Wer anderen eine Grube gräbt!

Bei einer sachlich komplexen und juristisch schwierigen Betrugssache stand die Sockelverteidigung. Meine beiden Mitverteidiger (Kollege 1 und Kollege 2) und ich waren in einem ausführlichen Gespräch zu der Entscheidung gekommen, dass alle 3 Angeklagten schweigen sollten.

Aufgrund dieser Sachlage entschied sich das Gericht beim ersten Verhandlungsauftakt, die Sache auszusetzen, um weitere Beweismittel anzufordern.

Beim zweiten Prozessauftakt erlebte ich dann zusammen mit dem Verteidiger (Kollege 1), der sich an unsere Absprache gehalten hatte, eine zunächst böse Überraschung. Wir erfuhren, dass der dritte Angeklagte kurz zuvor in einer anderen kleinen Strafsache bei einem anderen Richter eine Hauptverhandlung hinter sich gebracht hatte. Aus noch ungeklärten Gründen hatte man „unsere“ Sache mit dem dortigen Verfahren verbunden. Der Kollege 2 gab für seinen Mandanten dort sodann ein umfassendes Geständnis ab, wonach alle Drei als Mittäter gehandelt hätten und erzielte damit für seinen Mandanten ein zweijährige Bewährungsstrafe. Herzlichen Glückwunsch!

Um die Sache aber so richtig kollegial abzurunden, erklärte er einen sofortigen Rechtsmittelverzicht und vergaß offenbar, seine „Sockelbrüder“ über sein kollegiales Verhalten zu informieren.

Der dritte Angeklagte saß nun also nicht mehr mit auf der Anklagebank, sondern wartete brav draußen vor dem Gerichtssaal auf seinen Aufruf als Belastungszeuge.

Nach Verlesung der Anklageschrift sagte ich: „Herr Vorsitzender! Angesichts dieser neuen Umstände hat die Verteidigung im Moment nur zwei Möglichkeiten: entweder wir ziehen uns zu einem freundlichen Rechtsgespräch zurück ins Beratungszimmer, oder ich muss eine einstündige Unterbrechung beantragen, um mir noch einmal genau die Akte anzuschauen und gewisse, möglicherweise auch unaufschiebbare Anträge zu formulieren. Sie werden Verständnis dafür haben, dass mich die Abtrennung des Verfahrens bezüglich des neuen Belastungszeugen irritiert. Ich frage mich, wie es kam, dass die Sache ohne unsere Kenntnis vom Schöffengericht an den Amtsrichter zur dortigen gemeinsamen Verhandlung mit einer „Pipi-Sache“ abgegeben wurde.“

Der überaus freundliche Vorsitzende nahm meinen Vorschlag auf, und die Profis zogen sich mit den Schöffen ins Beratungszimmer zurück. Dort erfuhren wir in sehr gelöster Atmosphäre, dass der damalige Mitverteidiger kurzfristig den Amtsrichter für einen solchen Vorschlag gewonnen hatte und dann auf kurzem Dienstweg die Abtrennung und Hinzuverbindung beim Amtsrichter erfolgt sei – aus prozessökonomischen Gründen.

„Nun, ja!“, erwiderte ich freundlich. „Ich nehme das so mal zur Kenntnis. Interessant.“

„Mmh …“ sagte der Richter. „Kann sein, dass das ein bisschen blöd gelaufen ist. Was stellen Sie sich denn vor, meine Herren Verteidiger? Es muss für Ihre Mandanten ja gar nicht so schlimm ausgehen. Ich stelle mir Bewährungsstrafen vor!? Oder was sagen Sie, Frau Staatsanwältin?“

Während die Staatsanwältin zustimmend nickte und noch einmal die Höhe des Schadens hervorhob, erwiderte ich:

„Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Ich stelle mir einen ziemlich glatten Freispruch vor – trotz des hohen Schadens.

Für einen Moment genoss ich das irritierte Schweigen im Raume, um dann fortzufahren:

„Ich muss zugeben, der Fall ist sehr komplex und birgt schwierige juristische Fragen, aber schauen wir uns den in der Anklage angeführten Sachverhalt doch mal genau an und subsumieren ihn dann unter die einschlägige Vorschrift.

Und das taten wir dann gemeinsam, wie früher im Seminar und siehe da: Die Anklage zerbröselte und hinterließ staubige kleine Bröckchen auf dem Fußboden, die unangenehm knirschten, wenn man versehentlich darauf trat.

Die Staatsanwältin hörte eine Weile schweigend zu und sagte dann: „Tja, die Krümel kann jemand anders aufkehren. Die Anklage ist aus rechtlichen Gründen tatsächlich nicht zu halten. Ich werde einen Freispruch beantragen. Wieso der Amtsrichter bezüglich des Belastungszeugen zu einer Verurteilung gekommen ist, ist mir schleierhaft.“

Ich lächelte meinen Kollegen siegesgewiss an und antwortete: „So sieht´s aus!“

Nach einer 15-minütige Beratungspause verkündete das Gericht sein Interesse an einer kurzen Beweisaufnahme. Die Staatsanwältin hielt ein 3-wortiges Plädoyer (Ich beantrage Freispruch), das mein Kollege und ich mit einem 8-wortigen Plädoyer toppten (Wir schließen uns dem Antrag der Staatsanwaltschaft an), und die Sache war geritzt. Die Angeklagten verstanden die Welt nicht mehr, wo sich doch der dritte Angeklagte für seinen „Verrat“ mit der Begründung entschuldigt hatte, sein Verteidiger habe ihm dringend geraten, die Flucht nach vorne anzutreten, um das sensationelle Ergebnis einer Bewährungsstrafe noch so gerade zu ermöglichen. Auf die nächste Begegnung mit diesem Kollegen freue ich mich nicht wirklich, obwohl er eigentlich ein netter Kerl ist. Besonders schlimm an der Geschichte ist, dass es sich um einen meiner Ex-Referendare handelt. Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben.

Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

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