„Die Rache für ein totes Baby“; Lindbergh und Hauptmann, ein „Jahrhundert-Prozess“?
Charles Lindbergh war bereits ein Nationalheld, als sein 20-monatiger Säugling, Charles Augustus, am 1. März 1932 ermordet wurde, so jedenfalls die späteren Feststellungen des an sich unzuständigen Gerichts in Flemmington, New Jersey. Als großer, schlaksig wirkender Mann hatte Charles Lindbergh im Mai 1927 nach einem schwierigen Start von Long Island aus mit seiner einmotorigen, 223 PS starken Spirit of St. Louis in 33 Stunden und 32 Minuten als erster Mensch den Atlantik nonstop überquert und dafür den ausgelobten Preis von 25.000 Dollar gewonnen. Der Haupttank seiner Maschine war dabei in der Kabine vor dem Pilotensitz eingebaut, so dass der Flugpionier nur mittels eines Periskops nach vorne schauen konnte. In eisiger Kälte schlief er über dem Atlantik in seiner engen Kabine ein, verlor die Orientierung und wäre fast abgestürzt. Mit letzter Kraft und wohl dem letzten Tropfen Sprit erreichte er das Festland, wo er bei seiner Landung in Le Bourget bei Paris von einer frenetischen Menschenmenge empfangen wurde. Damit lagen die Kontinente nicht mehr Wochen, sondern nur noch vergleichsweise wenige Tage auseinander. Auf der eigens für Lindbergh abgehaltenen Parade in New York City flatterten 1.800 Tonnen Konfetti durch die Luft – ein weiterer Rekord. Berthold Brecht war von Lindberghs Erlebnisbericht „We“ (gemeint waren er selbst und sein Flugzeug) so begeistert, dass er den Text „Lindberghflug“ für die 1929 in Berlin uraufgeführte Kantate für Soli, Chor und Orchester von Kurt Weill schrieb. Ein neues Zeitalter brach an, und dennoch befanden sich die Vereinigten Staaten von Amerika mit über 12.000.000 Arbeitslosen immer noch in der größten Wirtschaftskrise ihrer jungen Geschichte. Präsident Herbert Hoover, der in besseren Zeiten gewählt worden war, musste den Platz für Franklin D. Roosevelt räumen. Vom kommenden Wirtschaftsaufschwung des New Deal war noch nichts zu spüren, und in schwierigen Zeiten brauchen die Menschen Helden wie Charles Lindbergh, zu denen sie aufblicken können. Als Lindbergh 1929 die hübsche und kluge Millionärstochter und Schriftstellerin Anne Morrow heiratete, bestätigte sich für die Massen der amerikanische Traum – sehr zum Leidwesen des jungen Traumpaares, das von Paparazzi gejagt wurde und nur noch mit Hut und Brillen verkleidet am öffentlichen Leben teilhaben konnte. Der wegen seiner Nähe zum Naziregime kritisierte aus Düsseldorf stammende Publizist Friedrich Sieburg beschrieb 1954 in der „Zeit“ den Grund für die Abneigung der Lindberghs gegenüber der Presse: „Den strahlenden Amerikaner, der einst wie ein Halbgott mit unsterblichen Flügelschlägen den Ozean überflogen hat, holte der Fluch der Publizität ein und schlug ihn zu Boden.“ Genau diese Presse aber war es, die letztlich auch den vermeintlichen Mörder des Lindbergh-Babys, Bruno Hauptmann, zu Boden schlug und die öffentliche Stimmung gegen den aus Deutschland illegal eingewanderten Zimmermann so aufheizte, dass ein fairer Prozess nicht mehr möglich – vielleicht von den unter dem Druck der öffentlichen Meinung stehenden Ermittlungsbehörden auch nicht erwünscht – war. Nachdem das ratlose Kindermädchen am Abend des 1.3.1932 Lindbergh an das leere Bettchen des blonden, blauäugigen Kindes geführt hatte, soll Lindbergh in Panik gerufen haben: “ Anne, sie haben unser Kind geraubt!“ Auf der Fensterbank fand man einen Erpresserbrief mit einer Lösegeldforderung von 50.000 $ und am Fuße des Fensters, über das der oder die Täter ins im 1. Obergeschoss gelegenen Kinderzimmers eingedrungen waren, eine zusammensteckbare 3-teilige Holzleiter, dessen eine Sprosse zerbrochen war. Schon in den ersten Stunden nach der Entführung erschienen hunderte von Journalisten an dem im französischen Landhausstil gerade neu erbauten Anwesen der Lindberghs und zertrampelten auf dem Grundstück sämtliche noch nicht gesicherten Spuren. Das war der Auftakt zu dem von der Presse hochstilisierten „Prozess des Jahrhunderts“. Alleine der Zeitungsbaron William Randolph Hearst schickte 2 mobile Fotolabors, und als am nächsten Morgen die Zeitungen erschienen, setzte eine planlose Fahndungswelle ein, bei der völlig unschuldige Eltern mit kleinen blonden Kindern in das Visier der nicht zimperlichen Fahnder gerieten. Aber auch Lindbergh selber trug dazu bei, dass die polizeilichen Ermittlungen dem Chef der Staatspolizei von New Jersey, Norman Schwarzkopf, dessen Sohn später für die USA den 2. Golfkrieg gewinnen sollte, entglitten. Er überließ letztlich Lindbergh die Initiative, wenn nicht sogar das Kommando über die Ermittlungen. Im Glauben, die Unterwelt müsse für die Entführung verantwortlich sein, beschritt Lindbergh unkonventionelle und letztlich erfolglose Wege. In der Hoffnung auf neue Informationen nahm er Kontakt zu Salvatore Spitale und Owney Madden, den bekanntesten Gangsterbossen auf, die während der Prohibition als ein neuer Typus der Schwarzhandelskaufmänner zu Geld und Einfluss gekommen waren. Selbst Al Capone, der zu der Zeit wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis saß, bot seine Hilfe an. Einen dieser Mittelsmänner aus dem Milieu, den Lindbergh als Privatsekretär und Detektiven eingestellt hatte, beging den Fehler, den in krakeliger Handschrift und mit vielen auf einen deutschstämmigen Täter deutenden (das englische good wurde z.B. „gut“ geschrieben) orthographischen Fehlern versehenen Erpresserbrief in der einschlägigen Szene herumzuzeigen. Trittbrettfahrer des Verbrechens, die nur so an die Erkennungszeichen des Briefes gelangt sein können, tauchten auf und behinderten die Ermittlungen. Als einzig zuverlässiger Mittelsmann verblieb schließlich Dr. John F. Condon, ein 72-jähriger pensionierter und kurzsichtiger Schuldirektor, der mittels verschlüsselter Kleinanzeigen in der Lokalzeitung Bronx Home News tatsächlich Kontakt zu dem wohl richtigen Entführer herstellen konnte. Nachdem Lindbergh das von der New Yorker Polizei registrierte Geld in Form von Goldzertifikaten besorgt hatte, verabredete sich Dr. Condon mit dem Entführer zu einen nächtlichen Geldübergabetermin auf einem Friedhof im Staat New York. Später berichtete er, dass er das Geld einem Mann namens John, mit spitzem Gesicht und hervortretenden Backenknochen, übergeben habe. Der Mann habe mit starkem, wahrscheinlich deutschem Akzent, gesprochen und ihm einen Zettel mit dem Schiffsnamen „Nelly“, das vor der Küste von Long Island liegen solle, überreicht. Dort könne der Junge wohlbehalten abgeholt werden. Lindbergh flog sofort mit einem Wasserflugzeug los, fand das Boot trotz verzweifelter Suche aber nicht. Der Entführer „John“ meldete sich nie wieder. Am 12.5.1932 entdeckte ein Lastwagenfahrer keine 5 km vom Anwesen der Lindberghs die stark verweste Leiche eines Kindes. Die Obduzenten stellten fest, dass die Leiche dort unmittelbar nach der Entführung abgelegt worden sein musste. Die New York Daily News veröffentlichte am nächsten Morgen als erste Zeitung die schreckliche Nachricht unter der Schlagzeile „Baby dead!“, die jeder Amerikaner sofort verstand.
Wenn Unschuldige explodieren!
Wohl primär um Fälle, in denen Männer ihre Frauen töten oder Frauen ihre Männer töten, also die „Tötung des Intimpartners“ in Rede steht, wie der Psychiater Wilfried Rasch sein 1964 erschienenes Buch titulierte, ging es dem berühmtesten Gerichtsreporter der Weimarer Republik mit seinen nachfolgenden Zitaten: „Der Mensch, der schießt, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen. Wann der Mensch tötet, ist so wenig voauszusehen wie der Zeitpunkt, wann der Blitz einschlägt. Aber die Bedingungen, unter denen die Natur gegen den Menschen wütet, sind nachträglich leichter zu erklären als der gewaltsame Ausbruch des Stücks Natur, das sich Mensch nennt. Um die Missetaten der Natur zu erklären, hat man allerhand Hilfsmittel ersonnen, z.B. Instrumente. Zur Erklärung der Explosion eines Menschen benutzt man die Psychologie. Die Menschheit sucht sich gegen die Gewalt und die Willkür der Natur durch allerhand Erfindungen zu schützen, z.B. den Blitzableiter oder den Rettungsring. Um sich gegen den Menschen zu schützen, erfand der Mensch das Strafgesetz.“ In kritischer Absicht fährt Schlesinger fort: „Nutzlosigkeit der Strafe im Sinn der Besserung und die Unschuld des Menschen gäben uns eigentlich Veranlassung, dies Strafgesetzbuch zu zerreißen; aber wir tun es nicht, denn noch blieb ein Strafzweck übrig; die Abschreckung. Seitdem strafen wir Unschuldige, um andere Unschuldige von der Explosion abzuschrecken. Wir (anderen) leben nicht gerne in der Nähe von explodierenden Unschuldigen, also lassen wir die Unschuldigen für uns sterben oder für uns im Gefängnis verkommen.“ Einfach köstlich – diese Zitate! Paul Schlesinger, genannt Sling, war kein gelernter Journalist oder gar Jurist. Nach einer abgebrochenen Lehre in einer Berliner Textilfirma, machte er in München Karbarett und arbeitet als Journalist u.a. für den Ullstein Verlag und später als Gerichtsreporter für die Vossische Zeitung. Im Mai 1928, wenige Tage nach seinem 50. Geburtstag, starb Schlesinger überraschend an einem Herzinfarkt. Wikipedia schreibt zu seiner Arbeit: „Schlesinger prägte mit seinen feuilletonistischen Gerichtsreportagen ein ganzes Genre. Er vermied den Protokollstil ebenso wie die reißerische Kolportage, sondern gestaltete seine Prozessberichte wie Miniaturdramen aus dem Justizalltag, durchsetzt mit Ironie und gelegentlichem Spott. Schlesinger verzichtete dabei bewusst auf den Anspruch der objektiven Darstellung:„Ich bin gewiss imstande, ich habe es gelernt, den Bericht zu schreiben, den man im Grunde deshalb objektiv nennt, weil der die Ansicht des Richters ausspricht oder ihr wenigstens nahe zu kommen versucht. Aber ‚richtig‘ ist dieser richteroffiziöse Bericht schon deshalb nicht, weil im Gericht ebenso wenig was richtig ist wie sonst im Leben. Wie oft möchte man sich einmischen, nur weil der Angeklagte nicht die Sprache des Richters, der nicht die Sprache des Angeklagten versteht.“ Schlesingers Stärke war sein Verständnis für die Schwächen aller am Strafverfahren Beteiligten und seine Skepsis gegenüber dem Strafsystem. ….. Für die Arbeit der Rechtsanwälte fand Schlesinger ebenso differenzierende Worte wie für die Richter. Unter der Überschrift „Der erschöpfte Richter“ beschrieb er einen Vorsitzenden, der versucht, Streitigkeiten zwischen den Parteien durch Vergleiche zu lösen: „Er ‚vergleicht‘ mit so viel Leidenschaft, wie andere sich beleidigen. Sein Letztes an Güte und Menschenfreundlichkeit muss er hergeben, um das Widerwärtige im Zaum zu halten.“ Zugleich scheute sich Schlesinger nicht, in Einzelfällen personelle Umbesetzungen im Landgericht Berlin-Moabit zu fordern und durchzusetzen, so zum Beispiel 1927 im Zusammenhang mit dem Prozess um die „Steglitzer Schülertragödie„. In zahlreichen Artikeln wandte er sich außerdem gegen die gängige Eidespraxis der Zeit. Es war üblich, die Zeugen grundsätzlich zu vereidigen – auch in einfachen Prozessen, in denen es um Bagatellstraftaten ging. Die Folge waren zahlreiche Meineidsprozesse gegen Menschen, die sich – überfordert von der Situation in der Verhandlung – zu Falschaussagen hinreißen ließen und diese auch noch beeideten. Ihnen drohten Strafen von ein bis zu zehn Jahren. Schlesingers Berichte führten schließlich zu einer Änderung dieser Praxis und zur Herabsetzung des Strafrahmens. So wurde Schlesinger zum einflussreichsten Gerichtsreporter der 1920er Jahre. Seine Haltung trug ihm den Ruf ein, das „Gewissen von Moabit“ zu sein. Unter dem Titel „Richter und Gerichtete“ erschien schon kurz nach seinem Tod eine Auswahl seiner zwischen 1921 und 1928 erschienenen Reportagen unter seinem bekannten Kürzel Sling. Herausgeber war Robert Kempner, später Ankläger der USA im Nürnberger Prozess gegen die NS-Kriegsverbrecher. Das Vorwort schrieb der frühere Justizminister Gustav Radbruch. Diese und ähnliche Sammlungen mit Arbeiten Slings wurden später auch in der Bundesrepublik und in der DDR aufgelegt. Gerhard Mauz, der bekannte „Spiegel“-Gerichtsreporter, nannte Schlesinger den „einzigen wirklich legendären Gerichtsberichterstatter Deutschlands.“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Der Horror beim Cornflakes-Essen
In den 1970iger Jahren hatten sich in den USA sorgeberechtigte Eltern, deren Kinder von einem nicht sorgeberechtigten Elternteil entführt worden waren, zum „missing children´s movement“ zusammengetan. Sie kritisierten in öffentlichen Stellungnahmen das zögerliche Verhalten der Polizei, die das plötzliche Verschwinden von Kindern in diesem Zusammenhang eher als Ausdruck häuslicher Probleme denn als Kidnapping betrachtete und sich daher mit einem Eingreifen schwer tat. Der Begriff des „child snatching“ wurde geboren. Nach Schätzungen verschwanden in diesem Zusammenhang jährlich hunderttausende von Kindern, die in dem riesigen Land nur schwer wiederauffindbar waren, zumal sie von dem entführenden Elternteil oft unter falschem Namen an neuen Schulen angemeldet wurden. Selbsthilfegruppen von frustrierten Eltern begannen eine Kampagne, bei der sie im ganzen Land Fotos von vermissten Kindern in Schulen verteilen ließen, um „ihre Kinder“ wiederzufinden. Am 25.5.1979 verschwand in Manhattan der 6-jährige Etan Patz auf dem Weg zum Schulbus spurlos. 1981 wurde der ebenfalls 6-jährige Adem Walsh in Florida entführt und später ermordet. Sein Fall diente als Vorbild für den 1983 ausgestrahlten Fernsehfilm „Adem“, den 38 Millionen Zuschauer mit Spannung verfolgten. Am Ende des Films erschienen Fotos vermisster Kinder und eine Not-Telefonnummer. In einer Ausstrahlung aus dem Jahr 1985 ist der damalige Präsident Ronald Reagan zu sehen, der sich mit den Worten „… maybe your eyes can help bring them home“ an das TV-Publikum wendet. Anlässlich des Falles von Etan Patz hatte Reagan erstmals am 25.5.1983 den National Missing Children’s Day ins Leben gerufen. Die medienwirksamen Fälle rüttelten die Gesellschaft auf und befeuerten die Bewegung. Engagierte Rechtsanwälte und Elternvertreter verlangten in den frühen 1980iger Jahren, die Kampagne gegen child snatching auch auf andere vermisste Kinder auszudehnen. Die Organisation „Child Find of America“ und das „National Center for Missing Youth“ leitete die Öffentlichkeitsarbeit und stieß die Milk Carton Compaign an. 1984 fingen einige Molkereien damit an, Suchaufrufe mit Fotos von vermissten Kindern auf ihren Milchkartons abzubilden. Das erste vermisste Kind auf einer solchen Milchpackung war Etan Patz. Von den damals ca. 1800 privaten Molkereien beteiligten sich ca. 700 an den Aktionen. Andere Branchen folgten. Die Suchvermerke und Fotos vermisster Kinder fanden sich bald auch auf Pizzakartons, Einkaufstüten und Werbeträgern. Comichelden/innen, wie z.B. Lois Lane, die Freundin von Superman, verfolgten plötzlich child snatcher und Detektivgeschichten rangten sich um die Entführung von Kindern. Es wurden Notfall-Kits mit den Fingerabdrücken von Kindern mit weiteren Informationen gefertigt, die die Eltern im Vermisstenfall bei der Polizei abgeben konnten. Ab Ende der 1980iger Jahre verschwanden die Kinderfotos schließlich wieder von den Milchkartons, nachdem namhafte Kinderpsychiater – z.B. Benjamin Spock und T. Berry Brazelton – vor Hysterie warnten. Die Kinder würden schon beim Frühstücken von Cornflakes am Morgen unnötig verängstigt. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Gib mir mein Schäufelchen zurück, oder ich mach dich kalt!
Zunächst einmal die gute Nachricht: Das Gewehr war nicht gestohlen oder heimlich aus dem Waffenschrank des Vaters entliehen. Nein, es war sein eigenes Kinder-Gewehr, mit dem ein 5-jähriger in Kentucky seine 2-jährige Schwester erschoss. Ich habe selbst zwei „kleinere“ Schwestern, und der Junge wird seine Gründe gehabt haben. Auf der anderen Seite, wohin soll das führen, wenn bereits kleine Kinder mit scharfen Waffen hantieren? Der Waffenhersteller Keystone wirbt für sein lustiges Kindergewehr „Cricket“ (Grille) mit dem Slogan „Qualitätswaffen für Amerikas Jugend“ und hat dazu eine eigene Theorie: Die Kindergewehre sollen die Kleinen zum verantwortungsvollen Umgang mit Waffen animieren. Es geht also um Pädagogik, und in der Pädagogik – wer wüsste das nicht – kann auch schon mal was schieflaufen. So z.B. als vor drei Wochen zwei Kleinkinder kurz hintereinander etwas übereifrig zwei Personen töteten. In New Jersey erschoss ein Vierjähriger mit einem Gewehr einen Sechsjährigen. In Tennessee tötete ein ebenfalls Vierjähriger mit einer Pistole eine 48-Jährige. Nun ja, man kann Keystone nur Recht geben. Der verantwortungsvolle Umgang mit Waffen muss halt geübt werden – je früher, desto besser! Wenn nach amerikanischer Auffassung eine Entwaffnung der Kleinen indiskutabel ist, bleibt aus pädagogischen Gründen und zum Selbstschutz wohl nur die häusliche Aufrüstung, und ich kann es mir vorstellen: Vater, Mutter und die lieben Kleinen – ein dicker 5-jähriger, der über alles Cheeseburger liebt, und das kleine Schwesterchen mit schon 8 Milchzähnen und einem dürren blonden Zopf – sitzen am Frühstückstisch. Jeder hat eine Schüssel Cornflakes und ein Glas Orangensaft vor sich. Die Eltern natürlich größere Schüsseln, und neben allen Schüsseln und Schüsselchen liegen griffbereit die geladenen Knarren. Größere für die Eltern und kleine, niedliche für die Kinder. Eine rosa Pistole für das Mädchen und eine mit Hero-Man-Abbildung versehene für den Jungen, alle geladen mit 5,6 mm – Patronen, wie sie der 5-jährige aus dem zitierten NZZ-Bericht benutzt hatte, um seine Schwester zu töten. Kein böses Wort fällt am Frühstückstisch, aber ein kleiner Konflikt bahnt sich an, als das Mädchen schon wieder ihr volles Glas versehentlich umkippt und der gelbe Saft langsam und unaufhaltsam über den polierten Tisch fließt, an der Cornflakespackung vorbei in Richtung des dicken Bruders, der dem kleinen Tisch-Fluss mit gerunzelter Stirn und trotzigen Augen entgegenblickt – wie er langsam auf ihn zukriecht und die ersten Tropfen des klebrigen Safts über die Tischkante fallen – auf seine neue, frische Lieblingsjeans. Im Hintergrund tickt laut die uralte Wanduhr, ein Erbstück aus längst vergangenen Tagen, während nun alle Familienmitglieder dem Rinnsal gespannt mit den Augen folgen. Nahezu zeitgleich werden die bunten Plastiklöffel ohne das leiseste Klacken beiseite gelegt, und die jeweils rechten Hände der Protagonisten bewegen sich mit der Geschwindigkeit des saftigen Rinnsals vorsichtig zu ihren entsicherten Pistolen. Wie es der Zufall will, erklingt leise ein altbekanntes Stück von Ennio Morricone aus dem Radio, als der Junge endlich aufspringt, aber es ist kein richtiges Springen, mehr so ein Hochwabbeln eines kleinen Zwergnilpferdes, das sich aus trübem Wasser erhebt. Jedenfalls zu langsam. Als er von seiner durchnässten Jeans wütend hochschaut, blickt er in die Mündung dreier Waffen und hebt vorsichtig seine dicken Ärmchen. Es ist vorbei, und die Mutter rettet die Situation, indem sie entschlossenen Schrittes auf ihren Sohn zugeht, vor ihm niederkniet und das bereits in den Stoff eingezogene Nass wenigstens symbolisch mit einer Serviette von seiner Hose tupft. Dann nimmt sie ihn tröstend in den Arm und zaubert mit einer geflüsterten Bemerkung ein alles vergessendes Lächeln in das Gesicht ihres Sprösslings: „Mein armer Schatz, das trocknet in wenigen Minuten, und weil du so tapfer warst, bekommst du gleich 5 Extra-Dollar für 5 Extra-Cheeseburger. Aber verrate es nicht deiner dusseligen Schwester!“ Dabei schaut sie ihn liebevoll an und zwinkert ihm mütterlich zu, während der Vater zwischenzeitlich der kleinen Schwester spielerisch die pinke Pistole entwindet und dabei sagt: „Liebling, für heute hast du schon genug Saft verschüttet, findest du nicht?“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Das Tagebuch eines Gestörten
Am Rande medienwirksamer Prozesse trifft man oftmals auf merkwürdige Menschen, die mit dem jeweiligen Prozess eigentlich nichts zu tun haben, sich aber doch daran ergötzen. Keiner soll glauben, es gehe diesen Menschen um Prozessbeobachtung oder Mitgefühl für die Opfer oder Täter. Es geht ihnen ausschließlich um die geeignete Szenerie, um die kleine Bühne, auf der sie ihr kleines Flämmchen züngeln lassen. Eine besondere Art der Öffentlichkeit eben. So erhalten Verteidiger, Staatsanwälte und Richter Post oder per Email oder bei abgepasster Gelegenheit auf dem Gerichtsflur zugeraunzte Tipps und Ratschläge – wenn man Glück hat – und Beschimpfungen und Häme – wenn man Pech hat. So ist das, und man hat gelernt, damit umzugehen. Eine ganz besondere Lichtgestalt aber verfolgt mich nunmehr seit Wochen. Nachdem ein von mir verteidigter Einzeltäter wegen des Mordes an einem kleinen Kind rechtskräftig verurteilt worden war, erhielt ich eine erste Email, in welcher der Absender behauptete, bei der Tat dabei gewesen zu sein. Ob ich ihn gegebenenfalls wegen seines Tatbeitrages an dem Mord verteidigen könne, fragte er freundlich an und ließ durchblicken, er kenne den Mörder seit seiner Kindheit und habe interessante Informationen für mich, die Licht ins Dunkle bringen könnten. Da der Fall für mich letztlich viele Fragen offen gelassen hatte, schrieb ich zurück, ich könne ihn zwar nicht vertreten und schreibe auch nicht in der Eigenschaft eines Anwalts, sondern interessiere mich nur privat für alles Erhellende. Wolle er sich mit mir treffen, unterläge ich nicht der anwaltlichen Schweigepflicht. In weiteren Mails erfuhr ich, dass er mit einem Kumpel aus Ostdeutschland anreisen wolle, und da ich im Zusammenhang mit der Verteidigung des Kindermörders deutliche Drohungen aus rechtsradikalen Kreisen bekommen hatte, ging ich vor dem vereinbarten Treffen in unserer Kanzlei auf Nummer sicher. Für den Fall einer gewalttätigen Eskalation hatte ich Schutzmaßnahmen getroffen und mir ein paar Bodyguards organisiert. Als zwei milchbubihafte Hänflinge eintraten und sich vorstellten, verzogen die Bodyguards ihre grimmigen Mienen in mitleidiges Schmunzeln, das wohl auch mir gelten sollte. „Vor solchen Typen hast du Angst?“, sagten ihre Blicke. Um sich den Spaß aber nicht ganz verleiden zu lassen, unterzogen sie die beiden Gäste noch einer kurzen, freiwilligen Leibesvisitation, winkten ab, und ich entließ sie mit einem Achselzucken, das bedeuten sollte – „man kann ja nie wissen…“. Was ich dann in der nächsten Stunde von meinem neuen Informanten zu hören bekam, übertraf alle Erwartungen an vorstellbarem Schwachsinn. Er referierte all das, was man seit Monaten in den Zeitungen zu dem Fall hatte lesen können, gemischt mit ein paar Schwänken aus den angeblichen gemeinsamen Kindertagen mit dem verurteilten Mörder. Zum guten Schluss fragte ich ihn, ob er etwas gegen mich habe oder warum er mir meine kostbare Zeit stehle, in der ich mir eine Folge der „Simpsons“ hätte ansehen können. Das hätte wenigsten einen gewissen Unterhaltungswert gehabt. Das Gespräch hier aber sei quälend. Ob er schon mal daran gedacht habe, sich in psychologische Behandlung zu begeben, fragte ich ernsthaft. Die beiden Hänflinge sahen mich wie zwei aus dem Wasser gehobene Goldfische an. Dann erhob sich der eigentliche Informant und verließ beleidigt das Zimmer, während sein Begleiter noch einen Moment nachdenklich sitzen blieb und sagte: „Ich bin froh, dass sie das mit der psychologischen Behandlung gesagt haben. Ich rate ihm seit Monaten dazu, aber auf mich hört er ja nicht!“ Er verabschiedete sich schließlich mit einer gemurmelten Entschuldigung, und ich sah die beiden nie wieder. Weit gefehlt, wenn man denkt, die Angelegenheit wäre damit abgeschlossen. Seither schreibt mir der Informant täglich 5 bis 17 WhatsApp-Nachrichten oder – wenn´s mal ausführlicher sein soll – ellenlange Mails. Er lässt sich auch nicht davon abschrecken, dass ich grundsätzlich nie antworte, sondern schreibt fleißig und beständig weiter. Ging es dabei anfänglich noch um seine angebliche Tatbeteiligung, bin ich jetzt offenbar zu seinem Tagebuch verkommen. Aus dem angemessen „Sie“ und „Herr Meister“ ist inzwischen ein vertrauliches „du“ oder „dir“ geworden, wenn er mir von seinem neuesten Liebeskummer, der Krankheit der Mutter, der frustrierenden Jobsuche und seiner in Etappen aufgearbeiteten Lebensgeschichte erzählt. Zwischendurch werde ich mit Berichten über interessante Prozesse mit dazugehörenden Links gefüttert oder erfahre, dass er beabsichtigt, sich wissenschaftlich mit der Entstehung von Kriminalität zu befassen. Jeden Morgen wünscht er mir einen erfolgreichen Tag, und jeden Abend angenehme Träume. Bei so viel Freundlichkeit fällt es mir natürlich schwer, den armen Kerl aus meiner WhatsApp-Liste zu streichen oder seine Mails als Junk zu kennzeichnen. Schließlich muss ich den Kram ja nicht lesen, und vielleicht helfe ich ihm ja als Tagebuch, seine Probleme in den Griff zu bekommen. Was diesen Menschen reitet, würde mich allerdings am Rande doch interessieren. Vielleicht bekomme ich demnächst noch einen Heiratsantrag von ihm, wer weiß? Fest steht, dass ich darauf ebenfalls nicht antworten werde, und so besteht die Hoffnung, dass er irgendwann von alleine aufgibt und ich nicht grob werden muss. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Du darfst (d)ein Kind nicht schütteln!
Für alles braucht man heute einen Schein: Führerschein, Segelschein, Angelschein, Schweißschein, Surfschein … Selbst Heilige und andere Gute – sie brauchen einen Schein! Der Prozess, den ich zurzeit vor einer Schwurgerichtskammer verhandele, verschlägt allerdings selbst hartgesottenen Strafrechtlern den Satiregeist. Heute, nach dem zweiten Verhandlungstag, in dem behandelnde Ärzte und der Gerichtsmediziner gehört wurden, verließ ich mit meinem Jurapraktikanten Christoph den Gerichtssaal. Mit einer Zigarette verabschiedeten wir uns in meinem Büro ins Wochenende. Ich hatte das Gefühl, dass Christoph genauso nachdenklich und betroffen war wie ich. Wir überlegten, ob es nicht einen Führerschein für werdende Eltern geben müsste. Vielleicht keinen Schein mit Prüfung, aber wenigstens eine umfangreiche Einweisung darin, wie man mit einem kostbaren, neuen Leben umzugehen hat, worin die Gefahren für das Kind und einen selbst liegen und was auf gar keinen Fall passieren darf. „Passieren“? So, als ob das Schicksal wie eine Flut über einen hineinbricht? „Es ist ein Unfall passiert! Ein Ungeschick!“ Mit einem Surfboard auf einer wunderschönen, gigantischen Lebenswelle gleitend. Ich bin stolzer Vater. Zu hoch. In einem überlappenden Tunnel aus kristallklarem, rauschendem Wasser und plötzlich – bei rasanter Fahrt – die verzweifelte Erkenntnis: Ich kann gar nicht surfen. Eine erschrockene, unbeherrschte Gewichtsverlagerung, und das Schicksalsbrett kippt und reißt alles in einem vernichtenden Strudel mit sich in die Tiefe. Benommen schaut er sich um. Und neben ihm liegt sein kleiner Sohn, und daneben liegt die Frau, die er liebt – die nie verzeihende Mutter – auf dem harten, sandigen Meeresboden. So ist es nicht! Bei weitem nicht! Und vielleicht doch? Der Angeklagte, ein junger, mir sympathischer Mann. Ein gebrochener junger Mann, der mit 24 Jahren alle gesellschaftliche Sympathie verspielt hat. Für den in der Untersuchungshaft „Einzelduschen“ angeordnet ist. Der in eine andere Haftanstalt verlegt wurde, weil er ansonsten von den Mitgefangenen als Kinderschänder verprügelt worden wäre. Der aus gleichem Grunde seinen einstündigen Hofgang alleine macht. Er umkreist den Gefangenenhof. Schritt für Schritt im Kreise, eine Stunde lang, bis er für die restlichen 23 Stunden in seine karge Einzelzelle geführt wird. Er atmet die kalte Luft, aber er spürt sie nicht. Er denkt an seinen jetzt 8-monatigen Sohn und hofft. Er hofft, dass sein Sohn es schafft, dass er überlebt, dass alles irgendwie gut wird, und er weiß, dass nichts mehr gut wird. Aber, ist es nicht ein gutes Zeichen, dass der Kleine nicht mehr krampft? Dass er anscheinend doch hören und vielleicht wird sehen können? Dass er irgendwann wird gehen und reden können? Sein Sohn, auf den er so stolz war. Er hat versagt, und was kann er jetzt noch tun – für seinen Sohn, für die Mutter? Was? Er denkt wieder daran, sich das Leben zu nehmen. Schon zweimal hat er es in der Haft probiert. Er schafft es nicht. Alles würde er dafür tun, es rückgängig zu machen. Alles. Aber die Zeit kann man nicht zurückdrehen. Er lernte Maria während seines Zivildienstes kennen. Sie absolvierte ein freiwilliges soziales Jahr, und gemeinsam besuchten sie einen Kurs für Zivis, lernten sich kennen, liebten sich, und eines Tages war Maria schwanger. Beide waren verunsichert, und sie freuten sich. Sie zogen zusammen. Zunächst in eine miese Bruchbude in einer miesen Gegend. Schon bald fand er einen Job als Lagerarbeiter. Dem Kleinen zu Liebe zogen sie in eine bessere Wohnung. Sie waren glücklich, obwohl das Geld vorne und hinten nicht reichte. Aber bei wem reicht es schon in so jungen Jahren, wenn man eine Familie gründet? Sie waren überzeugt, es zu schaffen. Maria widmete sich liebevoll dem Säugling. Er gab sich alle Mühe, es ihr gleich zu tun, aber manchmal fühlte er sich überfordert. Er fand nicht den gleichen Zugang zu dem Kleinen wie Maria. Oft war er nach der langen Arbeit müde. Vielleicht fühlte er sich zuweilen auch zurückgesetzt. Er liebte den Kleinen, und eines Tages würde der Kleine auch ihn lieben. Maria fand einen Wochenendjob. Für einige Stunden wollte sie etwas dazuverdienen und mal rauskommen aus diesem anstrengenden Mutterdasein. Er blieb mit dem Kleinen zu Hause und Maria glaubte, es sei gut für die Beiden. Sie sollten lernen wenigstens ein paar Stunden alleine zurechtzukommen. Jede Stunde rief sie ihn an oder schrieb eine Whatsapp und erkundigte sich, wie es den beiden ging. Manchmal klappte es tadellos, aber oft bekam sie zu hören, dass der Kleine sich nicht beruhigen lasse. Er habe alles versucht. Ob er schon wieder Hunger habe? Ob es an den Blähungen liegen könnte? Warum schrie der Kleine fortwährend? Warum bekam er das nicht so hin wie die Mutter? Er hatte ihn auf den Arm genommen, war mit ihm Spazieren gefahren, hatte ihn gewiegt und gewickelt. Hatte Faxen gemacht, um den Kleinen abzulenken. Nichts hatte funktioniert. Der Säugling schrie und schrie. War es eine aus Verzweiflung geborene Wut, die ihn eines Tages dazu brachte, den Kleinen zu schütteln? Danach war der Kleine endlich eingeschlafen. Hatte er schon da ein schlechtes Gewissen oder nur das Gefühl ein Versager zu sein? Kann man verstehen, dass einem Elternteil die Sicherung durchbrennt, dass einem die Hand ausrutscht, dass ein Damm bricht und einen die Wut wegspült? Und was für Kräfte müssen gegen diesen Damm gedrückt haben, oder wie dünn müssen dessen Wände gewesen sein, dass so etwas „passiert“? Und dass es danach an verschiedenen Wochenenden noch mindestens fünfmal passierte, bis – beim letzten Male – der Kleine die Augen verdrehte und er endlich merkte, dass man die Zeit tatsächlich nicht zurückdrehen kann. Kann man das verstehen? Der Kleine lag in seinen Armen wie ein halbvoll mit Wasser gefüllter Beutel. Er atmete nicht mehr, dann ein einzelnes Röcheln, eine Stoßatmung, dann nichts mehr. Panik überfiel den Vater. Tränen rannen ihm aus den Augen. Er sah wie sich das kleine Gesichtchen weiß und die kleinen Lippen blau färbten. Mit dem leblosen Bündel im Arm rannte er zur Nachbarswohnung, klingelte Sturm, und zum Glück waren die Nachbarn da. Sie nahmen ihm das Kind ab, unternahmen laienhafte Reanimationsmaßnahmen und alarmierten den Rettungswagen, der in wenigen Minuten vor Ort war. Sie brachten den Kleinen lebend in die Klinik, wo sich die Ärzte sofort daran
Wir sind auf der Seite der Bösen!
Vorab – Ich habe das Rauchen aufgegeben und dennoch: Wir sind auf der Seite des Bösen. Es ist 19.30h. Wir sind alleine in der Kanzlei und sitzen gemütlich in meinem Büro. Ich rauche eine Zigarette nach der anderen und Sozius Rainer raucht mit – wohl oder übel. Aber er hält sich tapfer. Kein Wort über die Gesundheitsschäden beim Passivrauchen. Ich stecke mir noch eine an, und er verzieht keine Miene. Wir diskutieren über diesen Eduard – kurz Ed genannt, die arme Sau, die gerade durchs mediale Dorf getrieben wird und überlegen, wer denn jetzt der eigentliche Böse ist. Ich vertrete die Auffassung, dass dieser Herr Dati wahrscheinlich schon ein schräger Vogel ist. Ich meine, wer kauft schon Bilder von 14-jährigen Jungs, die in Unterhosen irgendwo in Rumänien rumplanschen? Auf der anderen Seite Caravaggio, das perverse Schwein. Und so etwas hängt im Museum. Aber weder Ed Dati noch Caravaggio haben offenbar gegen Strafgesetzte verstoßen, können also nicht wirklich böse sein, jedenfalls nicht böse genug? Nun, der Ed war´s also nicht! Und der Caravaggio ist längst tot – recht so! Vielleicht der Staatsanwalt, der Ed durch eine kleine, öffentlich gewordene Ermittlung geradezu geschächtet hat, was ja in Deutschland verboten ist. Oder könnte man ihn wegen Verfolgung Unschuldiger drankriegen? Oder den Ermittlungsrichter, der den rechtswidrigen Durchsuchungsbeschluss ohne begründbaren Anfangsverdacht erlassen hat, wegen Rechtsbeugung. Die haben wenigsten gegen Gesetzte verstoßen? Das wäre doch mal ne Nummer! Mittlerweile ist die Luft in meinem Büro so verqualmt, dass ich Kopfschmerzen bekomme, und obwohl Rainer immer noch munter argumentiert, strecke ich das Handtuch. Der Kerl ist anscheinend unverwüstlich. Irgendwann in nicht allzu weiter Zukunft kommt eine Studie heraus, dass Passivrauchen gesund ist. Wollen wir wetten? Durch ein unübersehbares Gähnen täusche ich Müdigkeit vor und verabschiede mich in den wohlverdienten Feierabend. Die paar Schritte zu meinem Auto werden mir gut tun, sage ich. Er schaut mich durch den Nebel an, und sein Blick sagt: Schade, gerade wo es spannend wird und wir auf der Spur der Bösen sind, haust du ab! Ich zucke entschuldigend die Schultern und höre noch, wie er mir freundschaftlich das Wort „Verräter“ nachruft, dann schließt sich die Bürotür, und ich trete hinaus in die kalte Abendluft. Kurz vor der Autobahnauffahrt schalte ich das Radio ein. WDR 2 – eine Talkrunde mit zugeschalten Hörern. Und wieder geht es um Ed und den sexuellen Missbrauch an Kindern. Ich frage mich, warum alle Medien und das Volk so geil auf Kinder sind, korrigiere den Gedanken in „warum sind alle so geil auf das Thema sexueller Missbrauch von Kindern“, und spüre plötzlich einsetzend einen stechenden Schmerz im vorderen Frontallappen meines Hirns, da wo das freudsche „Überich“ sitzen soll, das böse Gewissen, das aufgesprungen ist und wie ein Embryo im Mutterleib um sich tritt und schrill gegen das Wortpaar „geil“ und „Kinder“ anschreit. Ich korrigiere meine geistige Wortwahl und frage mich, „warum sind alle, die sich bei nicht sexualbezogenen, himmelschreienden Ungerechtigkeiten gegen Kinder desinteressiert zeigen, so fasziniert von diesem Thema? Gibt es da eine interessante Spur zu einem undefinierten, gesellschaftlichen Bösen? Ich höre weiter zu, wie die Hörer, einer nach dem anderen, sich empören über diesen Ed. Sie spekulieren und fantasieren: Also, selbst wenn er sich nicht strafbar gemacht hat, könnte es doch sein, dass er darüber nachgedacht hat, sich strafbar zu machen. Und wer darüber nachdenkt, den könnte man doch präventiv bestrafen. Man hätte etwas finden können auf einer vielleicht versteckten Festplatte, und dass es egal sei, ob er sich schon oder erst später strafbar gemacht hat bzw. hätte. Dass die Gesetze verschärft werden müssen, damit er sich strafbar machen würde, egal was er getan oder gedacht hat. Schließlich gehe es um die Würde der badenden Kinder und da gibt´s nichts zu denken und rumzulamentieren. Wer solche Bilder kauft, unterstützt den Markt und fördert die sexuelle Ausbeutung. Ein Rechtsexperte der Freien Deutschen Populisten kommt zu Wort, ein gewisser Herr Icki. Und der Mann hat Recht! Nicht die Gesetzte müssen verschärft werden – sie müssen nur von den weicheiigen Richtern richtig ausgefüllt werden. §184 b, Abs. 3 StGB: Bis zu 10 Jahren! Und man müsse darüber nachdenken, dass auch nicht strafbare Bilder von Kindern unter Strafe gestellt werden müssen, z.B. wegen der Verletzung ihres Rechts am eigenen Bild. Der Kub hat eindeutig den Nagel auf den Kopf getroffen. Das finde ich richtig! Nicht immer Gesetzte verschärfen, sondern neue Gesetzte dazubasteln. Auf der anderen Seite, was ist dann mit diesen Eltern, die ihre Kinder für Modeshows casten lassen? Mmh? Und was wäre dann mit diesen Talentshows, wo der Dieter auch die Kleinen vor der Kamera auftreten lässt wie kleine Tanzbären? Müsste der Bohlen dann auch bestraft werden? Ein charmanter Gedanke. Der gehört sowieso wegen akustischer Grausamkeit schon lange weggesperrt. Am besten zusammen mit dem Anders in eine Zelle. Cherry, Cherry … Verdammt, jetzt hab ich mir den Ohrwurm gefangen. Der Gedanke „Wegsperren für immer!“ leuchtet plötzlich auf und erlöst mich von dem Schmerz. Aber halt, wir sind doch auf der Seite der Bösen, verdammt! Dann müssten wir doch gerade den Bohlen verteidigen? Nee, lass mal stecken. Prinzipien sind dafür da, gebrochen zu werden. Wir stehen auf der Seite der Ein- und Regelbrecher! Der Bohlen bleibt drin. Basta! Zuhause angekommen überlege ich, dass mir ein wenig Sport guttun könnte. Wo waren noch gleich die Sportklamotten? Ich durchwühle den Kleiderschrank und siehe da: Ganz oben in der hintersten Ecke finde ich die alte, ausgebeulte Jogginghose und …. drei nagelneue, noch in Folie eingeschweißte T-Shirts. Volltreffer! Ich steige vom Stuhl herunter und wende die knisternde Verpackung in meinen Händen. Das Etikett ist kaum noch zu lesen, aber mit einiger Mühe erkenne ich, dass es von der Firma Kik (?) nee, von Schik (?) ist und schon ein €-Preisschild trägt. Drei T-Shirts für 5 €. Heute würden die bestimmt schon 6 € kosten. Ich reiße die Verpackung auf und schnuppere an den Shirts. Wahrscheinlich Einbildung, aber riechen die nicht irgendwie nach … (?) … Kinderschweiß? Ganz eindeutig! Die riechen nach Kinderschweiß. Ich sehe förmlich die kleinen Kinderhände, die die Shirts bei 40 Grad
Strafen macht Spaß!
Dass Sozialdemokraten und Grüne – sobald sie denn mal an der Macht sind – gerne reglementieren und bestrafen und damit ihren „rechten Kollegen“ in nichts nachstehen, ja, diese sogar gerne vorschriftswidrig rechts überholen, ist bekannt. Dem Stammtisch gefällt es. Strafen macht eben allen Spaß, nicht nur den Sozis und Ökos. Wer Macht hat straft, wer straft hat Macht. Und wer selber keine Macht hat, sieht halt gerne zu, wenn bestraft wird. Man ist dann so schön moralisch erhöht, mit der wunderbaren Perspektive von oben. Die hoffentlich bald Bestraften wirken da unten so klein, und man selbst wirkt irgendwie größer – auch wenn man nur auf seinem Stammhocker sitzt. Immerhin, ein geiles Gefühl, und nicht mal aufstehen muss man dafür. Und deswegen macht mich die Begründung zu Heiko Maasens Gesetzentwurf gegen Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch so hoffnungsfroh! Es geht gar nicht alleine um Kinderpornografie und Missbrauch. Das ist ja – glaube ich – schon strafbar. Nein, vielmehr soll noch verboten und bestraft werden. Der Heiko macht´s halt richtig, denn der hat ja jetzt Macht. Genau richtig: Künftig soll derjenige bestraft werden, der „unbefugt eine bloßstellende Bildaufnahme von einer anderen Person“ herstellt oder überträgt. Unter bloßstellenden Bildaufnahmen „versteht man solche, die die abgebildete Person in peinlichen oder entwürdigenden Situationen oder in einem solchen Zustand zeigen.“ Als Beispiele soll die Begründung Aufnahmen von „betrunkenen Personen auf dem Heimweg“ oder „Opfer einer Gewalttat, die verletzt und blutend auf dem Boden liegen“ genannt sein. Nach einem Bericht der taz soll daher bestraft werden , wenn „angenommen werden kann, dass üblicherweise ein Interesse daran besteht, dass Bildaufnahmen nicht hergestellt, übertragen oder Dritten zugänglich gemacht werden.“ Dabei soll es nicht darauf ankommen, dass die Fotos heimlich oder gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen aufgenommen werden. Neben bloßstellenden Fotos sollen auch alle unbefugten „Bildaufnahmen von einer anderen unbekleideten Person“ strafbar sein. Damit sind nicht nur Kinder, sondern auch nackte Erwachsene gemeint. Auf gewerbsmäßigen Handel soll es nicht ankommen, damit auch das Tauschen der Bilder in Internet-Foren strafbar ist. „Strafbar“ sollte das Wort des Jahres werden. Das geht ein wie Öl. Auf einen Schlag so viele Möglichkeiten zu bestrafen. Warum ist man nicht früher darauf gekommen? Weg mit den fiesen Kriegsreportagen und Tsunamibildern, diese ganze pessimistische Katastrophenscheiße. Weg mit den Pornos, den Pinup-girls in den Boulevardmagazinen und Werkstattspinden. Weg mit Fotos von diesen barbusigen Femenamazonen, Kleinkindern auf Töpfchen, Germanys Next Topmodel, dem FKK-Bild von der Angela und diese ganzen Peinlichkeiten. Ihnen fällt doch bestimmt auch ne Menge ein, was nackt, ekelhaft und unwürdig überall in den Medien und Netzwerken an Bildmaterial anzutreffen ist? Wie, Sie finden Germanys Next Topmodel nicht peinlich? Mmh, und die Castingshows auch nicht? Aber bestimmt doch den bei einer Parade stolpernden Politiker oder die Interviewaufnahmen, wenn der sich so richtig verhaspelt? Oder so ein niedergeknüppelter Demonstrant, der blutend auf der Erde liegt? Oder dieser Möchtegern Islamist Pierre Vogel mit seinem komischen Nachthemd und dem Scheiß, den der öffentlich von sich gibt? Stellen Sie sich mal vor, der wacht irgendwann in 20 Jahren auf und sieht seine eigenen Interviews. Alleine das wäre doch schon eine Strafe. Nein? Sie finden die Facebook-Fotos ihres betrunkenen Nachbarn von seiner letzten viel zu lauten Grillparty peinlich und seinen fetten, nackten Schwabbelbauch, der nur unzureichend von der vorgehaltenen Grillgabel bedeckt ist? Ach, und das Foto von seiner 14-jährigen Tochter? Ja, wenn man genau hinguckt, erkenne ich auch, dass der Minirock hochgerutscht ist und man ein bisschen was von dem Höschen sieht. Grausam, diese dicken Schenkel – geradezu obszön, was die da für nackte Stempel zeigt! Und das Foto auf meiner Homepage, wo ich so saublöd aus der Wäsche gucke? Verdammt, wer das veröffentlicht hat, gehört definitiv bestraft. Da gebe ich Ihnen Recht. Können wir uns denn wenigstens darauf einigen, dass dieser Heiko Maas auf seinen Fotos immer ziemlich betrunken dreinblickt, auch wenn er noch nicht auf dem Boden kriecht. Ach so, sie sind SPD-Mitglied. Schade. Ja, vielleicht ist der Gesetzentwurf noch nicht ganz ausgereift. Wir müssten irgendwie definieren, was wirklich peinlich ist und woran man erkennt, „dass üblicherweise ein Interesse daran besteht, dass Bildaufnahmen nicht hergestellt, übertragen oder Dritten zugänglich gemacht werden.“ Irgendwie müssen wir uns ja einigen. Ich habe da so eine Idee. Wir könnten doch so ein Komitee bilden. So eine Art revolutionärer oder moralischer Wächterrat, der aufpasst, was so an Bildmaterial gefertigt und veröffentlicht wird. Doch, doch, so was gab´s schon mal. Ich hab da mal was von gelesen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach