Richter Bohnen: „Als junger Richter war ich ein richtiges Arschloch!“

Vor einigen Tagen traf ich ihn wieder. Die Hauptverhandlung sollte um 9 Uhr beginnen. Um 9.05 h fand ich endlich in einer Seitenstraße einen Parkplatz. Vom Beifahrersitz klaubte ich Portemonnaie, Handy, Tabak und Feuerzeug und steckte alles umständlich in meine Jackentaschen. Aus dem Kofferraum nahm ich Robe und Akte, schloss den Wagen ab und hatte schon den ignorierten Parkautomaten ganz am Ende der Straße passiert, als mir einfiel, dass ich meine Waffen vergessen hatte. Also rannte ich zum Wagen zurück, um meine Brille und einen Kugelschreiber aus dem Türfach zu holen. Da stand er plötzlich mit einem überraschten Gesichtsausdruck vor mir, weil ich ihn in meiner Hektik beinahe umgelaufen hätte. „Guten Tag, Herr Meister! Was bin ich froh, dass ich diese Hetzerei hinter mir gelassen habe!“, sagte er und schüttelte mir fest die Hand. „Richter Bohnen! Das ist aber schön, sie mal nach all den Jahren wieder zu sehen. Ich habe in den letzten Jahren immer mal wieder an Sie gedacht! Wie geht es Ihnen ohne die Justiz? Die Pensionierung scheint Ihnen gut zu tun!“ „Immer noch der alte Schmeichler, unser Herr Meister! Aber jetzt, wo Sie mir keinen 153a mehr abluchsen können, darf ich das wohl als Kompliment auffassen.“, dabei lächelte er mich mit diesem einmaligen, verschmitzten Richter-Bohnen-Lächeln an, dass mir warm ums Herz wurde. Das Alter hatte ihn leicht gebeugt, aber er schien immer noch der Alte zu sein. „Um ehrlich zu sein, wenn einer behauptet, das Alter sei eine schöne Zeit, der lügt. Und mit Lügen kenne ich mich ja aus, wie Sie wissen! Nein, das Alter ist kein Zuckerschlecken!  Ich schlage mich so durch und mache gute Miene zu den fortschreitenden Zerfallserscheinungen. Wenn ich  eines Morgens aufwache und nichts tut mehr weh, dann bin ich tot. Aber ich bin sicher, sie spüren auch schon das eine oder andere Zipperlein!?“, sagte er – wieder mit diesem frechen Grinsen im Gesicht. Ich legte meine Robe und Akte auf einem angrenzenden Mäuerchen ab. „Erzählen Sie, was machen Sie denn so den ganzen Tag mit ihrer vielen Freizeit? Bei Ihnen bin ich mir fast sicher, dass Sie vor lauter Hobbys nicht einmal Zeit finden, zum Friseur zu gehen.“ Der Richter gluckste und schlug mir freundschaftlich auf den Arm. „Wie immer, ganz schön respektlos. Sie haben Recht. Zum Friseur müsste ich tatsächlich mal wieder. Aber wen sollte das heute noch interessieren?“, sagte er munter und strich sich dabei durch sein dünner gewordenes, weißes Haar. „Ich fotografiere viel und gut– vor allem viel. Meine Kinder haben mir so eine neumodische Digitalkamera gekauft. Letzten Monat war ich in Berlin und habe alles fotografiert, was mir vor die Linse kam. Alleine vom Reichstag habe ich bestimmt tausend Fotos gemacht, die sich nie einer ansehen wird. Ich meine, wer sollte sich dafür interessieren? Meine Kinder bestimmt nicht. Die machen Fotos von ihren Kindern. Das ist interessant! 1000 Fotos. Verrückt!“, dabei tippte er sich an den Kopf. „Mmmh, warum suchen Sie sich nicht die besten Fotos daraus zusammen und machen eine Ausstellung? Ich würde kommen, wenn Sie mich einladen!“ „Naja, ich denke darüber nach. Genug Zeit zum Denken habe ich ja jetzt!“, sagte er wieder mit diesem ironischen Unterton. „Ich werde nie unsere kleine Unterhaltung vergessen, die wir vor vielen Jahren einmal in der Kantine geführt haben.“, sagte ich. „Ich war damals noch ganz frisch und hatte wahrscheinlich von Nichts eine Ahnung! Wir kamen aus einer gemeinsamen Verhandlung – hatten uns, glaube ich, ein wenig in den Haaren gehabt – und ich stand hinter Ihnen an der Kasse. Da haben Sie sich zu mir umgedreht und gesagt: Damals, als junger Richter, war ich ein richtiges Arschloch!“. Richter Bohnen lachte in gespielter Empörung auf. „Das soll ich gesagt haben?“, prustete er los. „Ja, genau das waren Ihre Worte. Das „Arschloch“ haben Sie mir allerdings ganz leise ins Ohr geflüstert, weil hinter uns noch Leute in der Schlange standen. Sie luden mich zu einem Kaffee ein und wir haben uns an einen etwas abseits gelegenen Tisch gesetzt. Und da erzählten Sie mir, dass Sie aus einem spießen Elternhaus kamen und mit der 60iger Bewegung nichts hätten anfangen konnten. Sie hätten all diese Hippies und etwa die grausame Musik der Rolling Stones als junger Mann einfach nicht verstanden. Selbst diese braven Beatles wären Ihnen verdächtig vorgekommen. In den 70igern wären Sie dann ein tumber, konservativer und gnadenloser Richter geworden, der es nicht geschafft habe, über den Tellerrand zu schauen – und dass Sie sich im Nachhinein heute noch dafür ohrfeigen könnten. Das haben Sie mir erzählt, und dann haben Sie mich genauso wie jetzt angeschaut und gesagt: ´Ich will Ihrem Mandanten doch gar nichts! Er soll nur aufhören so dumm zu lügen!` Und wissen Sie was? Für diese schonungslose, offene Selbstkritik bewundere ich Sie bis heute. Das hat mich damals schwer beeindruckt! Ich meine, fehlende Selbstkritik ist ja geradezu eine Berufskrankheit von z.B. Richtern und Lehrern, die es gewohnt sind, immer das letzte Wort zu haben!“. Richter Bohnen schaute mich belustigt an. „Ja, so kann es gewesen sein!“ Er gab mir die Hand und sagte: „Erinnern Sie sich auch noch daran, wie sehr ich Unpünktlichkeit immer gehasst habe? Ich glaube, Sie waren doch nicht grundlos so in Eile?!“. Ich schaute auf meine Uhr. „Verdammt! Zwanzig nach! Ich muss los!“ Ich nahm meine Ausrüstung vom Mäuerchen und drückte seinen Arm. „Ich hoffe, wir finden bald noch einmal die Gelegenheit, einen Kaffee zusammen zu trinken! Und vergessen Sie nicht, mich zu Ihrer Ausstellung einzuladen!“. Dann rannte ich los. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

An Tagen wie diesen. Ein Rechtsanwalt dreht durch!

I. Der Videoclip Strathmann fühlte sich, als sei er den Nachmittag über in einer Höhle angekettet gewesen. Er wusste, es war eine Illusion, aber sie war verdammt real und sie verdichtete sich in seinem Kopf zu einem surrealen Film. Sein Gefängnis war mit einer Dolby-Surround-Anlage ausgestattet, aus deren Lautsprechern unentwegt die Stimmen von Kater Karlo, Minnie Mouse, Daisy Duck und Verona Pooth drangen. Auf einem riesigen 3D-Bildschirm tanzten sie in grellbunten Zwergenkostümen vor seinen Augen und grölten dabei schreckliche Lieder. Zuletzt war nur noch Verona auf dem Bildschirm, die in einer Endlosschleife immer und immer wieder das Schlumpflied sang. An Stellen, wo Michael Jackson vielleicht mit einem Griff an die Eier elegant hochgesprungen wäre, um sein „Hihhh“  auszustoßen, hörte er bei Verona allerdings nur ein noch höheres „Blubb“, das in Richtung des viergestrichenen C ging. Auch tanzte sie bei weitem nicht so gut wie Michael. Die Kamera zoomte sie stetig näher heran. Ihr schreiender Mund kam immer näher, wurde größer und größer, bis Strathmann den Eindruck gewann, er werde jeden Moment in ihren brüllenden Schlund gesogen. Strathmann wurde wach und starrte die  Mandantin mit so irren Augen an, dass sie zum ersten Mal seit einer Stunde Luft holte und verstummte. Unter einem Vorwand beendete er die Besprechung und komplementierte die Nervensäge hinaus. Er schloss hinter ihr die Türe und zählte langsam bis 50. Jetzt konnte er sicher sein, dass sie nicht noch auf dem Bürgersteig auf ihn lauerte. Fluchtartig verließ er das Büro und trat auf die Straße. Strathmann war so unruhig und aggressiv wie ein 6-jähriges Kind, das den ganzen verregneten Sonntag vor der Glotze verbracht hatte und sollte die ältere Dame, die jetzt gerade mit ihrem Dackel auf ihn zukam, auch nur sagen – „Guten Abend, jetzt erst Feierabend!“ oder so was Ähnliches – würde er ihr wahrscheinlich das teure Gebiss aus der freundlich lächelnden Fratze schlagen. An seinem Gesichtsausdruck musste die Dame erkannt haben, dass sie besser die Klappe halten sollte. Sie zog die Hundeleine kürzer, um ihren kleinen Kläffer vor einem sicheren Tritt zu schützen und ging in einem großen Bogen an ihm vorbei. Strathmann rieb sich die Handgelenke. Seine Hände waren heiß. Wenn er sie zur Faust ballte, färbten sich die Knöchel weiß. Er blinzelte in die Abendsonne und schloss seinen PKW auf. An Tagen wie diesen, konnte Strathmann richtig wütend werden. Er stieg in seinen wenig gelittenen, silbernen 500er CL und suchte das 2. Stück auf der eingelegten CD  „Nighthawks Live in Hamburg – Master Consul“, drehte die Lautstärke auf 12 und fuhr nach Hause. Jürgen Dahmens fantastisches Fender Rhodes schlug gegen seine Trommelfälle und brachte seine Brust zum Beben, und obwohl man anderes hätte erwarten müssen, tat ihm die Musik gut. Zumindest überdeckte sie den Ohrwurm vom Schlumpflied. Was war das für ein Tag gewesen. Das Gesetzt der Serie hatte mal wieder erbarmungslos zugeschlagen. Im Rückblick durchlief er den Nachmittag. II. Der verlorene Nachmittag Seine 15-Uhr-Mandantin war eine sexy gestylte Mittdreißigerin, die ihm wie auf einem Laufsteg mit klackenden Stakkato-Stöckelschuhen vom Wartezimmer in sein Büro folgte und dabei ostentativ mit einem Beratungshilfeschein in der Hand wedelte. Ausgehend von ihren finanziellen Mitteln und der Stoffmenge ihres Minirocks, stellte er die Vermutung an, sie habe sich den Rock aus einem dieser kleinen Gäste-WC-Handtücher um die Hüften getackert, was ja immerhin für ein gewisses Improvisationstalent sprach. Wahrscheinlich weil  er über keinen Glastisch verfügte, rückte die Frau ihren Stuhl so weit von der ihm gegenüberliegenden Tischkante weg, dass er nicht umhin kam, ihre langen, übereinander geschlagenen Beine zu betrachten. Ihn überkam die Ahnung, dass sie gleich galant ihre Sitzposition ändern würde, um ihm einen Blick unter das WC-Handtuch zu gewähren. Die Frau musste seine Ahnung erraten – wenn nicht sogar suggeriert – haben, denn nun lächelte sie ihn mit einer Mischung aus Koketterie und Triumph an, machte ein Hohlkreuz, um auch ihren üppigen Busen besser zur Geltung zu bringen und begann in epischer Breite ein tragödienhaftes Beziehungsproblem zu schildern. Mit hilflosen sporadischen Einwänden versuchte er sich gegen ihren Redefluss zu stemmen, aber die Frau ließ ihm keine Chance. Sie wollte partout nicht hören, dass er kein Familienrecht machte. Unter Aufbietung ihres gesamten weiblichen Waffenarsenals versuchte sie ihn zur Übernahme des Mandats zu überreden, und als er ihr zum x-ten Male kraftlos das Wort „Strafverteidiger“ entgegen geschleudert hatte, spülte sie seine Argumente mit aberwitzigen angeblichen strafrechtlichen Bezügen weg. Vielleicht wegen ihrer Stimme oder ihres Sexappeals tauchte für den Bruchteil einer Sekunde erstmals das Bild von Daisy Duck vor seinem geistigen Auge auf. Aber diesmal blieb Strathmann standhaft und verwies sie letztlich an einen versierten familienrechtlichen Kollegen. Sollte der doch in die Honigfalle tapsen. An der Türe reichte sie ihm mit Tränen in den Augen die Hand und fragte ihn, ob er es sich nicht doch noch überlegen wolle. Mit treu blinzelnden Daisy-Augen steckte sie ihm eine selbst entworfene Visitenkarte zu. Sobald sie den Raum verlassen hatte, zerriss er die Karte zur eigenen Sicherheit  vorsichtshalber  in kleinste Schnipsel und entsorgte sie umgehend im Papierkorb. Es war lange her, dass er auf so einen Scheiß reingefallen war. Zu seiner Überraschung waren die 16-Uhr-Mandanten – ein Bonnie und Clyde – Pärchen – das bereits dreimal vorher unentschuldigt Termine nicht wahrgenommen hatte, diesmal da. Der Typ sah aus wie Kater Karlo, begleitet von Minnie Mouse. Er suchte ihre Akten aus seinem Besprechungsstapel heraus und stellte fest, dass sich mittlerweile 8 Verfahren wegen Diebstahls, Einbruchs und Betruges angesammelt hatten, die in den unterschiedlichen Akten mit komplizierten Verbindungsbeschlüssen teilweise zusammengeführt worden waren. Da er sich diesmal nicht auf die Besprechung vorbereitet hatte, blätterte er auf der Suche nach einer sinnvollen Struktur lustlos die Akten durch. Seine Finger glitten widerwillig über das Papier. Sie waren trocken und stießen jedes Mal kaum hörbare, kleine Schmerzensschreie aus, wenn er eine Seite umblätterte. In diesem Moment klopfte es leise an der Türe und Daisy, die Venusfalle von soeben, steckte ihren Kopf ins Zimmer. „Entschuldigen Sie! Ich habe, glaube ich, mein Handy hier vergessen?!“, sagte sie. Strathmann bat sie herein und gemeinsam mit Minnie und Kater Karlo blickten sie hinter die auf dem Schreibtisch festgewachsenen Aktenberge, hoben Papiere an und

Was man in einer kurzen Verhandlungspause so gar nicht braucht!

Nach der Vernehmung von 5 Zeugen in einer fiesen Mordsache beschloss der Vorsitzende  eine 20 minütige Pause. „Das trifft sich gut“, sagte ich zu meiner Referendarin Claudia. „Im Nachgang zu unserem Antrag auf Hinzuziehung eines weiteren psychiatrischen Sachverständigen, sollten wir den Sachverständigen spätestens jetzt wegen Befangenheit ablehnen. Was meinst du?“ Auf dem kurzen Weg ins Büro begannen wir leidenschaftlich über die Begründung des Antrags zu diskutieren, als mich die Schwester des Angeklagten auf meinem Handy anrief. Sie sei ja für nach der Pause als Zeugin geladen und müsse unbedingt vor ihrer Aussage noch einmal kurz mit mir reden. Ich sagte ihr, wir hätten gerade alle Hände voll zu tun und wenig Zeit, aber wenn es gar nicht anders ginge, solle sie kurz ins Büro nachkommen. Wir hatten Glück, denn in der Küche war zur Abwechslung frisch aufgebrühter Kaffee, den ich ausnahmsweise mal nicht gemacht hatte. In meinem Büro rissen wir zur Vermeidung eines Anschisses von Bettina * die Fenster sperrangelweit auf und räumten zur Herstellung von Sichtkontakt einige Stapel Akten von meinem Schreibtisch. Immer noch diskutierend setzten wir uns und zündeten uns gemütlich und beinahe ohne schlechtes Gewissen eine Zigarette an. „Also, der Sachverständige ist der Klopper!“, meinte Claudia. „Wenn´s nicht um so viel ginge, müsste man lachen. Für heute hatte er sich doch am 1. Verhandlungstag entschuldigt und sein überraschende Erscheinen heute mit der Begründung erklärt, es läge eine Verwechslung vor, er habe sich doch für den ersten Verhandlungstag entschuldigen wollen, weil er da berufsbedingt nicht gekonnt habe. Ist der senil? Der erste Verhandlungstag ist gerade mal fünf Tage her und da war er eindeutig anwesend.“ „Ja, aber das Härteste war doch seine Frage, ob er denn heute unbedingt dabei sein müsse, wo man doch nicht mit ihm gerechnet habe. Er habe viel zu tun und der Verzicht auf seine Anwesenheit käme ihm gut zu pass.“ „Und das, obwohl heute die wichtigsten Zeugen für das Vor- und Nachtatverhalten geladen sind. Wirklich unglaublich! Ich verstehe aber auch das Gericht nicht. Wieso entscheiden die nicht über unseren ersten Antrag, einen weiteren Sachverständigen hinzuzuziehen? Wir haben das Gutachten doch methodenkritisch so zerpflückt und an die Erde gerissen. Damit ist doch kein Blumentopf mehr zu gewinnen.“ „Die fahren ein ganz schönes Risiko oder rechnen die im Ernst nicht mit einem Befangenheitsantrag? Also, lass uns mal zusammenfassen und ein Argumentationsgerüst bauen. Was haben wir …?“ In diesem produktiven Moment klopfte es an der Türe und die Schwester des Angeklagten trat zusammen mit ihrer besten Freundin ein. Schnell wurde klar, dass nicht die Schwester mit mir reden wollte, sondern die Freundin, die aufmerksam die bisherige Beweisaufnahme vom Zuschauerraum aus beobachtet hatte und nun ohne Punkt und Komma in die ultimative Beweiswürdigung eintrat. Die Sache sei doch glasklar. Sie habe alles genau beobachtet. Der Angeklagte sei trotz seines polizeilichen Geständnisses unschuldig. Als seine Lebensgefährtin vernommen worden sei, habe er nach unten geguckt und als dann diese … Drogenschlampe, bei der er nach dem Mord genächtigt hat, aussagte, da habe er dem Flittchen direkt in die Augen geschaut. Ob ich das nicht bemerkt hätte. Der Angeklagte habe eindeutig ein Liebesverhältnis zu dieser „Dame“ und wolle sie decken. So sei der Angeklagte nun mal. Er nähme immer alles auf sich, selbst wenn er dafür lebenslang eingesperrt würde. Bestimmt stecke der Bruder der „Dame“ auch damit drin, das sei auch so ein Junkie. Ausgeraubt und ermordet hätten sie die arme alte Dame, um sich Drogen zu kaufen, und jetzt solle der Angeklagte dafür hinhalten. Als meine Argumente gegen ihre Verschwörungstheorie an ihrer eifrigen Betonmaske ungehört zerschellten und im Strudel ihres Redeschwalls jämmerlich ertranken, riss mir schließlich der Geduldsfaden. Vielleicht etwas zu barsch, wies ich darauf hin, dass die Gerichtspause in ein paar Minuten ende und ich zu arbeiten hätte. Sie solle mit der Schwester des Angeklagten schon mal vor zum Gerichtssaal gehen. Wir kämen gleich nach. Mit verblüffter Miene wandte sich die Dame noch im Luftholen mit offenem Mund – wie ein an Land geworfener Fisch  – abrupt  zum Gehen. An der Türe drehte sie sich noch einmal zu mir um und sagte beleidigt: „Irgendwann werden Sie sehen, wie Recht ich hatte, und dann wird es Ihnen leid tun!“ Die Schwester meines Mandanten zuckte entschuldigend die Achseln, folgte verschämt ihrer Freundin und schloss behutsam hinter sich die Türe. Ich schaute Claudia resigniert an. „Prüf doch bei Gelegenheit mal, welche Chancen ein Befangenheitsantrag gegen Prozessklugscheißer aus den hinteren Zuschauerrängen hat.“ Lächelnd erwiderte Claudia: „Oh Mann, so etwas in einer kostbaren Verhandlungspause braucht kein Mensch!“ * Bettina = militante Exraucherin und (nur diesbezüglich – leider) die Sekretärin von Gerd Meister, der – seiner Sekretärin und der eigenen Gesundheit zu Liebe – inzwischen aufgehört hat, zu rauchen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Herr Vorsitzender, ich will keinen Krieg, aber …

In meinem letzten Artikel „Was man in einer kurzen Verhandlungspause so gar nicht braucht“ hatte ich von meinem geplanten Befangenheitsantrag gegen einen psychiatrischen Sachverständigen in einem Mordverfahren berichtet, der dann auch prompt von mir gestellte wurde. Der Sachverständige rang während der Verlesung des vierseitigen Antrages mit Fassung.  Er tat mir aufrichtig leid, aber eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeit eines anderen gelingt selten, ohne dass sich der Kritisierte auch persönlich angegriffen fühlen muss. Und so beeile ich mich zu sagen, dass der Mann sicherlich ansonsten ein hervorragender Arzt ist. Als Gutachter aber hatte er mangels forensischer Erfahrung einfach zu viele Fehler gemacht. Bereits am ersten Tag rief er ein gewisses Amüsement hervor, als er mit einem ans Revers geheftete Namensschild – wie auf einem Ärztekongress – im Schwurgerichtssaal erschien und unsicher über die Sitzordnung,  zunächst einmal bescheiden und verloren hinten bei den Zuschauerrängen herumstand, bis ihn der freundlich Staatsanwalt zu sich heranwinkte und ihm seinen Platz zuwies. Für die nächsten Verhandlungstage meldete sich der Arme auf unabsehbare Zeit krank, und der auch von der Verteidigung favorisierte neue Sachverständige begann unverzüglich mit seiner Arbeit. Ich hatte der Kammer für einen der nächsten Verhandlungstage eine schriftlich von mir zu verlesende Einlassung des Angeklagten angekündigt, der sich – vielleicht aus Scham wegen einer mitangeklagten Vergewaltigung – außerstande sah, selbst vor Gericht das Wort zu ergreifen. Die Einlassung musste nun vorbereitet werden, und so besuchte ich den Angeklagten mit der hervorragenden Dolmetscherin in der JVA. Wie immer war der Mandant auffallend wortkarg und in sich gekehrt.  Eine Vergewaltigung bestritt er, nickte aber die Vorhalte seines polizeilichen Geständnisses  im Übrigen ab. Die Frage nach dem „Warum“ der Tat kommentierte er mit den Worten „Kurzschluss“ und „Wodka“, und ich verlegte mich darauf, ihn nun auch mit falschen, angeblich von ihm stammenden, polizeilichen Aussagen zum zeitlichen Ablauf der Tat zu konfrontieren. Auch hier bestätigte er die von ihm so nie gemachten Angaben mit einem stoischen Nicken. Ich fragte nach, ob er denn so etwas tatsächlich bei der Polizei gesagt habe, bis mir schließlich der Kragen platzte und ich ihn über meinen Hinterhalt aufklärte. „Also, warum hast du bei der Polizei dann eine Vergewaltigung behauptet?“, fragte ich. „Das wäre doch die einzig Erklärung dafür, dass ich die Frau ausgezogen habe?!“, antwortete er und blickte mich dabei offen an. Ich zeigte ihm andere mögliche Erklärungen auf und wies ihn darauf hin, dass Menschen, ob betrunken oder nicht,  oft auch unplausible Dinge täten und dass auch er ansonsten völlig unsinnige Vorgänge bei der Polizei geschildert habe.  Wieder nickte er. Bei seiner Vernehmung habe er einfach Angst gehabt, und was die Polizeibeamten vermutet hätten, wäre ihm da irgendwie logisch erschienen. Ich wiederholte, dass es hier um seinen Arsch ginge und es ihm nichts nütze, jetzt plötzlich meine vermeintlich logischen – aber tatsächlich falschen – Vorhalte immer nur zu bestätigen. Er solle sich Mühe geben und mir die Sache einmal richtig im zeitlichen Ablauf schildern. Im stundenlangen, mühsamen Gespräch kamen wir der Sache so zumindest näher. Es zeigte sich die Möglichkeit auf, dass das Opfer bei den in Tötungsabsicht zugefügten massiven Schlägen mit Wahrscheinlichkeit bereits tot gewesen sein könnte. Der Angeklagte beschrieb, dass die Frau nach einem Schlag mit der Hand und ihrem Sturz auf den Boden so komisch nach Luft geschnappt und sich dann nicht mehr bewegt habe. Da habe er sie noch nicht töten wollen. Er habe sie auf den Rücken gedreht und wieder dieses merkwürdige Geräusch gehört. Dann habe sie ganz ruhig da gelegen, und er habe mehrere Zigaretten geraucht. Die Angst sei in ihm hochgestiegen, sie könne tot sein. Erst dann habe er ganz sicher gehen wollen und die Frau noch mehrmals mit einem Metallstab auf den Kopf geschlagen. Diese Schilderung war nicht von der Hand zu weisen, da sich im Obduktionsbericht auch mögliche postmortale Verletzungen finden. Ich versuchte dem Mandanten klar zu machen, dass somit auch „nur“ ein versuchter Mord in Frage käme, und dass eine präzise Beschreibung des Tatablaufs schon nützlich sei. Meine Frage, ob er das nicht auch so selber bei Gericht mündlich vortragen könne, verneinte er vehement. Er wolle jetzt nichts mehr sagen. Die Tat sei so schlimm und er könne sich angesichts der Nebenkläger und seiner im Zuschauerraum sitzenden Familie nicht äußern. Erschöpft verließen wir das Gefängnis, und ich machte mich daran, das soeben gehörte in meinem Schriftsatz zusammenzufassen. Am nächsten Verhandlungstag teilte ich dem Gericht mit, dass ich nun im Namen und mit Vollmacht die angekündigte Erklärung verlesen werde, der Angeklagte aber aus psychischen Gründen nicht in der Lage sei, selbst zu sprechen oder Fragen des Gerichts zu beantworten. Gegenüber dem Sachverständigen werde er aber in der Intimität der Explorationssitzung Angaben machen, die so ja auch in die Hauptverhandlung eingeführt werden könnten. Zu meiner Überraschung lehnte der von mir sehr geschätzte Vorsitzende diese Vorgehensweise unter Hinweis auf die neuere Rechtsprechung des BGH entschieden ab. Er lasse eine Verlesung der Einlassung nur zu, wenn sich der Angeklagte danach den Fragen des Gerichts stelle. Natürlich könne er mir nicht verwehren, meinen Schriftsatz als Anhang zum Protokoll zu den Akten zu reichen. Konsterniert bat ich um eine Unterbrechung, suchte die Kammer im Beratungszimmer auf und leitete das Gespräch mit den Worten ein, dass ich keinen Krieg wolle, aber … Die Kammer griff mein „Aber“ freundlich auf, und wir diskutierten – ja, man kann sagen in aller Freundschaft – das prozessuale Problem, ohne Einigkeit zu erzielen. Bei den meisten anderen Gerichten hätte ich mit Sicherheit einen Befangenheitsantrag aus der Tasche gezogen, hier aber wollte ich das nicht, denn die Kammer war  eindeutig – trotz anderer Meinung – nicht befangen. Schließlich lösten wir das Problem nach Rücksprache mit dem Angeklagten einvernehmlich, und er beantwortete – so gut er konnte – die durchaus wohlwollenden Fragen des Gerichts. Der Prozess ist noch nicht beendet und vielleicht berichte ich an anderer Stelle über seinen Ausgang. Da mich die Sache aber immer noch wurmt, schickte ich dem Vorsitzenden den folgenden Link, der nicht als Klugscheißerei verstanden werden soll, sondern als Fortsetzung unserer kleinen Diskussion. Mir ist bewusst, dass der Vorsitzende und seine

Grabräuber vor Gericht

Vor 2200 Jahren ließ ein König der Meni sein Grab bei den Pyramiden von Gise mit der deutlich sichtbaren Aufschrift vor potentiellen Grabräubern schützen: “Das Krokodil gegen den im Wasser, die Schlange gegen den auf der Erde, der etwas gegen dieses Grab tun wird. Niemals habe ich etwas gegen ihn getan. Gott ist es, der richten wird.” Wen der König dabei besonders im Auge hatte geht aus der Fortsetzung der Inschrift hervor: “Keiner von denen, die mir dieses Grab gemacht haben, hatte Grund sich zu ärgern. Sei er ein Bildhauer oder Steinmetz, ich habe ihn zu seiner Zufriedenheit entlohnt.” Ein netter Versuch, der aber wohl nicht viel gebracht hat. Welcher Dieb konnte damals schon lesen und so ist es kein Wunder, dass seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. schon häufig die Grabkammern der Pharaonen geplündert wurden – auch wenn die Handwerkerrechnung für´s Grab vollständig bezahlt war. Als im 13. Jahrhundert v. Chr. der Regierungssitz nach Norden ins Niltal verlegt wurde, blieb das thebanische Tal der Könige der traditionelle Bestattungsort der Pharaonen. Die Handwerker und Künstler, die sich mit dem Grabbau beschäftigten, stellten eine kleine Gruppe von vielleicht 200 priviligierten Spezialisten dar, die in strenger Familientradition ihre Fertigkeiten weiter vererbten und in sich in dem heutigen Deir-el-Medina niedergelassen hatten. Über ein halbes Jahrtausend lebten sie hier, so dass begeisterte Archäologen eine umfassende und kontinuierliche Hinterlassenschaft sichern konnten. Hierzu gehören zahlreiche Papyri, auf denen Experten die Gerichtsprotokolle verschiedenster Verfahren fanden, von denen hier nur die Grabräuberprozesse interessieren. Von den etwa dreißig Königsgräbern im Tal der Könige blieb nur das von Howard Carter 1922 entdeckte Grab des Tutanchamun nahezu unversehrt. Auch die aufwendigsten architektonischen Sicherungsmaßnahmen in Form von Schächten, toten Gängen und Fallen änderten nichts daran, dass die Gräber fast alle ausgeplündert wurden. Um 1100 v. Chr. berichtete der Bürgermeister von Theben-West seinem Vorgesetzten Wesir von einer von ihm eingesetzten Untersuchungskommission zum Zustand der alten Königsgräber und der Gräber der einfachen Bürger in der Nekropole, um sodann die Namen der geständigen und ins Gefängnis verbrachten Diebe zu nennen. Die damaligen Verhörmethoden der Polizei finden sich in Grab-Wandmalereien wieder. Es ist die Rede von Schlägen auf Hände und Füsse mit spitzen Gegenständen und von Daumenschrauben. Ein gefasster Steinmetz gab zu Protokoll, dass er seit Jahren mit einer festen Bande, die sich auf Gold, Silber und Edelsteine spezialisiert hätten, systematisch Gräber ausgeraubt habe. Sein Prozess endete glimpflich. Er wurde – nachdem er den zuständigen Untersuchungsbeamten mit Gold bestochen hatte – entlassen und setzte seine lukrative Tätigkeit fort. Das Ergebnis dieser Grabräuberprozesse spiegelt eine Kapitulation der Staatsgewalt vor einem damals perfekt funktionierenden Netz organisierter Kriminalität wieder. Die ramessidische Zentralverwaltung, die fern von Theben in der Deltaresidenz saß, hatte die Staatsausgaben, insbesondere die Militärausgaben für den Kampf gegen das verfeindete Libyen und Hethiterreich, so erhöht und damit den Lebensstandard der Bevölkerung gesenkt, dass die Handwerker oft monatelang auf ihren Lohn warten mussten. Nun hielten sie sich mit einer gewissen moralischen Legitimation an den Kostbarkeiten der Toten schadlos. Das altägyptische Rechtssystem, das überwiegend mit Laienrichtern arbeitete und kein detailliertes kodifiziertes Recht kannte, war der Situation nicht gewachsen und es wäre wahrscheinlich auch politisch unklug gewesen, gegen diese Grabräuber hart durchzugreifen.Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach Der Artikel basiert auf Informationen aus dem Artikel „Grabräuber vor Gericht“ von Dietrich Wilding in dem Buch „Große Prozesse“, C.H. Beck, 3. Aufl. 2001

Mein Gott – Pontius Pilatus macht kurzen Prozess mit Jesus

Die wichtigsten Quellen für das Leben Jesu sind bekanntlich die zwischen 65 und 100 n. Chr. verfassten Evangelien des Neuen Testaments, die sich auf mündliche Überlieferungen stützen. Danach wurde Jesus 4 v. Chr., vielleicht auch etwas früher, vermutlich im galiläischen Nazareth in Palästina geboren. Er gehörte als Zimmermann zur Unterschicht. Mit etwa 30 Jahren wurde er von dem Bußprediger Johannes im Jordan getauft und zog danach als prophetischer Wanderlehrer durch Galiläa. Die Zeit seines öffentlich bekannt gewordenen Handelns soll nicht mehr als 2 – 3 Jahre gedauert haben und endete mit seiner Kreuzigung vermutlich im Jahre 30 n. Chr. Der kurze Prozess, der seinem Tod vorausging, erwies sich als einer der folgenreichsten Prozesse der Weltgeschichte.Über Jahrhunderte hinweg hat das Christentum unter Berufung auf die Evangelien das jüdische Volk für den Tod Jesu verantwortlich gemacht und seinen Richter, den römischen Präfekten Judäas, Pontius Pilatus, versucht zu entlasten. Am deutlichsten zeigt sich das in einer Szene aus dem Matthäus-Evangelium, der einen Dialog zwischen Pilatus und einer mordlustigen jüdischen Volksmenge beschreibt: “Pilatus spricht zu ihnen: `Was soll ich denn mit Jesus tun, der Messias genannt wir?` Sie sagen alle: `Er werde gekreuzigt!´ Er aber sagte:´Was hat er denn Böses getan?´ Sie aber schrien übermäßig und sagten: ´Er werde gekreuzigt!´ Aber als Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern vielmehr ein Tumult entstand, nahm er Wasser, wusch seine Hände vor der Volksmenge und sprach: ´Ich bin schuldlos an dem Blut dieses Gerechten. Seht ihr zu!´ Und das ganze Volk antwortete und sprach: ´Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!´ Wie tief sich diese Szene in das kollektive christliche Bewusstsein eingeprägt hat, zeigt das Sprichwort: “Seine Hände in Unschuld waschen.” Die hierin enthaltene Geschichtsverzerrung stellt eine im historischen Gewand gekleidete religiöse These dar und ist eine Ursache für den christlichen Antisemitismus und letztlich auch für die Progrome der nachfolgenden Jahrhunderte. Claude Montefiore, einer der bedeutendsten Vertreter des modernen Judentums, hat diesen Dialog so kommentiert: “Dies ist eines jener Sätze, die schuldig sind an Meeren von Menschenblut, und an einem ununterbrochenen Strom von Elend und Verzweiflung.” Und in der Tat – die Darstellung im Matthäus-Evangelium entbehrt jeder historischen Glaubwürdigkeit, was freilich nichts daran änderte, dass sich die Entlastungstendenz bezüglich Pilatus in der Kirchengeschichte unaufhaltsam fortsetzte. So erklärte der lateinische Kirchenvater Tertullian Pilatus Anfang des 3. Jahrhunderts sogar zum heimlichen Christen und die koptische Kirche verehrte ihn sogar später als Heiligen. Dem jüdischen Hohenrat und anderen jüdischen Gruppen – wie etwa den Pharisäern – wird die böse Absicht unterstellt, sie hätten Jesus aus religiösen Gründen beseitigen wollen. Nach den sich z.T. widersprechenden Evangelien wurde Jesus in einem zweistufigen Prozess zum Tode verurteilt. So schildert das älteste Markus-Evangelium, dass Jesus am Donnerstagabend vor dem jüdischen Passahfest von einer jüdischen Polizeitruppe verhaftet und dem höchsten Selbstverwaltungsgremium Jerusalems – dem Sanhedrin, das sich im Hause des Hohepriesters versammelt hatte, vorgeführt wurde. Falsche Zeugen sollen Jesus mit dem Satz zitiert haben: “Ich will diesen Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in 3 Tagen einen anderen bauen, der nicht mit Händen gemacht ist.” Da Jesus zu den Vorwürfen schweigt, verleitet ihn der Hohepriester, sich als Sohn Gottes zu offenbaren, was Grund genug ist, Jesus wegen Gotteslästerung zum Tode zu verurteilen. Der Sanhedrin liefert daraufhin Jesus am frühen Freitagmorgen an den römischen Statthalter Pilatus aus, der Jesus mit einem 2. Prozess überzieht, in dessen Verlauf das aufgebrachte jüdische Volk, einen tatsächlichen Mörder namens Barabbas freipresst und für Jesus die Kreuzigung fordert. Nach dem Lukas-Evangelium soll Pilatus Jesus vor der endgültigen Verurteilung noch an den Landesherren Herodes Antipas überstellt haben, der ihn dann an Pilatus zurückverwies. Daher das Sprichwort – “Von Pontius nach Pilatus”. Die Darstellung eines gewissermaßen vorgeschalteten Verfahrens gegen Jesus vor dem jüdischen Hohenrat ist schon wegen der erheblichen Widersprüche im Einzelnen innerhalb der Evangelien historisch nicht zu beweisen. Weder der Sanhedrin noch der Hohepriester verfügte nach der damalige Rechtslage über die Kapitalgerichtsbarkeit, die in allen römischen Provinzen allein in der Hand der römischen Besatzer lag. Dem entsprechend findet sich in den zu Beginn des 2. Jahrhunderts von dem römischen Historiker Tacitus verfassten Annalen kein einziges Wort über eine Beteiligung jüdischer Instanzen am Todesurteil gegen Jesus. Lapidar wird festgehalten, dass “Christus” unter Tiberius von dessen Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet wurde. Denkbar ist allenfalls, dass einige Denunzianten aus dem Kreis der damaligen jüdischen Oberschicht, Jesus als Unruhestifter bei Pilatus anschwärzten, der gerade vor dem jüdischen Passahfest, zu dem tausende Auswärtige nach Jerusalem strömten, besonders auf Ruhe und Ordnung bedacht war, um Rebellionen gegen Rom von vorneherein im Keim zu ersticken. Und dass die Römer in Jesus einen solchen Rebellen gesehen haben könnten, ergibt sich aus dem überlieferten Dialog zwischen Jesus und Pilatus, in dem Pilatus Jesus fragt, ob er sich als König der Juden bezeichne, worauf Jesus zweideutige geantwortet haben soll: “Du sagst es!” Die Beanspruchung der Königswürde über die Juden in einem römischen Protektorat konnte aber aus Sicht der römischen Besatzer nur als Hochverrat und Rebellion gedeutet werden. Für diese Deutung spricht auch die gewählte Hinrichtungsart der Kreuzigung. Jesus wurde mit zwei weiteren “Räubern” hingerichtet. Sprachforscher konnten inzwischen belegen, dass dieser Begriff ein terminus technicus für antirömische Rebellen war. Heute würde man Jesus wohl als Terroristen bezeichnen. Hierfür spricht auch, dass es historisch als erwiesen gilt, dass alle von den Römern vorgenommenen Kreuzigungen in Israel zu dieser Zeit aus politischen Gründen erfolgten. Das brutale Vorgehen der Statthalter Judäas hängt zweifellos mit den damaligen Schwierigkeiten, ihre Herrschaft in der Provinz durchzusetzen, zusammen. So berichtet der römische Historiker Josephus von ersten Massenkeuzigungen 4 v.Chr., bei denen 2.000 Aufständische nach vorangegangenen Unruhen auf diese Weise hingerichtet worden sein sollen. Josephus schrieb: “Judäa war voller Räuberbanden. Und überall dort, wo sich eine Schar von Aufrührern zusammenfand, wählten sie einen König, der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. Sie fügten zwar nur wenigen Römern einen – und dazu noch unerheblichen – Schaden zu, bereiteten aber ihrem eigenen Volke ein ungeheuerliches Blutbad.” Auch hier waren es soziale Hintergründe, die zur Aufruhr in der Bevölkerung führten – nämlich die erdrückende römische Steuerlast, die mit

Languren, frische Luft und die Unschuldsvermutung

Wie jeder Strafverteidiger betreute Dr. Strathmann hin und wieder Aidskranke, denen sein aufrichtiges Mitgefühl galt. Er überlegte, ob „Mitgefühl“ das richtige Wort war, oder ob er, angesichts seiner eigenen Vergangenheit, einfach nur Angst hatte, ebenso krank und ausstößig zu werden. Ja, möglicherweise ging es beim „Mitgefühl“ im Grunde nur darum? Es hatte allerdings Zeiten gegeben, in denen er mit der Krankheit unbefangener umgegangen war. Wie jeder, wusste er, dass man sich durch Handschütteln normalerweise kein Aids einfangen konnte, und dennoch brachte ihn die irrationale Angst vor Ansteckung heute in den Konflikt, der Angst nachzugeben oder sich unmenschlich zu fühlen. Der Gewahrsamsbeamte schloss die schwere, hellgraue Eisentüre auf. Ein zooiger Käfiggeruch schlug ihm entgegen, und der kleine Gefangene setzte sich von seiner Betonpritsche auf. Er blinzelte hoch zur Neonröhre und sah sich irritiert in der fensterlosen Zelle um, die nur durch einen mit Aluminiumlamellen verdeckten Luftschlitz sparsam belüftet wurde. Wie fast allen Verdächtigen in Totschlagsverfahren hatten sie ihm seine Kleidung weggenommen und ihn in einen weißen Polyester-Overall gesteckt. Er wirkte abgemagert. Sein braunes Gesicht und die ebenso braunen Hände und Füße, die aus dem weißen Plastik ragten, bildeten den einzig starken Kontrast im Raum. Frische Luft und Unschuldsvermutung sind flüchtige Güter. Erst ihre Abwesenheit macht sich unangenehm bemerkbar. Wie jedes Mal, wenn Strathmann eine solche Zelle betrat, fragte er sich, ob dieser Staat nicht anders mit seinen Problemkindern umgehen konnte. Nicht dass er ein Hotelzimmer erwartete, aber wenigstens ein vergittertes Fenster und ein Bett, vielleicht ein Schreibtisch mit einem Aschenbecher und ein Bild an der Wand, müssten doch für die nach dem Gesetz angeblich Unschuldigen drin sein. Und in der sich wohl auch in diesem Fall anschließenden Untersuchungshaft würde es nicht besser. Allein in den letzten 14 Tagen hatten sich drei Knackis im Hafthaus aufgehangen, wofür Strathmann jedes Verständnis hatte. Der Polizeibeamte zeigte ihm den mit dreckigen braunen Punkten besprenkelten Rufknopf, der unmittelbar neben der Tür und Nirosta-Kloschüssel in der Wand eingelassen war. „Klingeln Sie nach mir, wenn Sie fertig sind.“ Strathmann nickte deprimiert. „Gibt´s hier auch einen Stuhl, auf den ich mich setzen könnte?“, aber schon hörte er die Türe zuschlagen und das mehrfache metallische Klacken des Schlosses. Der kleine Inder behielt die zwei möglichen Meter Abstand und schaute ihn aus dunkelbraunen, beinahe schwarzen Augen unsicher an. „Rechtsanwalt Strathmann. Ihre Bezugsbetreuerin aus dem Wohnheim hat mich beauftragt, mich um Sie zu kümmern.“ Der neue Mandant machte eine verneinende Kopfbewegung und Strathmann erinnerte sich an seine Reise durch Indien, kurz nach dem Abitur. Mit dem Fahrrad war er die über 1000 km entlang des Indischen Ozeans in zwei  Monaten von Khyberpass  bis nach Goa geradelt, und nie würde er die anfänglichen Missverständnisse vergessen. Das Kopfschütteln bedeutete in diesem Kulturkreis ein aufmunterndes „Ja“. Ein bittendes, hoffnungsvolles „Sprich weiter …“. Er hatte wohl zu schnell gesprochen. „Kathrin schickt mich.“, wiederholte er langsam und überdeutlich. Bei dem Namen „Kathrin“ ging in dem Gesicht seines Gegenüber eine indische Sonne auf, eine Sonne, die Strathmann mit knapp 20 einst an den einsamen Stränden des indischen Ozeans geweckt und ihm Mut gemacht hatte, durch den Dschungel, ohne Ziel, immer weiterzufahren. Languren-Affen hatten Stöcke von den Tamarindenbäumen nach ihm geworfen, was ihn damals belustigt hatte. Der Mandant strahlte über das traurige Gesicht und machte einen Schritt auf Strathmann zu. Er streckte dankbar seine mit Heftpflastern verklebten Hände aus, und Strathmann machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten gegen die kalte Stahltüre. Der kleine Mann verharrte in seiner Vorwärtsbewegung. Sein Lächeln blieb eingefroren in seinem Gesicht stehen. „Sie haben sich bei der Messerstecherei verletzt!“, versuchte Strathmann, sich zu retten und fühlte sich dabei beschissen. „Kathrin hat mir alles erzählt!“, sagte er und faltete mit einer angedeuteten Verbeugung seine Hände zu einem unkörperlichen hinduistischen Gruß, der keinen Körperkontakt notwendig machte. Damals mit 20 hatte er diesen Gruß noch nicht beherrscht. Er erinnerte sich plötzlich: Gegen Mittag hatte ihn ein staubtrockner, erdiger Weg mitten im Dschungel in ein Dorf geführt. Er hatte sein schwerbepacktes Fahrrad an eine palmbedachte Hütte gelehnt und war der enthusiastisch winkenden Einladung des Besitzers folgend, die drei knarzenden Stufen hoch zur Veranda gestiegen. Der dünne Inder hatte hastig Korbsessel um einen wackeligen Holztisch gerückt, seine beiden Hände ergriffen und ihn sanft in einen Sessel gedrückt, während er seiner Frau zurief, sie solle schnell Tee bringen. Unentwegt sprach er dabei in einem Kauderwelsch aus indischem Dialekt und englischen Brocken freundlich auf ihn ein. Irgendwo hatte eine Glocke geläutet. Aus den umliegenden Hütten und dem größeren Schulgebäude waren die Dorfbewohner, allen voran die Kinder, geströmt und hatten sich fröhlich, aber schüchtern, vor der Veranda versammelt.  Die Frau seines Gastgebers hatte ihm mittlerweile in einem dünnwandigen Glas Tschai mit frischen Salbeiblättern serviert. Ermutigt von ihrem Lehrer trauten sich die Kinder nun näher heran, und er war aufgestanden und hatte jedem Kind über die Geländerbrüstung hinweg die Hand gereicht. Der Lehrer hatte ihn für die Nacht in sein Haus eingeladen. Noch spätabends saßen sie vor seiner Hütte, und nach einigen Gläsern gegorener Kokosmilch erfuhr er, dass der letzte Weiße, das Dorf vor 15 Jahren besucht hatte. Kurz vor dem Schlafengehen war die Frau des Lehrers mit der 16-jährigen Tochter von einem Besuch ihrer Eltern aus dem Nachbardorf nach Hause gekommen. Sie hatten plötzlich in ihren bunten Saris unter dem dunklen Sternenhimmel vor ihnen gestanden, und noch während der Lehrer sie hatte vorstellen wollen, war Strathmann, der inzwischen beschwipst war, aufgesprungen und hatte der Frau und der Tochter die Hände geschüttelt. Eine peinliche Pause entstand. Strathmann war irritiert. Er suchte den Blick der Frauen, die verlegen einen Schritt zurück getreten waren und ihre Köpfe gesenkt hielten. Plötzlich nahm er die getrommelten Rhythmen wahr, die von einem anderen Dorf her durch den Dschungel drangen. Der Lehrer hatte seinen Arm um Strathmanns Schulter gelegt und ihm den hinduistischen Gruß erklärt, mit dem ein Mann, zur Vermeidung von Missverständnissen, einer fremden Frau mit  Respekt gegenüber zu treten hatte. Frau und Tochter hatten ihn daraufhin angelächelt, die Hände gefaltet und sich mit eben jenem Gruß vorbildlich für die Nacht verabschiedet. Seit Wochen war es die erste

Zeugen Jehovas, Salafisten, Buddha und meine goldene Zündapp

Als es am Sonntag um 14 h klingelte, ahnte ich, wer da draußen vor der Haustüre stand. Ich zurrte meinen Morgenmantel fest und strich mir durch die stubbeligen Haare, was zu keiner Verbesserung führte. Mit nackten Füßen schlich ich zur Haustüre und spähte durch die verzierte Scheibe, wobei mir der Unsinn des heimlichen Vorgehens sofort bewusst wurde. Von draußen konnten sie mich ebenso gut sehen wie ich sie. Es blieben nur zwei Möglichkeiten, aber ein beobachtetes Zurückschleichen wäre mir peinlich gewesen, also öffnete ich entschlossen die Haustüre. Die beiden Herren blickten in ihren schwarzen Anzügen so freundlich die zwei Stufen zu mir herauf, dass mir der spontane Satz „Sie schon wieder!“ auf der glatten Zunge ins Straucheln geriet und so von einem griffigen „Guten Morgen!“ rechts des Gaumenzäpfchens überholt wurde. „Sie hatten gesagt, wir könnten wiederkommen. Passt es Ihnen heute?“, fragte der Ältere und brachte seine große Nase durch vorsichtiges Zurücklegen des Kopfes in Sicherheit, als erwarte er erneut ein bissiges „Nein!“, das nach ihm hätte schnappen können. Ich zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, was ihnen Mut machte. Sie traten einen Schritt näher und blickten mich hoffnungsfroh an. „Nun ja, ich bin ein wenig derangiert. Bitte entschuldigen Sie. Es war hart. Die ganze Zeit im Gefängnis, das macht einen müde.“ Ihre Blicke glitten von meinen zerzausten Haaren an mir herunter, streiften das von meinem unartigen Bademantel geöffnete Dreieck mit der spärlichen, grauen Brustbehaarung, verweilten einen Moment an meinen stacheligen Beinen und prüften meine Fußnägel. Mit einem verzagten Gleichschritt zurück, versuchten sie Sicherheitsabstand zu gewinnen, und um ganz sicher zu gehen, klemmten sie sich ihre braunen Lederkladden schützend vor die Brust. „Oh, das tut uns leid …, wir wollten nicht stören …, aber …. Wir dachten …, weil sie ja die letzten Wochen auch immer geöffnet haben …, Gefängnis?“ „Nein, nein! Sie stören nicht.“ Um Vertrauen zu gewinnen, öffnete ich den Gürtel meines Bademantels und gewährte ihnen einen Blick auf meine Unterhose. Dann zog ich mir den Mantel dicht um die Schultern und band den Gürtel wieder fest zu. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Das geht nun schon 20 Jahre so. Rein in den Knast, raus aus dem Knast. Man gewöhnt sich daran. Glauben Sie mir, so schlimm ist das nicht!“ Der Jüngere musterte mich mitleidig. „Aber dann würde Ihnen ein Gespräch mit uns vielleicht helfen. Glauben Sie an Gott?“ Ein leichtes Nieseln kündigte ein von Süden schnell aufziehendes Gewitter an. Ich rückte meine Lesebrille zu Recht und schaute ihn über den Brillenrand hinweg an. „Gott? Ich dachte Sie seien vom Finanzamt! Ich hab mich schon gewundert, dass Beamte sonntags arbeiten. Nun ja, … Gott? Ich weiß nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden …“ Ich spürte, wie die Hoffnung auf missionarischen Erfolg in ihnen aufkeimte und beendete meinen Satz: „…, ich meine, ich habe mich noch nicht entschieden, für welchen Gott. Da gibt es ja so einige?“ Draußen hatte sich der immer zorniger werdende Niesel zu einem heftigen Regenfall gesteigert. Dicke Tropfen prasselten auf den Bürgersteig und tanzten um die Schuhe der beiden Männer. Ein von dumpfem Donnergrollen gefolgter Blitz zuckte aus der dunklen Wolkendecke. Ich hob meine Stimme, um gegen das Unwetter anzusprechen: „Also, bitte erklären Sie mir, welcher Gott Sie schickt – und Sie glauben, er könne mir helfen?“ „Wir sind Zeugen Jehovas. Gott hilft den verlorenen Seelen, die bereit sind, sich zu öffnen und zuzuhören!“, sagte der Jüngere und sein älterer Jünger nickte weise und tapfer, mit einem irgendwie verschwommenen, beinahe spirituellen Blick, während der Regen von seinen mittlerweile klitschnassen Haaren aus den kürzesten Weg zwischen Hemdkragen und Nacken zum Hosenbund suchte. Ich versuchte, ihm in die Augen zu blicken, aber da war dieses vielleicht göttlich Verschleierte, nach außen begrenzt nur durch ein schwarzes Fielmann-Gestell, das mich irritierte, bis mir schlagartig klar wurde, dass die Brille des Mannes beschlagen und mit verschieden großen Wassertropfen übersät war, die punktuell – wie durch eine Lupe – kleinste Stellen seiner hinter dem Glas gelegene Iris vergrößerten und ihm ein unheimliches Aussehen verliehen. „Das ist vielleicht ein Scheißwetter! Wenn ich Millionär wäre, würde ich hier abhauen und mein Glück in Südamerika oder sonst wo suchen!“, brüllte ich gegen den zunehmenden Regen an. „Wollen Sie nicht lieber rein kommen?“ Die beiden drückten sich an mir vorbei in den Flur und schüttelten sich den Regen von den Schultern. Ich glaube, nur ihr eiserner Glaube hinderte sie daran das Wetter und mich, der so spät auf die rettende Idee gekommen war, ihnen Obdach zu gewähren, zu verfluchen. Sie sagten jedenfalls kein böses Wort, als ich ihnen die aus der Form geratenen, triefenden Jacketts abnahm und ordentlich auf einen Bügel an die Garderobe hing. „Wirklich ein Sauwetter! Da kriegt man ja Depressionen!“, versuchte ich sie zu trösten und schob sie dabei sanft in die Küche. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“ „Nein, danke“, sagte der Jüngere. „Wenn Sie vielleicht ein Mineralwasser für uns hätten?!“ Ich unterdrückte die Frage, ob sie für heute nicht schon genug Wasser gehabt hätten, schenkte ihnen ein Mineralwasser und mir einen wunderbar heißen Kaffee ein. Wir setzten uns an den Küchentisch und schwiegen, während ich an meinem dampfenden Kaffee nippte und mir eine Zigarette anzündete. „Wenn Ihr Gott es schafft, mich von meiner Nikotinsucht zu heilen, dann schafft er alles!“, durchbrach ich, mit dem Willen eine Diskussion anzuzetteln, die Stille. „Gott hilft denjenigen, die sich selber helfen!“, murmelte der Ältere und putzte dabei seine Brille trocken. Der Jüngere holte aus seiner durchweichten Kladde eine Zeitschrift heraus und überreichte sie mir feierlich. „Da steht alles drin – unsere Zeitung, der Wachtturm.“ „In dem dünnen Heft soll ALLES stehen?“ Ich schaute ihn skeptisch an. „Das hätten Sie mir einfach in den Briefkasten werfen können! … Ich meine, ich lese das Käseblättchen, die Metrowerbung …, das Ding hätte ich in 5 Minuten durchgehabt. Ich dachte, sie wollten mit mir ernsthaft über Glaubensfragen diskutieren?“ Der Ältere setzte seine Brille auf und hob beschwichtigend die Hände: „Wir gehen von Tür zu Tür und freuen uns über jedes offene Ohr, das die Botschaft des Herren vernehmen möchte.

Die Bremer Stadtmusikanten, Marathon-Man und Captain Picard

Auf der Einladungskarte stand in Kleinbuchstaben geschrieben „begegnungen“. Das Konzert  fand im alten römischen Kulturkeller statt. Auf der Bühne der syrische Musiker Hesen Kanjo mit seinem orientalischen Instrument Qanun, einer Art Zither, an den Percussion-Instrumenten Jürgen Dahmen und am Kontrabass Konstantin Wienstroer. Klassische arabische Musik begegnete Jazz-Rhythmen und Jazz-Basslinien. Eine glückliche Begegnung auf kleiner Bühne, die wir andächtig genossen. Hörte ich das von Jazz begleitete Qanun seit Jahr und Tag, würde es bei mir wahrscheinlich irgendwann einen Würgereiz hervorrufen, wie die Carglass -, die Seidenbacher-Müsli-Werbung, Platz 1 der Popmusik-Charts oder „Die kleine Nachtmusik“? So aber war es tatsächlich eine glückliche Begegnung. Dem Begriff Glück wohnt – wie dem Begriff der Kunst – das Ungewöhnliche, Unerwartete, Überraschende – jedenfalls nichts Objektives – bei. Ihre semantische Bedeutung erlangen die Begriffe durch ihre immanente Seltenheit. All das wusste ich, als ich wegen einer versuchten Mordsache als Nebenklagevertreter nach Bremen fuhr. Ich war davon ausgegangen, dass nur kurz verhandelt werden würde, da der Verteidiger des Angeklagten auf  den schlechten gesundheitlichen Zustand seines Mandanten hingewiesen hatte. In der Hoffnung auf nachmittägliche Freizeit nahm ich meine Lebensgefährtin mit in die alte Hansestadt. Am Anreisetag quartierten wir uns abends  in ein Hotel direkt am Markt des Rolanddenkmals ein und flanierten bei sommerlichen Temperaturen durch die Stadt, setzten uns schließlich auf´s Deck des Theaterschiffs und lauschten bei kühlen Weinschorlen bis spät in die Nacht den Klängen einer kubanischen Jazztruppe. Hin und wieder hörte man das Platschen von größeren Fischen in der braunen Flusssuppe, während die Sonne im pastellfarbenen Himmel über der Weser unterging. Noch ahnte ich nichts vom Marathon-Man und Captain Picard, die ich bald kennenlernen sollte. Bei strahlendem Sonnenschein überquerte ich mit meiner schweren Aktentasche am nächsten Morgen den Bremer Marktplatz und legte die wenigen Schritte bis zum ehrwürdigen Bremer Landgericht zurück. Um kurz vor 9 stand ich am Raum 218 vor noch verschlossener Türe, als ein auf den ersten Blick junger, dynamischer Mann auf mich zustürmte, zur Begrüßung meine Hand ergriff und sich fröhlich auf eine sehr bestimmte Art vorstellte: „Kellermann. Sie sind bestimmt Rechtsanwalt Meister aus Mönchengladbach. Wir haben telefoniert. Warten Sie, ich schließe Ihnen die Türe auf. Es dauert noch einen Moment – und passen Sie solange auf den Saal auf.“ Mit diesen Worten schob mich der Vorsitzende Richter in den Saal. „Sie tragen die Verantwortung dafür, dass nichts wegkommt!“ und weg war er. Ich nahm den Geruch von alter Holzvertäfelung, Bänken, Pulten und Balustraden auf, ein Geruch, der mich an die Zigarrenkisten meines Vaters erinnerte, an denen ich als Kind immer geschnuppert hatte. Ich hatte gelesen, dass hier früher auch Bürgerversammlungen abhalten worden waren, bei denen die reichen Kaufleute dicke Zigarren geraucht hatten, deren Qualm bis hinauf zur 6 Meter hohen Decke gestiegen war, um sich für Dekaden in jede Holzpore und Deckenritze einzubrennen und sich dauerhaft mit dem gewachsten Holz zu diesem würzigen Wohlgeruch zu vermischen. Mit Bewunderung blickte ich mich in dem riesigen Schwurgerichtssaal um und atmete den Geist einer längst verstrichenen Epoche ein. Nach und nach erschienen die anderen Prozessbeteiligten, allerdings nicht – wie ich vielleicht für einen Moment geträumt hatte – mit weiß gepuderten Perücken, Monokeln, Tintenfass und Federkiel, sondern durchaus zeitgemäß gekleidet. Der Staatsanwalt, der Verteidiger des Angeklagten, die Protokollführerin, der Dolmetscher und der Sachverständige grüßten mich nicht unfreundlich, aber distanziert und begannen vertraut untereinander zu plaudern und zu scherzen. Jetzt hatte ich das Gefühl, zwar doch in der richtigen Epoche zu sein, aber dennoch nicht dazu zu gehören. Der Prozess begann. Mein Mandant, das Opfer einer Messerstecherei, saß angespannt neben mir und beäugte den Angeklagten mit Rachegefühl in den Augen. 6 Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet und sein Hass auf den damaligen Freund, der nun auf der Anklagebank wegen versuchten Mordes saß, war seither mit jedem Tag, den er auf den Prozess gewartet hatte, tiefer geworden. Ungläubig hatte er den Kopf geschüttelt, als ich ihm berichtete, dass sein vorheriger Anwalt die 3-jährige Verjährungsfrist für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche vergeigt hatte und die Mordanklage möglicherweise in der Beweisaufnahme wie ein angeschossenes Pferd zusammenbrechen würde. „So langsam, wie die Justiz, kann kein Pferd sein!“, hatte er immer noch kopfschüttelnd meinen Vergleich aufgegriffen, woraufhin ich in gespielter Zerknirschung erwiderte, „der Amtsschimmel manchmal schon!“ Die folgende Beweisaufnahme bestätigte meine Prognose und ließ die als gesichert geltende Erkenntnis durchschimmern, Strafverteidiger sollten keine Nebenklage vertreten. Mit einer, meine Position als „Opferanwalt“  möglicherweise nicht in Einklang zu bringender Anerkennung, verfolgte ich aufmerksam die wohlwollende, mit Aktenkenntnis gespickte, und dennoch durchaus kritische Befragung des Angeklagten durch den Richter. Während ich weiter über meine Rolle als Nebenklagevertreter sinnierte, beobachtete ich den mir immer sympathischer werdenden Staatsanwalt, dem ich angesichts seines Dienstsitzes in der Hansestadt und einer bekannten Fernsehserie den Beinamen Captain – Captain Picard – verpasste. Auch er blieb während des gesamten Prozesses gegenüber dem Angeklagten im ernsten Bemühen um Objektivität ohne Schärfe, ohne Polemik und hinterfotzige Unterstellung, obwohl seine Mordanklage während des Verfahrens immer mehr in Richtung gefährliche Körperverletzung wie Knäckebrot zerbröselte. Mir kam der Gedanke, dass auch vermeintlich gesicherte Erkenntnisse einer Überprüfung zugänglich sind. Ja, doch! Auch Verteidiger können ohne Verrat und unsinnige Schärfe eine Nebenklage vertreten. Welchen Dienst könnte ich meinem Klienten erweisen, indem ich Öl ins Feuer gösse, indem ich im Ignorieren der erarbeiteten Beweisergebnisse versuchte, den Staatsanwalt rechts zu überholen, indem ich die verbitterte Perspektive des Mandanten aufgriffe und ihn bis zur Urteilsverkündung im Trügerischen bestärkte, ein erhofftes, hartes Urteil werde seinen Rachedurst löschen. Nein, auch Verteidiger können Opfer vertreten. Ihre Aufgabe ist es dann an der Wahrheitsfindung aktiv mitzuwirken und mit Einfühlungsvermögen, den Mandanten auf ein realistisches Ergebnis einzustellen, ihm bei allem Verständnis für seine Gefühlslage klarzumachen, dass blinde Rache an sich und vor allem, wenn sie sich im Rechtsstaat nicht verwirklichen lässt, letztlich ein Irrweg ist. In den nachfolgenden Gesprächen verdeutlichte ich dem Geschädigten, dass es nicht dem Angeklagten anzulasten ist, dass der vorheriger Opferanwalt 6 Jahre lang nichts unternommen hatte, um diesem dicken weißen Pferd einen Tritt zu geben, Beschleunigung ins Verfahren zu bringen und berechtigte Schadensersatzansprüche titulieren zu lassen – auch wenn das gezahlte, bescheidene Honorar eigentlich keine übersteigerten Erwartungen hätte aufkommen lassen

Da wird man ja irre!

„Ah, unser Herr Meister beehrt uns in den Niederungen einer Bußgeldsache. Was tun Sie hier? Sind Ihnen die Mörder ausgegangen?“, begrüßt mich die freundliche Amtsrichterin mit einem süffisanten Lächeln. „Tach, Frau Salosch!“ Ich grinse die Vorsitzende breit an. „Sie sollten wissen, dass ich keine Mörder, sondern grundsätzlich Unschuldige vertrete. Es sind die schrecklichen Justizirrtümer, die mir offenbar diesen Ruf eingebracht haben. Im Übrigen, wollte ich mal sehen, was Sie hier so den ganzen Tag treiben.“ Es entspannt sich ein freundliches Gespräch über die Leiden einer müden OWi-Richterin, den Mangel an Mitarbeitern in der Geschäftsstelle, die Flut von sinnlosen Einsprüchen gegen ach so klare Bußgeldbescheide, die zu 99 Prozent alle verworfen werden, und den Unsegen von Rechtsschutzversicherungen. „Und da wir schon mal beim Thema sind, glauben Sie ja nicht, mich mit Ihrem Charme becircen zu können. Der Fall Ihres Mandanten ist doch glasklar! Zwei Polizeibeamte haben Ihren Mandanten bei einer gezielten Überwachung mit dem Handy am Ohr erwischt! Wetten, dass Herr …“, sie blättert in der Akte … “ Telefonikis eine Rechtsschutzversicherung hat?“ Da wir irgendwie noch in einer Art informellem Vorgespräch sind und ich auch etwas zum allgemeinen Wehklagen beitragen möchte, berichte ich Ihr von meinen frustrierenden Erfahrungen mit dem Zeugenbeweis in jüngster Zeit. „Der Zeugenbeweis war ja schon immer das schlechteste Beweismittel, aber in letzter Zeit …, ich weiß nicht, ob es an diesen Gerichtsshows oder der zunehmenden Respektlosigkeit gegenüber der Justiz liegt …, aber es treibt  einem zunehmend die Verzweiflung ins Gesicht, was man sich heutzutage so alles für einen Schmarren in der Hauptverhandlung anhören muss.“ Die Richterin stimmt mir entschieden zu: „Da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen! Neulich ging es um einen Verkehrsunfall. Jeder Zeuge hatte was anderes gesehen. Einmal kam das Auto von rechts, einmal von links, einmal war es ein blaues, beim nächsten Zeugen ein gelbes Auto … und als dann die Polizeibeamten aussagten …, die reine Katastrophe …, der eine Beamte hatte ein rotes Auto in Erinnerung, der andere Beamte, ein grünes. Da wird man ja irre!“ Ich quittiere ihre kleine Anekdote mit einem Lächeln, beschreibe noch kurz das zum Thema passende Basketball-Video über die Unsicherheiten des Zeugenbeweises, und die Richterin tritt in die Beweisaufnahme ein. „Okay!“, sagt sie. „Nehmen Sie den Einspruch zurück?“ „Ich befürchte, nein. Noch einen Justizirrtum kann ich einfach nicht ertragen.“ Herr Telefonikis bestreitet telefoniert zu haben. Der erste Polizeibeamte weist daraufhin, dass der Vorfall schon Monate zurückliegt und er fast jeden Tag an der fraglichen Stelle Überwachungen vornimmt. Er sei sich aber sicher, dass Herr T. das Handy am Ohr gehabt habe. Auf meine Frage, wo er denn genau gestanden habe und wo sich sein Kollege zu der Zeit befunden habe, ist er sicher, dass er auf der einen Seite der Straße, sein Kollege aber auf der anderen Straßenseite gestanden habe. Das machten sie immer so. Der nächste Zeuge, der Polizeikollege, ist sich seiner Beobachtung ebenfalls ganz sicher. Er habe unmittelbar neben seinem Kollegen auf der gleichen Straßenseite alles beobachtet. Das machten sie immer so. Die Richterin lächelt mich gequält an: „Mit ner Einstellung einverstanden?“ Auch wenn es mir schwer fällt, willige ich nach einigem Hin und Her ein. Zum Abschied zwinkert mir die Richterin zu: „Und er hat doch telefoniert!“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach