Da wird man ja irre!

„Ah, unser Herr Meister beehrt uns in den Niederungen einer Bußgeldsache. Was tun Sie hier? Sind Ihnen die Mörder ausgegangen?“, begrüßt mich die freundliche Amtsrichterin mit einem süffisanten Lächeln.

„Tach, Frau Salosch!“ Ich grinse die Vorsitzende breit an. „Sie sollten wissen, dass ich keine Mörder, sondern grundsätzlich Unschuldige vertrete. Es sind die schrecklichen Justizirrtümer, die mir offenbar diesen Ruf eingebracht haben. Im Übrigen, wollte ich mal sehen, was Sie hier so den ganzen Tag treiben.“

Es entspannt sich ein freundliches Gespräch über die Leiden einer müden OWi-Richterin, den Mangel an Mitarbeitern in der Geschäftsstelle, die Flut von sinnlosen Einsprüchen gegen ach so klare Bußgeldbescheide, die zu 99 Prozent alle verworfen werden, und den Unsegen von Rechtsschutzversicherungen.

„Und da wir schon mal beim Thema sind, glauben Sie ja nicht, mich mit Ihrem Charme becircen zu können. Der Fall Ihres Mandanten ist doch glasklar! Zwei Polizeibeamte haben Ihren Mandanten bei einer gezielten Überwachung mit dem Handy am Ohr erwischt! Wetten, dass Herr …“, sie blättert in der Akte … “ Telefonikis eine Rechtsschutzversicherung hat?“

Da wir irgendwie noch in einer Art informellem Vorgespräch sind und ich auch etwas zum allgemeinen Wehklagen beitragen möchte, berichte ich Ihr von meinen frustrierenden Erfahrungen mit dem Zeugenbeweis in jüngster Zeit. „Der Zeugenbeweis war ja schon immer das schlechteste Beweismittel, aber in letzter Zeit …, ich weiß nicht, ob es an diesen Gerichtsshows oder der zunehmenden Respektlosigkeit gegenüber der Justiz liegt …, aber es treibt  einem zunehmend die Verzweiflung ins Gesicht, was man sich heutzutage so alles für einen Schmarren in der Hauptverhandlung anhören muss.“

Die Richterin stimmt mir entschieden zu: „Da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen! Neulich ging es um einen Verkehrsunfall. Jeder Zeuge hatte was anderes gesehen. Einmal kam das Auto von rechts, einmal von links, einmal war es ein blaues, beim nächsten Zeugen ein gelbes Auto … und als dann die Polizeibeamten aussagten …, die reine Katastrophe …, der eine Beamte hatte ein rotes Auto in Erinnerung, der andere Beamte, ein grünes. Da wird man ja irre!“

Ich quittiere ihre kleine Anekdote mit einem Lächeln, beschreibe noch kurz das zum Thema passende Basketball-Video über die Unsicherheiten des Zeugenbeweises, und die Richterin tritt in die Beweisaufnahme ein.

„Okay!“, sagt sie. „Nehmen Sie den Einspruch zurück?“

„Ich befürchte, nein. Noch einen Justizirrtum kann ich einfach nicht ertragen.“

Herr Telefonikis bestreitet telefoniert zu haben. Der erste Polizeibeamte weist daraufhin, dass der Vorfall schon Monate zurückliegt und er fast jeden Tag an der fraglichen Stelle Überwachungen vornimmt. Er sei sich aber sicher, dass Herr T. das Handy am Ohr gehabt habe. Auf meine Frage, wo er denn genau gestanden habe und wo sich sein Kollege zu der Zeit befunden habe, ist er sicher, dass er auf der einen Seite der Straße, sein Kollege aber auf der anderen Straßenseite gestanden habe. Das machten sie immer so. Der nächste Zeuge, der Polizeikollege, ist sich seiner Beobachtung ebenfalls ganz sicher. Er habe unmittelbar neben seinem Kollegen auf der gleichen Straßenseite alles beobachtet. Das machten sie immer so.

Die Richterin lächelt mich gequält an: „Mit ner Einstellung einverstanden?“

Auch wenn es mir schwer fällt, willige ich nach einigem Hin und Her ein.

Zum Abschied zwinkert mir die Richterin zu: „Und er hat doch telefoniert!“

Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach


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