Los ihr Scheißbullen, schießt mir in den Kopf!

Seit 20 Jahren lese ich den Akten den Namen Kuczera. POK Kuczera, der Dorfsheriff eines berüchtigten Stadtteils aus der Umgebung. Und wenn ich mit meinen oft jugendlichen Mandanten aus diesem Stadtteil rede, höre ich immer wieder seinen Namen. „Der Kuczera hat mich wieder am Arsch!“ oder „Verdammt, der hat seine Elefantenohren überall!“ oder „Ich glaube es gibt richtigen Ärger! Der Kuczera war bei meinen Eltern. Ich traue mich nicht nach Hause.“ So oder so ähnlich reden die jungen Leute von diesem Polizisten.

Und wenn ich meinen jungen Mandanten ins Gewissen rede und ihnen rate, mit der Scheiße aufzuhören, zur Drogenberatung zu gehen, sich wieder um Schule oder Ausbildung zu kümmern oder im Wege des Täter-Opfer-Ausgleichs auf die Geschädigten zuzugehen, höre ich oft, „Ja, das hat der Kuczera auch schon gesagt.“

Bei aller grundsätzlichen Ablehnung gegen die Polizei, entnehme ich Ihren Sprüchen einen gewissen Respekt für „ihren“ Dorfsheriff, den ich bis heute noch nicht persönlich kennengelernt hatte. Aus Erzählungen über ihn und aus seinen merkwürdig freundlichen Aktenvermerken, die ich in den letzten Jahren gelesen hatte, war bei mir das Bild eines Streetworker-Polizisten entstanden. So fand ich Vermerke, in denen es z.B. hieß: „Selim, denen ich seit seiner frühen Kindheit kenne und der aus schwierigen familiären Verhältnissen stammt, stellte sich heute persönlich bei mir auf der Wache vor und entschuldigte sich für die angezeigte Straftat. Die Entschuldigung war aufrichtig und wurde angenommen!“

Solchermaßen wohlwollende polizeiliche Aktenvermerke, die im weiteren Strafverfahren den Beschuldigten helfen sollen, liest man selten und so war ich gespannt, diesen Polizisten anlässlich der heutigen Hauptverhandlung persönlich kennenzulernen.

Da mein Mandant zwei Besprechungstermine nicht wahrgenommen hatte, war ich in der Hoffnung, vor der Hauptverhandlung noch einmal mit ihm sprechen zu können, früh beim Amtsgericht. Vor der Schleuse stand eine Schlange, die geduldig auf Einlass ins Gericht wartete. Ich drängelte mich entschlossen vor und betrat als erster die Schleuse. Ein freundlicher Herr zuckte einen Behördenausweis und folgte mir mit den Worten: „Wenn Sie das können, versuche ich das auch mal.“ Der Justizbeamte hinter seiner Panzerglasscheibe musterte uns ungehalten und verwies auf das Eingangsschild, wonach immer nur einer die Schleuse betreten durfte. Wir zuckten entschuldigend die Achseln und verwiesen auf unsere Ausweise. „Ja, ja, aber Verkehrsschilder gelten auch für solche wie euch, oder?“

Gemeinsam und amüsiert über den Anschiss betraten wir scherzend die Eingangshalle des Gerichts. Der Beamte schien den gleichen Weg zu haben, und so blieben wir bis zum Gerichtsaal weiter im Gespräch. „Ach, Sie sind auch in der Neunuhr-Sache hier?“, fragte ich.

„Ja, und Sie sind bestimmt Rechtsanwalt Meister, der Anwalt, der anscheinend den ganzen Stadtteil vertritt?“

„Nein, nein!“, erwiderte ich. „Ich vertrete nur die Guten aus diesem Stadtteil! Und Sie sind Herr Kuczera?“

Ein weiterer Beamte, der ebenfalls als Zeuge geladen war, trat auf uns zu und fragte seinen Kollegen: „Wo bleibt denn der Kuczera?“, was meine Frage beantwortete.

„Das ist übrigens Rechtsanwalt Meister, der uns immer so bei den Ermittlungen behindert!“, wurde ich freundlich vorgestellt.

„Wir haben schon oft miteinander telefoniert.“, sagte der neu hinzugetretene Beamte und reichte mir die Hand. „Immer wenn wir jemanden bei uns verhaften, heißt es sofort: `Hier ist mein Anwalt am Telefon´ und dann höre ich von Ihnen immer – `Mein Mandant macht keine Angaben, usw.´ Mann, das kann ganz schön nerven!“ Dabei lächelte mich der Polizist frech an. Ich schaute auf meine Uhr. Fünf nach Neun. Verdammt, wo blieb denn nur mein Mandant?

„Wetten, dass Selim nicht oder zu spät zur Verhandlung kommt?“, sagte der andere Beamte und blickt ebenfalls auf seine Uhr.

„Naja“, erwidere ich, „der Kuczera scheint sich ebenfalls zu verspäten! Kann ja mal vorkommen!“ Trotzdem ärgerte ich mich insgeheim über diesen unzuverlässigen Selim. Und wenn ich schon keine Informationen von Selim bekam, fragte ich die beiden Beamten: „Was war da eigentlich los? Die Akte liest sich ja wie eine Räuberpistole.“

„Zu viel Koks, zu viel Alkohol. Selim stürmte in die Wache, stürzte in Kuczeras Zimmer und brüllte los: `Schieß mir in den Kopf, du Scheißbulle. Als ihn Kuczera beruhigen wollte, schlug Selim ihm ins Gesicht und versuchte die Pistole aus dessen Holster zu ziehen. Kuczera rief um Hilfe und bekam weitere heftige Schläge ins Gesicht. Zum Glück waren wir als ältere Beamte vor Ort. Selim war wie von Sinnen, schlug um sich und brüllte immer wieder, `Schießt mir in den Kopf!´. Unerfahrenere Kollegen hätten Selim wahrscheinlich erschossen. So haben wir ihn letztlich überwältigt und in eine Zelle gesperrt. Das war krass!“

In diesem Moment erschien vom anderen Ende des Gerichtsflurs Selim in Begleitung eines älteren, weißhaarigen Mannes. Die beiden schienen es nicht eilig zu haben. Sie unterhielten sich freundschaftlich. Der ältere Herr legte Selim die Hand um die Schulter, wobei er laut lachte, als sie auf uns zukamen und uns begrüßten.

„Hallo, Herr Meister! Sorry für die Verspätung!“, sagte Selim. „Das ist übrigens der arme Polizist, den ich geschlagen habe. Mann, was war ich für ein Idiot.“ Und an Kuczera gewandt, fügte er kumpelhaft hinzu: „Tut mir echt leid! Aber Sie haben mir doch verziehen, stimmt´s?“

Kuczera und ich sahen uns neugierig an und sagten unisono: „Schon viel von Ihnen gehört!“, und weil das so gleichzeitig kam, mussten wir beide lachen. „Ich hoffe, sie fassen das nicht als Beamtenbeleidigung auf!“, sagte ich. „Zwei Dumme, ein Gedanke. Freut mich wirklich Sie endlich mal persönlich kennenzulernen. Seit Jahren geistert Ihr Name durch die Akten, und ich habe den Eindruck gewonnen, Sie sind einer von den richtig Guten!“

Kuczera lächelte mich bescheiden an, während seine Kollegen sich in gespielter Empörung über das einseitige Lob beschwerten: „Wieso heimst der eigentlich immer die Komplimente – und dann noch von der falschen Seite – ein?! Wir sind auch gar nicht so übel, oder was sagst du dazu, Selim?“

„Das stimmt, Herr Meister! Die sind auch schwer in Ordnung, wenn man nicht gerade Streit mit ihnen hat. Mann, was habt ihr mir damals die Hucke vollgehauen! Aber, ich hatte es ja wohl auch verdient!“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Wenn ihr nicht gewesen wärt, stünde ich heute nicht hier. Eure jüngeren Kollegen hätten mich bestimmt erschossen.“

Versöhnlich betraten wir den Gerichtssaal und auf die Aussage der polizeilichen Zeugen konnte verzichtet werden. Selim erhielt eine milde Strafe, und beim Verlassen des Gerichtssaals sagte Kuczera: „Selim, du weißt, ich behalte dich im Auge! Hör auf mit den scheiß Drogen, okay?“

Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach


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