Verbotene Liebe
Es ist verrückt und – anders als im alten Griechenland oder der römischen Antike – heute kaum mehr vorstellbar. Da verliebt sich eine damals 13-Jährige unsterblich in ihren Traummann und schwört, ihn mit 18 heiraten zu wollen. Sie schreiben sich schwulstige Liebesbriefchen mit aufgemalten Herzchen – alles im Geheimen, denn natürlich soll die Mutter von dieser großen Liebe nichts erfahren. In Komplizenschaft mit der ein Alibi gebenden besten Freundin schleicht sie sich von zu Hause weg und reist mehrfach mit dem Zug 500 km zu ihrem Liebsten. Sie will, wenn auch nur für ein paar Stunden, mit ihm zusammen sein. Kurzum, die beiden führen sich auf wie Teenies, und das alles wäre richtig süß, wenn der geliebte Traumprinz nicht 56 Jahre alt wäre. Schließlich landen sie im Bett und tun das, was Liebespaare dort so im Allgemeinen tun. In den nächsten Wochen schweben sie auf Wolke 7 und die ganze Welt erscheint in rosarote Watte gepackt, bis die bunte Seifenblase mit einem für Seifenblasen unüblichen riesengroßen Knall platzt. Die beste Freundin der 13-Jährigen konnte das aufregende Geheimnis nicht länger hüten und verplappert sich gegenüber ihrer Mutter, die sofort initiativ wird. Es endet wie es enden musste – mit 4 Jahren Haft wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen. Mit Urteilsverkündung wird der immer noch schwer verliebte Mann unter dem Versprechen, keinen Kontakt mehr zu dem Mädchen aufzunehmen, von der Untersuchungshaft verschont. Dies war ihm schon zuvor nach dem Gewaltschutzgesetz untersagt worden, aber er will sich daran nicht halten, schlägt jeden Rat seines Verteidigers in den Wind und kann offenbar nicht anders. Kurz vor Antritt seiner Strafe schreibt er in wenigen Tagen 4 weitere Liebesbriefe und versendet ein Geschenkpäckchen. Erst dann kommt er wieder zu Bewußtsein und bricht jeden Kontakt zu dem Mädchen ab. Er hat eingesehen, dass die letzte große Liebe seines Lebens – wie er es formuliert – keine Zukunft hat. 9 Monate später erhält er im Gefängnis erneut Besuch von der Polizei, die ihn zu einem neuen Verfahren wegen 5-fachen Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz vernehmen will. Heute wurde der Mann wegen seiner letzten Liebesbezeugungen zu weiteren vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Die Anregung des Verteidigers, das Verfahren im Hinblick auf die noch zu verbüßende lange Freiheitsstrafe einzustellen, fand bei der Staatsanwaltschaft kein Gehör. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Kleptomanin Selma
Selma ist 34 Jahre alt und verheiratet mit einem türkischen Landsmann. Beide waren noch Kinder, als sie mit ihren Familien aus der Türkei nach Deutschland zogen. Selma ist eine vorbildliche Mutter von 2 kleinen Kindern, führt ordentlich ihren Haushalt und hat zwei Nebenjobs als Putzhilfe und Helferin in einem Altenpflegeheim. Da ihr Mann ebenso fleißig ist und als Produktionshelfer viele Überstunden leistet, geht es der Familie finanziell gut. Sie leben zurückgezogen in einem kleinen Eigenheim auf dem Land und sind dennoch in der türkischen Gemeinde gut integriert. Der Mann legt Wert auf den Kontakt zu seiner Großfamilie, verabscheut aber die Familie von Selma. Heimlich telefoniert sie manchmal mit ihren betagten Mutter, die immer noch unter dem tyrannischen Vater leidet, und manchmal trifft sie sich mit ihren jüngeren Geschwistern. Auch das wird von ihrem Ehemann nicht gerne gesehen. Diese unspektakulären biographischen Daten kenne ich aus ihren vielen Strafakten und psychiatrischen Gutachten. Ansonsten weiß ich von Selma so gut wie nichts. In ihrer Verzweiflung ist sie schweigsam und verschlossen. Nur einmal ließ sie mich für einen kurzen Moment in ihre Seele blicken. Wir saßen in meinem Büro, führten wieder mal ein stockendes Gespräch, und ich versuchte durch behutsame Fragen, die eigentlichen Ursache für ihre mittlerweile knastträchtigen Diebstähle zu ergründen. Meine Fragen kreisten immer wieder um ihre Kindheit, und für einen Augenblick als ihre Selbstkontrolle bröckelte, trotzte ich ihr den Versuch einer Selbsterklärung ab. Zurückversetzt in ihre Kindheit schloss Selma die Augen und wie in Trance erinnerte sie sich. Ihre kleine Geschichte habe ich noch bildhaft vor Augen: Der modrige Herbstgeruch weicht langsam der Winterkälte. Es ist dämmrig und feucht. Vom Hochhaus aus sieht man nur noch die kontrastarmen Umrisse von Bäumen und Büschen. Dazwischen die nun schwarzen Balken des Klettergerüsts und vielleicht die Schaukelketten, aber dazu ist es eigentlich zu dunkel. Wer hier lebt, könnte wissen, dass da unten auf dem Spielplatz nur noch Selma und ihre kleineren Geschwister warten, aber es interessiert niemanden. Der einsetzende Nachtwind wirbelt die Kinderstimmen gegen die Hauswände bis hinauf in die obersten Stockwerke. Aber um diese Jahreszeit sind die Fenster geschlossen. Denkt man die Kinder hinweg, herrscht verlassene Ruhe. Die Kinder sind hungrig und müde. Endlich öffnet sich im 5. Stock ein Fenster. Der Vater pfeift, und die Kinder rennen zum Eingang – die 5 Treppen hinauf. Der Aufzug ist kaputt. Mit ihren ausgezogenen Schuhen in der Hand stehen sie nun schweigend vor der geschlossenen Wohnungstüre. Einmal müssen sie den Lichtschalter im Treppenhaus drücken ehe die Mutter sie hereinlässt. Sie schleichen in die Küche, vorbei am Wohnzimmer, wo der Vater vorm Fernseher sitzt und stürzen sich auf das Essen. Schweigend tauschen sie verstohlene Blicke. Der Vater will seine Ruhe und erst Jahre später wird Selama sich fragen, warum er sie und die Geschwister in die Welt gebracht hat. Nach der Schule ist es Selmas Aufgabe, sich um die Kleinen zu kümmern, aber heute hilft ihr die Mutter, die Geschwister ins Bett zu bringen. Nie wird Selma die zarten Hände der Mutter vergessen, die ihr abends das lange zerzauste Haar kämmten, und nie den Streit der Eltern, den sie von ihren Betten aus hörten. Die Mutter ist schwach, und seit ihrem 12. Lebensjahr spürt Selma immer mehr die auf ihr lastende Verantwortung, auch für den Vater, den sie trotz allem liebt, und der auch nicht aus seiner Haut kann. Auch für ihn spürt sie zeitlebens Verantwortung. So hat sie es gelernt. Um die Geschwister zu entschädigen, beginnt sie Spielzeug und Süßigkeiten aus den umliegenden Geschäften zu stehlen, und das ist auch ein süßer Trost für sie. Mit 18 heiratet Selma und bekommt schnell zwei Kinder. Sie will es besser machen als ihre Eltern. Vielleicht hat sie gehofft, der Verantwortung zu entfliehen, sie einzutauschen gegen eine andere, bessere. Aber es funktioniert nicht. Nun hat sie zwei “Verantwortungen”, mit denen sie schnell in Konflikt gerät. Mit niemandem kann sie darüber reden. Gegenüber jeder Seite hat sie ein schlechtes Gewissen, keiner Seite kann sie gerecht werden – so jedenfalls empfindet sie es. Wenn der familiäre Druck zu groß wird, überkommt Selma dieser unbeschreibliche Drang. Sie steht im Kaufhaus und kann ihm nicht widerstehen. Obwohl sie genug Geld dabei hat, fängt sie an, sich wahllos Dinge in die Taschen zu stecken: Tischtennisbälle, Vogelfutter oder Zigaretten, die sie nicht raucht; einfach irgendetwas, um dieses schreckliche Gefühl loszuwerden. Bei diesen letzten Sätzen öffnet Selma die Augen, und obwohl ich eine weitaus schlimmere Geschichte erwartet hätte, kullern Tränen aus ihren dunklen Augen. Dann verstummt sie ganz und kein weiteres Wort ist aus ihr herauszuholen. Am nächsten Tag ist ihre Hauptverhandlung. Die Richterin erörtert Selmas Vorstrafen, ihre drei laufenden Bewährungen und auch das bei der letzten Verurteilung von mir beantragte Sachverständigengutachten. Der Gutachter hatte keine Kleptomanie oder andere seelische Störung angenommen und sie für voll schuldfähig erklärt. Diesmal sieht es schlecht aus für Selma, und sie weiß es. Zusammen mit der sehr engagierten Bewährungshelferin schaffen wir es schließlich doch, den sehr freundlichen Staatsanwalt und die Richterin von einer erneuten Bewährungsstrafe zu überzeugen. Währenddessen hat Selma ihre Haare vor´s Gesicht gezogen und sich so schief hingesetzt, dass sie mit dem Rücken zum Publikum sitzt. Es sieht aus, als wolle sie ihr Gesicht verstecken, und genau das versucht sie. Im Zuschauerraum sitzt eine Schulklasse, die das Geschehen aufmerksam verfolgt. Während die Bewährungshelferin nocheinmal die familiäre Situation der Angeklagten schildert, fragt Selma mich flüsternd nach türkischen Schülern im Zuschauerraum. Sie hat Angst von irgendjemanden aus der türkischen Gemeinde erkannt zu werden. Wenn ihr Mann herausbekäme, dass Selma eine Diebin ist, ginge es ihr schlecht. Die Vorstrafen und die heutige Hauptverhandlung müssen geheim bleiben. Sie hat halt niemanden, mit dem sie reden kann. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Wer anderen eine Grube gräbt!
Bei einer sachlich komplexen und juristisch schwierigen Betrugssache stand die Sockelverteidigung. Meine beiden Mitverteidiger (Kollege 1 und Kollege 2) und ich waren in einem ausführlichen Gespräch zu der Entscheidung gekommen, dass alle 3 Angeklagten schweigen sollten. Aufgrund dieser Sachlage entschied sich das Gericht beim ersten Verhandlungsauftakt, die Sache auszusetzen, um weitere Beweismittel anzufordern. Beim zweiten Prozessauftakt erlebte ich dann zusammen mit dem Verteidiger (Kollege 1), der sich an unsere Absprache gehalten hatte, eine zunächst böse Überraschung. Wir erfuhren, dass der dritte Angeklagte kurz zuvor in einer anderen kleinen Strafsache bei einem anderen Richter eine Hauptverhandlung hinter sich gebracht hatte. Aus noch ungeklärten Gründen hatte man „unsere“ Sache mit dem dortigen Verfahren verbunden. Der Kollege 2 gab für seinen Mandanten dort sodann ein umfassendes Geständnis ab, wonach alle Drei als Mittäter gehandelt hätten und erzielte damit für seinen Mandanten ein zweijährige Bewährungsstrafe. Herzlichen Glückwunsch! Um die Sache aber so richtig kollegial abzurunden, erklärte er einen sofortigen Rechtsmittelverzicht und vergaß offenbar, seine „Sockelbrüder“ über sein kollegiales Verhalten zu informieren. Der dritte Angeklagte saß nun also nicht mehr mit auf der Anklagebank, sondern wartete brav draußen vor dem Gerichtssaal auf seinen Aufruf als Belastungszeuge. Nach Verlesung der Anklageschrift sagte ich: „Herr Vorsitzender! Angesichts dieser neuen Umstände hat die Verteidigung im Moment nur zwei Möglichkeiten: entweder wir ziehen uns zu einem freundlichen Rechtsgespräch zurück ins Beratungszimmer, oder ich muss eine einstündige Unterbrechung beantragen, um mir noch einmal genau die Akte anzuschauen und gewisse, möglicherweise auch unaufschiebbare Anträge zu formulieren. Sie werden Verständnis dafür haben, dass mich die Abtrennung des Verfahrens bezüglich des neuen Belastungszeugen irritiert. Ich frage mich, wie es kam, dass die Sache ohne unsere Kenntnis vom Schöffengericht an den Amtsrichter zur dortigen gemeinsamen Verhandlung mit einer „Pipi-Sache“ abgegeben wurde.“ Der überaus freundliche Vorsitzende nahm meinen Vorschlag auf, und die Profis zogen sich mit den Schöffen ins Beratungszimmer zurück. Dort erfuhren wir in sehr gelöster Atmosphäre, dass der damalige Mitverteidiger kurzfristig den Amtsrichter für einen solchen Vorschlag gewonnen hatte und dann auf kurzem Dienstweg die Abtrennung und Hinzuverbindung beim Amtsrichter erfolgt sei – aus prozessökonomischen Gründen. „Nun, ja!“, erwiderte ich freundlich. „Ich nehme das so mal zur Kenntnis. Interessant.“ „Mmh …“ sagte der Richter. „Kann sein, dass das ein bisschen blöd gelaufen ist. Was stellen Sie sich denn vor, meine Herren Verteidiger? Es muss für Ihre Mandanten ja gar nicht so schlimm ausgehen. Ich stelle mir Bewährungsstrafen vor!? Oder was sagen Sie, Frau Staatsanwältin?“ Während die Staatsanwältin zustimmend nickte und noch einmal die Höhe des Schadens hervorhob, erwiderte ich: „Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Ich stelle mir einen ziemlich glatten Freispruch vor – trotz des hohen Schadens. Für einen Moment genoss ich das irritierte Schweigen im Raume, um dann fortzufahren: „Ich muss zugeben, der Fall ist sehr komplex und birgt schwierige juristische Fragen, aber schauen wir uns den in der Anklage angeführten Sachverhalt doch mal genau an und subsumieren ihn dann unter die einschlägige Vorschrift. Und das taten wir dann gemeinsam, wie früher im Seminar und siehe da: Die Anklage zerbröselte und hinterließ staubige kleine Bröckchen auf dem Fußboden, die unangenehm knirschten, wenn man versehentlich darauf trat. Die Staatsanwältin hörte eine Weile schweigend zu und sagte dann: „Tja, die Krümel kann jemand anders aufkehren. Die Anklage ist aus rechtlichen Gründen tatsächlich nicht zu halten. Ich werde einen Freispruch beantragen. Wieso der Amtsrichter bezüglich des Belastungszeugen zu einer Verurteilung gekommen ist, ist mir schleierhaft.“ Ich lächelte meinen Kollegen siegesgewiss an und antwortete: „So sieht´s aus!“ Nach einer 15-minütige Beratungspause verkündete das Gericht sein Interesse an einer kurzen Beweisaufnahme. Die Staatsanwältin hielt ein 3-wortiges Plädoyer (Ich beantrage Freispruch), das mein Kollege und ich mit einem 8-wortigen Plädoyer toppten (Wir schließen uns dem Antrag der Staatsanwaltschaft an), und die Sache war geritzt. Die Angeklagten verstanden die Welt nicht mehr, wo sich doch der dritte Angeklagte für seinen „Verrat“ mit der Begründung entschuldigt hatte, sein Verteidiger habe ihm dringend geraten, die Flucht nach vorne anzutreten, um das sensationelle Ergebnis einer Bewährungsstrafe noch so gerade zu ermöglichen. Auf die nächste Begegnung mit diesem Kollegen freue ich mich nicht wirklich, obwohl er eigentlich ein netter Kerl ist. Besonders schlimm an der Geschichte ist, dass es sich um einen meiner Ex-Referendare handelt. Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Los ihr Scheißbullen, schießt mir in den Kopf!
Seit 20 Jahren lese ich den Akten den Namen Kuczera. POK Kuczera, der Dorfsheriff eines berüchtigten Stadtteils aus der Umgebung. Und wenn ich mit meinen oft jugendlichen Mandanten aus diesem Stadtteil rede, höre ich immer wieder seinen Namen. „Der Kuczera hat mich wieder am Arsch!“ oder „Verdammt, der hat seine Elefantenohren überall!“ oder „Ich glaube es gibt richtigen Ärger! Der Kuczera war bei meinen Eltern. Ich traue mich nicht nach Hause.“ So oder so ähnlich reden die jungen Leute von diesem Polizisten. Und wenn ich meinen jungen Mandanten ins Gewissen rede und ihnen rate, mit der Scheiße aufzuhören, zur Drogenberatung zu gehen, sich wieder um Schule oder Ausbildung zu kümmern oder im Wege des Täter-Opfer-Ausgleichs auf die Geschädigten zuzugehen, höre ich oft, „Ja, das hat der Kuczera auch schon gesagt.“ Bei aller grundsätzlichen Ablehnung gegen die Polizei, entnehme ich Ihren Sprüchen einen gewissen Respekt für „ihren“ Dorfsheriff, den ich bis heute noch nicht persönlich kennengelernt hatte. Aus Erzählungen über ihn und aus seinen merkwürdig freundlichen Aktenvermerken, die ich in den letzten Jahren gelesen hatte, war bei mir das Bild eines Streetworker-Polizisten entstanden. So fand ich Vermerke, in denen es z.B. hieß: „Selim, denen ich seit seiner frühen Kindheit kenne und der aus schwierigen familiären Verhältnissen stammt, stellte sich heute persönlich bei mir auf der Wache vor und entschuldigte sich für die angezeigte Straftat. Die Entschuldigung war aufrichtig und wurde angenommen!“ Solchermaßen wohlwollende polizeiliche Aktenvermerke, die im weiteren Strafverfahren den Beschuldigten helfen sollen, liest man selten und so war ich gespannt, diesen Polizisten anlässlich der heutigen Hauptverhandlung persönlich kennenzulernen. Da mein Mandant zwei Besprechungstermine nicht wahrgenommen hatte, war ich in der Hoffnung, vor der Hauptverhandlung noch einmal mit ihm sprechen zu können, früh beim Amtsgericht. Vor der Schleuse stand eine Schlange, die geduldig auf Einlass ins Gericht wartete. Ich drängelte mich entschlossen vor und betrat als erster die Schleuse. Ein freundlicher Herr zuckte einen Behördenausweis und folgte mir mit den Worten: „Wenn Sie das können, versuche ich das auch mal.“ Der Justizbeamte hinter seiner Panzerglasscheibe musterte uns ungehalten und verwies auf das Eingangsschild, wonach immer nur einer die Schleuse betreten durfte. Wir zuckten entschuldigend die Achseln und verwiesen auf unsere Ausweise. „Ja, ja, aber Verkehrsschilder gelten auch für solche wie euch, oder?“ Gemeinsam und amüsiert über den Anschiss betraten wir scherzend die Eingangshalle des Gerichts. Der Beamte schien den gleichen Weg zu haben, und so blieben wir bis zum Gerichtsaal weiter im Gespräch. „Ach, Sie sind auch in der Neunuhr-Sache hier?“, fragte ich. „Ja, und Sie sind bestimmt Rechtsanwalt Meister, der Anwalt, der anscheinend den ganzen Stadtteil vertritt?“ „Nein, nein!“, erwiderte ich. „Ich vertrete nur die Guten aus diesem Stadtteil! Und Sie sind Herr Kuczera?“ Ein weiterer Beamte, der ebenfalls als Zeuge geladen war, trat auf uns zu und fragte seinen Kollegen: „Wo bleibt denn der Kuczera?“, was meine Frage beantwortete. „Das ist übrigens Rechtsanwalt Meister, der uns immer so bei den Ermittlungen behindert!“, wurde ich freundlich vorgestellt. „Wir haben schon oft miteinander telefoniert.“, sagte der neu hinzugetretene Beamte und reichte mir die Hand. „Immer wenn wir jemanden bei uns verhaften, heißt es sofort: `Hier ist mein Anwalt am Telefon´ und dann höre ich von Ihnen immer – `Mein Mandant macht keine Angaben, usw.´ Mann, das kann ganz schön nerven!“ Dabei lächelte mich der Polizist frech an. Ich schaute auf meine Uhr. Fünf nach Neun. Verdammt, wo blieb denn nur mein Mandant? „Wetten, dass Selim nicht oder zu spät zur Verhandlung kommt?“, sagte der andere Beamte und blickt ebenfalls auf seine Uhr. „Naja“, erwidere ich, „der Kuczera scheint sich ebenfalls zu verspäten! Kann ja mal vorkommen!“ Trotzdem ärgerte ich mich insgeheim über diesen unzuverlässigen Selim. Und wenn ich schon keine Informationen von Selim bekam, fragte ich die beiden Beamten: „Was war da eigentlich los? Die Akte liest sich ja wie eine Räuberpistole.“ „Zu viel Koks, zu viel Alkohol. Selim stürmte in die Wache, stürzte in Kuczeras Zimmer und brüllte los: `Schieß mir in den Kopf, du Scheißbulle. Als ihn Kuczera beruhigen wollte, schlug Selim ihm ins Gesicht und versuchte die Pistole aus dessen Holster zu ziehen. Kuczera rief um Hilfe und bekam weitere heftige Schläge ins Gesicht. Zum Glück waren wir als ältere Beamte vor Ort. Selim war wie von Sinnen, schlug um sich und brüllte immer wieder, `Schießt mir in den Kopf!´. Unerfahrenere Kollegen hätten Selim wahrscheinlich erschossen. So haben wir ihn letztlich überwältigt und in eine Zelle gesperrt. Das war krass!“ In diesem Moment erschien vom anderen Ende des Gerichtsflurs Selim in Begleitung eines älteren, weißhaarigen Mannes. Die beiden schienen es nicht eilig zu haben. Sie unterhielten sich freundschaftlich. Der ältere Herr legte Selim die Hand um die Schulter, wobei er laut lachte, als sie auf uns zukamen und uns begrüßten. „Hallo, Herr Meister! Sorry für die Verspätung!“, sagte Selim. „Das ist übrigens der arme Polizist, den ich geschlagen habe. Mann, was war ich für ein Idiot.“ Und an Kuczera gewandt, fügte er kumpelhaft hinzu: „Tut mir echt leid! Aber Sie haben mir doch verziehen, stimmt´s?“ Kuczera und ich sahen uns neugierig an und sagten unisono: „Schon viel von Ihnen gehört!“, und weil das so gleichzeitig kam, mussten wir beide lachen. „Ich hoffe, sie fassen das nicht als Beamtenbeleidigung auf!“, sagte ich. „Zwei Dumme, ein Gedanke. Freut mich wirklich Sie endlich mal persönlich kennenzulernen. Seit Jahren geistert Ihr Name durch die Akten, und ich habe den Eindruck gewonnen, Sie sind einer von den richtig Guten!“ Kuczera lächelte mich bescheiden an, während seine Kollegen sich in gespielter Empörung über das einseitige Lob beschwerten: „Wieso heimst der eigentlich immer die Komplimente – und dann noch von der falschen Seite – ein?! Wir sind auch gar nicht so übel, oder was sagst du dazu, Selim?“ „Das stimmt, Herr Meister! Die sind auch schwer in Ordnung, wenn man nicht gerade Streit mit ihnen hat. Mann, was habt ihr mir damals die Hucke vollgehauen! Aber, ich hatte es ja wohl auch verdient!“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Wenn ihr nicht gewesen wärt, stünde ich heute nicht hier. Eure jüngeren Kollegen hätten mich bestimmt erschossen.“