Besitz von rund 45 Gramm Cannabisharz, das der Mann in seiner Gefängniszelle aufbewahrte. Dieser Teil der Anklage wurde unter Verweis auf das neue Konsumcannabisgesetz (KCanG) vom Vorwurf ausgenommen. Die Staatsanwaltschaft akzeptierte das nicht und legte gegen das Urteil sofort Sprungrevision zum Kammergericht Berlin ein. Dort scheiterte sie: Das Kammergericht bestätigte, dass der Besitz von bis zu 50 Gramm Cannabis auch in einer Gefängniszelle grundsätzlich erlaubt sein kann – wenn die Zelle als „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne des § 3 KCanG gilt. Rechtslage: Das Konsumcannabisgesetz erlaubt seit dem 01. April 2024 volljährigen Personen unter anderem den Besitz von bis zu 50 Gramm Cannabis am Ort ihres „gewöhnlichen Aufenthalts“ (§ 3 Abs. 1 KCanG). Die Staatsanwaltschaft war der Ansicht, der Gefängnisaufenthalt könne nicht als „gewöhnlicher Aufenthalt“ gelten, weil dieser unfreiwillig erfolge. Zudem seien Sicherheit und Ordnung des Vollzugs durch Drogenbesitz gefährdet. Das Kammergericht widersprach dieser Sichtweise. Es stellte klar: Auch eine Gefängniszelle kann rechtlich als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des KCanG gelten. Entscheidend sei nicht die Freiwilligkeit des Aufenthalts, sondern allein die tatsächlichen Lebensumstände. Der Haftraum eines Strafgefangenen sei über Monate oder Jahre hinweg sein Lebensmittelpunkt – dort schlafe er, nehme Besuch, pflege soziale Kontakte und verbringe den überwiegenden Teil seiner Zeit. Zu beachten bleibt dennoch: Das Urteil entzieht nur der Strafbarkeit die Grundlage – es bedeutet nicht, dass der Konsum oder Besitz in der JVA automatisch erlaubt ist. Justizvollzugsanstalten dürfen weiterhin per Hausordnung oder Allgemeinverfügung eigene Regelungen treffen, die den Besitz und Konsum untersagen. [KG Berlin, Beschluss v. 28.05.2025, 5 ORs 17/25 – 121 SRs 31/25] Fabian Kremers, Wissenschaftlicher Mitarbeiter