Los ihr Scheißbullen, schießt mir in den Kopf!

Seit 20 Jahren lese ich den Akten den Namen Kuczera. POK Kuczera, der Dorfsheriff eines berüchtigten Stadtteils aus der Umgebung. Und wenn ich mit meinen oft jugendlichen Mandanten aus diesem Stadtteil rede, höre ich immer wieder seinen Namen. „Der Kuczera hat mich wieder am Arsch!“ oder „Verdammt, der hat seine Elefantenohren überall!“ oder „Ich glaube es gibt richtigen Ärger! Der Kuczera war bei meinen Eltern. Ich traue mich nicht nach Hause.“ So oder so ähnlich reden die jungen Leute von diesem Polizisten. Und wenn ich meinen jungen Mandanten ins Gewissen rede und ihnen rate, mit der Scheiße aufzuhören, zur Drogenberatung zu gehen, sich wieder um Schule oder Ausbildung zu kümmern oder im Wege des Täter-Opfer-Ausgleichs auf die Geschädigten zuzugehen, höre ich oft, „Ja, das hat der Kuczera auch schon gesagt.“ Bei aller grundsätzlichen Ablehnung gegen die Polizei, entnehme ich Ihren Sprüchen einen gewissen Respekt für „ihren“ Dorfsheriff, den ich bis heute noch nicht persönlich kennengelernt hatte. Aus Erzählungen über ihn und aus seinen merkwürdig freundlichen Aktenvermerken, die ich in den letzten Jahren gelesen hatte, war bei mir das Bild eines Streetworker-Polizisten entstanden. So fand ich Vermerke, in denen es z.B. hieß: „Selim, denen ich seit seiner frühen Kindheit kenne und der aus schwierigen familiären Verhältnissen stammt, stellte sich heute persönlich bei mir auf der Wache vor und entschuldigte sich für die angezeigte Straftat. Die Entschuldigung war aufrichtig und wurde angenommen!“ Solchermaßen wohlwollende polizeiliche Aktenvermerke, die im weiteren Strafverfahren den Beschuldigten helfen sollen, liest man selten und so war ich gespannt, diesen Polizisten anlässlich der heutigen Hauptverhandlung persönlich kennenzulernen. Da mein Mandant zwei Besprechungstermine nicht wahrgenommen hatte, war ich in der Hoffnung, vor der Hauptverhandlung noch einmal mit ihm sprechen zu können, früh beim Amtsgericht. Vor der Schleuse stand eine Schlange, die geduldig auf Einlass ins Gericht wartete. Ich drängelte mich entschlossen vor und betrat als erster die Schleuse. Ein freundlicher Herr zuckte einen Behördenausweis und folgte mir mit den Worten: „Wenn Sie das können, versuche ich das auch mal.“ Der Justizbeamte hinter seiner Panzerglasscheibe musterte uns ungehalten und verwies auf das Eingangsschild, wonach immer nur einer die Schleuse betreten durfte. Wir zuckten entschuldigend die Achseln und verwiesen auf unsere Ausweise. „Ja, ja, aber Verkehrsschilder gelten auch für solche wie euch, oder?“ Gemeinsam und amüsiert über den Anschiss betraten wir scherzend die Eingangshalle des Gerichts. Der Beamte schien den gleichen Weg zu haben, und so blieben wir bis zum Gerichtsaal weiter im Gespräch. „Ach, Sie sind auch in der Neunuhr-Sache hier?“, fragte ich. „Ja, und Sie sind bestimmt Rechtsanwalt Meister, der Anwalt, der anscheinend den ganzen Stadtteil vertritt?“ „Nein, nein!“, erwiderte ich. „Ich vertrete nur die Guten aus diesem Stadtteil! Und Sie sind Herr Kuczera?“ Ein weiterer Beamte, der ebenfalls als Zeuge geladen war, trat auf uns zu und fragte seinen Kollegen: „Wo bleibt denn der Kuczera?“, was meine Frage beantwortete. „Das ist übrigens Rechtsanwalt Meister, der uns immer so bei den Ermittlungen behindert!“, wurde ich freundlich vorgestellt. „Wir haben schon oft miteinander telefoniert.“, sagte der neu hinzugetretene Beamte und reichte mir die Hand. „Immer wenn wir jemanden bei uns verhaften, heißt es sofort: `Hier ist mein Anwalt am Telefon´ und dann höre ich von Ihnen immer – `Mein Mandant macht keine Angaben, usw.´ Mann, das kann ganz schön nerven!“ Dabei lächelte mich der Polizist frech an. Ich schaute auf meine Uhr. Fünf nach Neun. Verdammt, wo blieb denn nur mein Mandant? „Wetten, dass Selim nicht oder zu spät zur Verhandlung kommt?“, sagte der andere Beamte und blickt ebenfalls auf seine Uhr. „Naja“, erwidere ich, „der Kuczera scheint sich ebenfalls zu verspäten! Kann ja mal vorkommen!“ Trotzdem ärgerte ich mich insgeheim über diesen unzuverlässigen Selim. Und wenn ich schon keine Informationen von Selim bekam, fragte ich die beiden Beamten: „Was war da eigentlich los? Die Akte liest sich ja wie eine Räuberpistole.“ „Zu viel Koks, zu viel Alkohol. Selim stürmte in die Wache, stürzte in Kuczeras Zimmer und brüllte los: `Schieß mir in den Kopf, du Scheißbulle. Als ihn Kuczera beruhigen wollte, schlug Selim ihm ins Gesicht und versuchte die Pistole aus dessen Holster zu ziehen. Kuczera rief um Hilfe und bekam weitere heftige Schläge ins Gesicht. Zum Glück waren wir als ältere Beamte vor Ort. Selim war wie von Sinnen, schlug um sich und brüllte immer wieder, `Schießt mir in den Kopf!´. Unerfahrenere Kollegen hätten Selim wahrscheinlich erschossen. So haben wir ihn letztlich überwältigt und in eine Zelle gesperrt. Das war krass!“ In diesem Moment erschien vom anderen Ende des Gerichtsflurs Selim in Begleitung eines älteren, weißhaarigen Mannes. Die beiden schienen es nicht eilig zu haben. Sie unterhielten sich freundschaftlich. Der ältere Herr legte Selim die Hand um die Schulter, wobei er laut lachte, als sie auf uns zukamen und uns begrüßten. „Hallo, Herr Meister! Sorry für die Verspätung!“, sagte Selim. „Das ist übrigens der arme Polizist, den ich geschlagen habe. Mann, was war ich für ein Idiot.“ Und an Kuczera gewandt, fügte er kumpelhaft hinzu: „Tut mir echt leid! Aber Sie haben mir doch verziehen, stimmt´s?“ Kuczera und ich sahen uns neugierig an und sagten unisono: „Schon viel von Ihnen gehört!“, und weil das so gleichzeitig kam, mussten wir beide lachen. „Ich hoffe, sie fassen das nicht als Beamtenbeleidigung auf!“, sagte ich. „Zwei Dumme, ein Gedanke. Freut mich wirklich Sie endlich mal persönlich kennenzulernen. Seit Jahren geistert Ihr Name durch die Akten, und ich habe den Eindruck gewonnen, Sie sind einer von den richtig Guten!“ Kuczera lächelte mich bescheiden an, während seine Kollegen sich in gespielter Empörung über das einseitige Lob beschwerten: „Wieso heimst der eigentlich immer die Komplimente – und dann noch von der falschen Seite – ein?! Wir sind auch gar nicht so übel, oder was sagst du dazu, Selim?“ „Das stimmt, Herr Meister! Die sind auch schwer in Ordnung, wenn man nicht gerade Streit mit ihnen hat. Mann, was habt ihr mir damals die Hucke vollgehauen! Aber, ich hatte es ja wohl auch verdient!“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Wenn ihr nicht gewesen wärt, stünde ich heute nicht hier. Eure jüngeren Kollegen hätten mich bestimmt erschossen.“

Der Mythos des Sisyphos. Frau Staatsanwältin, Sie haben ein hübsches Sommerkleid an!

Einen Tag vor meinem Kurzurlaub und das Büro wirkt wie ein Dampfdruckkessel kurz vor der Explosion. Der Deckel wölbt sich unter dem Druck und vibriert metallisch, wenn heißer Wasserdampf pfeifend durch die Ritzen entweicht. Ich hetzte von einem Gerichtstermin zum nächsten. Kaum betrete ich mein Zimmer, schrillen die Telefone wie Presslufthämmer. Ich habe das Gefühl, der Teppichboden unter meinen Füßen bebt, aber was ich fühle ist nur mein Pulsschlag. Ich will diesen Urlaub und zugleich hasse ich ihn. Er bringt mich aus dem Tritt und an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Gerade habe ich den Stapel mit den wichtigsten Akten bearbeitet, und Hoffnung steigt in mir auf, da bringt die Sekretärin den nächsten Berg. Alles ist wichtig! Ich denke an den „Mythos des Sisyphos“ und frage mich, ob Albert Camus Rechtsanwalt war. Das Telefon schreit und die Sekretärin scheucht mich zum 11.15 h – Termin. Außer Atem trete ich vor den Gerichtssaal. Die Verhandlung verspätet sich um 15 Minuten. Ich nutze die Zeit und setze mich auf die Steinstufen vor dem Gericht . Die Sonne brennt mir ins Gesicht, und ich sauge jeden einzelnen Sonnenstrahl auf. Ich halte mein Handy einsatzbereit in der Hand und atme durch. Als die Hauptverhandlung aufgerufen wird, betrete ich – ganz der coole Anwalt – den Gerichtssaal. Ich grüße freundlich und mache meine Scherze. Die Staatsanwältin ist mir neu. Sie blättert ernst und in sich versunken in den Akten. Ihr Plädoyer aber überrascht mich. Sie berichtet davon, wie sie den Angeklagten in der Haftvorführung vor einigen Monaten erlebt hatte. Sie sei über sein Aussehen erschrocken gewesen. Sie habe sich Sorgen um ihn gemacht, da er offenbar wegen seiner Drogensucht kurz vor dem Tod gewesen sei. Heute sähe er 15 Jahre jünger aus. Sie freue sich aufrichtig darüber, dass die Untersuchungshaft ihm gut getan habe. Er mache einen klaren Eindruck und habe Ziele. Sie wünsche sich, dass er die schwierige Therapie durchstehe und ein neues Leben, das den Namen verdiene, beginne könne. Deshalb beantrage sie auch nur eine geringe Freiheitsstrafe. Zu seinem Schutz wolle sie aber, dass er bis zum Antritt der Therapie in Haft bleibe. Sie traue dem jungen Mann mit seiner schwierigen Biographie noch nicht zu, aus der Freiheit heraus durchzuhalten. Ich höre ihre Worte und spüre, sie meint es ernst. Ehe ich aufstehe, um meinerseits etwas zu sagen, regt sich Widerstand gegen die Prämisse, Haft könne irgendjemandem gut tun. Dann schließe ich mich mit meinen eigenen Überlegungen ihrem Plädoyer an. Ich muss innerlich zugeben, sie hat in diesem Falle Recht. Und wieder denke ich an Sisyphos. Solange wir, die Gesellschaft, nichts anderes anzubieten haben als Haft, kann ich ihr nicht ernsthaft widersprechen, auch wenn ich Anderes wünschen würde. Wir verlassen gemeinsam den Gerichtssaal, und auf dem Wege raus mache ich ihr ein Kompliment über ihr hübsches Sommerkleid. „Das ist ein Rock mit Bluse!“, korrigiert sie mich mit einem stillen Lächeln. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Der Staatsschutz schnüffelt hinter Rechtsanwalt Meister her?

Strafmaß und Bewährungsauflagen waren in einem Vorgespräch einvernehmlich ausgehandelt worden, und dennoch saßen wir in einer rudimentär durchgeführten Beweisaufnahme bereits zweieinhalb Stunden rum und hörten uns Zeugen an. Ich fragte mich gerade, ob die andern Prozessbeteiligten an diesem Tag nichts anderes zu tun hatten und irgendwie sinnvolle Beschäftigung bis zur Mittagspause simulieren wollten, als ich eine E-Mail meiner Sekretärin erhielt. „Lieber Gerd, Ermittlungsverfahren gegen dich! Rufe dringend Herrn KOK Spitzer, Abteilung Terrorismus-Bekämpfung, Tel. xxxx-xxxxx, an.“ „Mmh …?“, instinktiv überlegte ich, welches Verbrechen ich in den letzten Monaten im Zusammenhang mit Terrorismus begangen haben könnte, mir fiel aber spontan nichts Gescheites ein, das zu einem Ermittlungsverfahren hätte führen können. Ich durchkämmte in Gedanken meine letzten Blog-Artikel. Hatte ich da etwas Böses geschrieben? Fühlten sich vielleicht jüdische oder muslimische Mitbürger wegen meiner Kritik an rituellen Beschneidungen terrorisiert? Hatte sich die iranische oder israelische Botschaft beschwert? Nach Verkündung des erwarteten Urteils tigerte ich rüber zur Kanzlei und rief Herrn Spitzer an. „Gut, dass Sie zurückrufen. Ich hatte es schon auf Ihrem Handy versucht und mangels Rückrufes vermutetet, Sie wollten sich meiner Befragung entziehen. Als Rechtsanwalt wissen Sie ja, dass das keinen Sinn macht! Wir haben ermittelt, dass ein weißer Audi A1 mit dem amtlichen Kennzeichen yy- aa1234 auf Sie zugelassen ist. Ihren Wohnort habe ich auch schon inspiziert. Sie wohnen doch auf der Kirchstraße 12 in Neuss?“. „Mmh. Als Rechtsanwalt weiß ich aber auch, dass man gegenüber der Polizei zunächst einmal keine Angaben machen sollte. Worum geht es denn? Meine letzte SDAJ – Sitzung ist ungefähr 50 Jahre her, und ich war nie Mitglied! Und gegen religiöse Beschneidungen habe ich nur humanitäre und medizinische Einwände geäußert!“, versuchte ich es mit einem Scherz. „Aha, warten Sie! Das notiere ich mir direkt. Sie geben also zu, mit der …, wie war das noch gleich …, SDAJ Kontakt gehabt zu haben. Ich vermute, das ist die Abkürzung für Salafisitsche Deutsche Abteilung Jemens? Oder vielleicht Salafistischer Djihad … Allah? … Wofür steht das J?“ „Hallo, Herr Spitzer! Vermerken Sie, was Sie wollen. Ohne Belehrung ist das soweiso nicht verwertbar!“, stammelte ich in zunehmender Verwirrung. Durch den Hörer vernahm ich das Rascheln von Papieren, und nach einer kurzen Pause sagte Herr Spitzer: „Warten Sie, ich lese Ihnen meinen Vermerk vor: Noch ehe der Unterzeichner den Beschuldigten belehren konnte, äüßerte dieser in einem informellen Vorgespräch spontan …“. „Herr Spitzer, jetzt machen Sie mal halblang. Das ist ja gehirnschädlich, was Sie da von sich geben. Jetzt sagten Sie mir endlich, worum es in Dreiteufels Namen geht?“ Ungerührt fuhr Herr Spitzer fort: „Kennen Sie die Dönerbude schräg gegenüber Ihres Hauses?“ „Ach, Sie meinen die von Ali und Mustafa?“. „Sie geben also zu, die Betreiber der Imbissbude persönlich zu kennen?“. „Herr Gott nochmal! Klar kenne ich die. Die machen einen fantastischen Döner und der Thunfischsalat ist auch nicht zu verachten. Wenn ich mal keinen Bock habe zu kochen, hole ich mir da was zum Essen. Aber, was wollen Sie von mir?“, fragte ich nun völlig aus dem Konzept gebracht. Durch die Leitung hörte ich, wie der Beamte leise mitsprach, während er notierte: ´Der … Beschuuuldigte … beruuft … sich … aahuf … Gott …`. Herr Spitzer räusperte sich und legte seinen Eifer für einen Moment ab. Sehr förmlich sagte er: „Gegen Sie liegt eine anonyme Anzeige einer Bürgerin vor, die sehr interessante Beobachtungen gemacht hat! In die Dönerbude gegenüber von Ihrem Wohnhaus – Ich habe mich persönlich davon überzeugt … Sie können von Ihrem Küchenfenster da reinschauen – sind während des diesjährigen Schützenfestes verdächtige und – nach Überzeugung der Anzeigenerstatterin – gefährliche Personen konspirativ ein- und ausgegangen!“. „Langsam gewinne ich den Eindruck, Sie wollen mich verarschen, Herr Spitzer? Ich muss zugeben, dass die Schützen meistens ziemlich besoffen wirken und der eine oder andere mir auch verdächtig vorkommt, wenn er sich da seinen Döner holt. Aber gefährlich? Meinen Sie wegen der albernen Holzgewehre oder den Säbeln? Die sind doch nur zur Dekoration da!“. „Ich rede nicht von den Schützen!“, unterbrach er mich unwirsch. „Ich rede von verdächtigen, bärtigen Männern in Schlafanzügen und Nachthemden, die eindeutig der salafistischen Szene zuzuordnen sind!“. Unwillkürlich strich ich mir über meinen Wochenbart und dachte, dass ich mich doch besser regelmäßig rasieren sollte. Verunsichert fragte ich: „Ja, selbst wenn! Was hat das mit mir zu tun?“. Herr Spitzer legte eine beängstigende, künstliche Pause ein, ehe er fortfuhr: „Jetzt kommt ihr Auto ins Spiel. Es wurde beobachtet, dass diese Verdächtigen mit Ihrem Fahrzeug dorthin anreisen. Und Sie haben sich öffentlich zu den Salafisten bekannt?“. „Wie bitte? Ich habe was? Da muss eine Verwechslung vorliegen!“, äußerte ich empört. „Ich habe es selbst im Internet recherchiert. Sie haben einen Text darüber veröffentlicht, oder stammt der Artikel „ Zeugen Jehovas, Salafisten, Buddha und meine goldene Zündapp“ nicht von Ihnen?“. Als ich das hörte, fing ich laut an zu lachen. „Herr Spitzer, jetzt klär ich Sie mal auf: Der Artikel ist reiner Humbug, eine Art Satire, und Sie haben die Geschichte bestimmt nicht gelesen, sonst würden Sie nicht so einen Quatsch erzählen. Und den Audi fährt ausschließlich meine Frau. Sie ist Christin und stammt aus Armenien, das heißt, sie hat ein historisch begründetes Vorurteil gegen so ziemlich alles, was mit dem Islam zu tun hat. Schon mal was vom armenischen Genozid durch die Türken gehört. Bergkarabach, der Krieg mit den Aserbaidschanern? Meine Frau hat zwar manchmal Haare auf den Zähnen, aber selbst im Bademantel kann man sie kaum mit einem Salafisten verwechseln. Im Übrigen ist ihr Auto mit absoluter Sicherheit die salifistestenfreie Zone in ganz Europa. Und nun zur Dönerbude: Ich kann zwar nicht die Hand für Ali und Mustafa ins Feuer legen, aber auf mich machen die einen ganz normalen, westlich angepassten Eindruck, oder warum meinen Sie, dass selbst die Schützen dort regelmäßig einkaufen. Die beiden nehmen sogar die Schützenparade mit ab. Bei der EM hatten sie eine Deutschlandfahne rausgehängt. Sie tragen weder Bart noch Gespensterverkleidung. Ich wohne direkt gegenüber, und Sie haben Recht. Ich kann in die Imbissbude reinschauen und ich versichere Ihnen, dass ich dort noch nie irgendein Salafistengespenst gesehen habe! Ihre Zeugin hat offenbar einen Dachschaden!“. Schon viel freundlicher

Arman kotzt mich an!

An dem Tag, als der Urgroßvater meines Freundes Arman starb, war seine Familie mit Trauern beschäftigt, und Arman fühlte sich fehl am Platz. So besuchte er mich an dem verregneten Nachmittag, war aber so erschöpft und müde, dass er sofort auf meinem Bett einschlief. Nach einer Stunde schlich ich zum Schlafzimmer, und da lag er wach auf dem Rücken und strahlte mich mit seinen braunen, armenischen Augen an. Ich legte mich für einen Moment zu ihm und streichelte ihm tröstend über den Kopf. Während ich ihm von dem köstlichen Essen berichtet, das ich extra für ihn zubereitet hatte, betrachtete er mich weiter mit seinem hypnotisierenden Blick und lächelte erfreut. Wir gingen nach unten in die Küche. Noch immer sagte er kein Wort und verschlang gierig sein Essen. Dann rülpste er laut und fing begeistert an zu erzählen. Es gibt Menschen, die Armans Geschichten für Blödsinn halten, ja, die behaupten, sie ergäben nicht den geringsten Sinn und das, was er zu sagen hätte, könne keiner so richtig verstehen. Aber diese Menschen hören nicht richtig hin oder sind einfach begriffsstutzig. Und obwohl ich seine Sprache nicht perfekt spreche, verstehe ich Arman und er mich! Ausführlich berichtete er über seine jüngsten, aufregendsten Erlebnisse und kam dabei immer wieder auf sein Lieblingsthema zurück – die Milch, als wichtigstes Lebensmittel, und dass er einfach nicht davon lassen könne. Ich verstand den Wink und reichte ihm die Flasche. Er nahm einen tiefen Zug und berichtete weiter über seine gesunde Leidenschaft. Obwohl ich das Thema von ihm zur Genüge kenne, hörte ich aufmerksam zu. Irgendwann unterbrach ich ihn, schaute ihm tief in die Augen und fragte nachdenklich, ob ihn der Tod seines Urgroßvaters nicht traurig mache. Für einen Moment blickte er mich ernst  an. Dann beugte er sich plötzlich vor, riss mir die Brille vom Kopf und warf sie mit Schmackes auf den Boden, wo sie in zwei Teile zerbrach. Ich zuckte erschrocken zurück. Offenbar war ich ihm bei meiner Frage zu nahe gekommen, und ich hätte es wissen müssen. So ist Arman, und das war jetzt schon die dritte Brille, die er vernichtet hatte. Ich warf die Brillenteile in den Mülleimer und trat auf ihn zu. Dabei hob ich den Zeigefinger und drohte energisch mit dem Ende unserer Freundschaft. Er lächelte mich frech an und sagte: „Öhgröööh!“ Ich schaute ihn an und fragte: „Was hast du gerade gesagt?!“. Ich zog ihn aus seinem Stuhl, nahm ihn am Schlafittchen und hielt ihn mit ausgestreckten Armen über meinem Kopf, und da kotzte er mir auf mein frisches Hemd. Ich wischte die Babykotze mit dem Küchenhandtuch weg und nahm ihn mit in den Flur. Wir betrachteten uns im Dielenspiegel und ich forderte ihn auf: „Hey Kumpel, sag das nochmal. Sag Öhgröööh! Das war klasse!“. Obwohl er es wahrscheinlich viel besser wusste als ich, erklärte ich ihm das universale Wort: „Weißt du Arman, ich kenne mich mit Babys aus, auch mit so vier Monate alten Pupsern, wie du einer bist. Hab schon ne ganze Reihe davon mit groß gezogen, und alle haben irgendwann dieses Wort gesagt. Nicht etwa Auto, Mama oder Papa, nein, das erste Wort war immer Öhgröööh! Und weißt du, was es bedeutet? Naja, es ist schwer zu übersetzen, und es hat wohl mehrere Bedeutungen. Eigentlich drückt  es mehr so ein Gefühl aus, von allen geliebt und respektiert zu werden. Man könnte vielleicht sagen, es drückt die pure Lebensfreude aus! Aber eines ist gewiss: Egal, ob in China, in Afrika, Arabien, Armenien oder hier, alle glücklichen Babys dieser Welt benutzen bestimmt dieses Wort. Und dass du es gerade gesagt hast, beweist, dass auch du glücklich bist, obwohl heute für deine Familie ein sehr trauriger Tag ist. Aber das Leben geht weiter, stimmt´s?! Und ich hoffe, das Öhgröööh-Gefühl bleibt dir für die Zukunft erhalten.“ Ich drehte ihn zu mir, und wir schauten uns an. Er wiederholte das Wort zwar nicht, aber er lächelte mich freundschaftlich an. Ich gab ihm einen Kuss auf die Nase und sagte: „Ich will nämlich nicht, dass du eines Tages auf die schiefe Bahn gerätst und einer meiner Mandanten wirst. Obwohl …, wenn du mir noch eine Brille kaputt machst, fange ich an, mir ernsthafte Sorgen zu machen. Das ginge dann schon in die Richtung von schädlichen Neigungen, und du weißt, was das bedeutet! So, jetzt kriegst du erst einmal eine frische Windel verpasst.“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Bitte ziehen Sie Ihre Hose wieder hoch!

Nach Besprechung der Akte kamen wir ins Plauschen und irgendwie darauf, dass ich Tattoos für eine hässliche Unsitte halte. Die attraktive Mandantin wirkte für einen Moment verlegen und gestand, dass sie sich gerade eines habe stechen lassen, aber nicht so ein auffälliges, sondern eines, das gut platziert und versteckt an einer geheimen Stelle ihres Körpers angebracht sei, wo es nur Vertraute betrachten könnten. Dann überlegte sie für einen Moment und sagte schelmisch: „Schlimm wäre es, wenn man zu seinem eigenen Anwalt kein Vertrauen hätte!“ Noch ehe ich die logische Konsequenz dieser Aussage zu Ende gedacht hatte, sprang sie auf, drehte mir ihr Gesäß zu und zog sich ohne Umschweife Jeans und Höschen bis auf die Knie runter, um mir ihren entblößten Po zu zeigen. In diesem Moment kam die Sekretärin mit einer Unterschriftenmappe ins Zimmer und erstarrte, als sie den nackten Hintern erblickte. Nach einigen endlosen Millisekunden überwand ich die allgemeine Sprachlosigkeit und stand in einer Art Übersprungshandlung von meinem Stuhl auf, umrundete den Schreibtisch und sagte zur Sekretärin: „Nicht was du denkst!“ Fachmännisch begutachtete ich das Tattoo und fuhr souverän fort: „Also, ich muss zugeben – nicht schlecht!“, wobei ich die Frage nach dem Gemeinten unbewusst offen ließ. „Was meinst du?“, fragte ich die Sekretärin, die ungläubig den Kopf schüttelte und erwiderte: „Ich hab schon schlechtere gesehen. Wirklich ganz hübsch!“ Zur Mandantin sagte ich: „Bitte ziehen Sie ihre Hose wieder hoch. Nicht, dass hier noch einer auf falsche Gedanken kommt.“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Richter Bohnen: „Als junger Richter war ich ein richtiges Arschloch!“

Vor einigen Tagen traf ich ihn wieder. Die Hauptverhandlung sollte um 9 Uhr beginnen. Um 9.05 h fand ich endlich in einer Seitenstraße einen Parkplatz. Vom Beifahrersitz klaubte ich Portemonnaie, Handy, Tabak und Feuerzeug und steckte alles umständlich in meine Jackentaschen. Aus dem Kofferraum nahm ich Robe und Akte, schloss den Wagen ab und hatte schon den ignorierten Parkautomaten ganz am Ende der Straße passiert, als mir einfiel, dass ich meine Waffen vergessen hatte. Also rannte ich zum Wagen zurück, um meine Brille und einen Kugelschreiber aus dem Türfach zu holen. Da stand er plötzlich mit einem überraschten Gesichtsausdruck vor mir, weil ich ihn in meiner Hektik beinahe umgelaufen hätte. „Guten Tag, Herr Meister! Was bin ich froh, dass ich diese Hetzerei hinter mir gelassen habe!“, sagte er und schüttelte mir fest die Hand. „Richter Bohnen! Das ist aber schön, sie mal nach all den Jahren wieder zu sehen. Ich habe in den letzten Jahren immer mal wieder an Sie gedacht! Wie geht es Ihnen ohne die Justiz? Die Pensionierung scheint Ihnen gut zu tun!“ „Immer noch der alte Schmeichler, unser Herr Meister! Aber jetzt, wo Sie mir keinen 153a mehr abluchsen können, darf ich das wohl als Kompliment auffassen.“, dabei lächelte er mich mit diesem einmaligen, verschmitzten Richter-Bohnen-Lächeln an, dass mir warm ums Herz wurde. Das Alter hatte ihn leicht gebeugt, aber er schien immer noch der Alte zu sein. „Um ehrlich zu sein, wenn einer behauptet, das Alter sei eine schöne Zeit, der lügt. Und mit Lügen kenne ich mich ja aus, wie Sie wissen! Nein, das Alter ist kein Zuckerschlecken!  Ich schlage mich so durch und mache gute Miene zu den fortschreitenden Zerfallserscheinungen. Wenn ich  eines Morgens aufwache und nichts tut mehr weh, dann bin ich tot. Aber ich bin sicher, sie spüren auch schon das eine oder andere Zipperlein!?“, sagte er – wieder mit diesem frechen Grinsen im Gesicht. Ich legte meine Robe und Akte auf einem angrenzenden Mäuerchen ab. „Erzählen Sie, was machen Sie denn so den ganzen Tag mit ihrer vielen Freizeit? Bei Ihnen bin ich mir fast sicher, dass Sie vor lauter Hobbys nicht einmal Zeit finden, zum Friseur zu gehen.“ Der Richter gluckste und schlug mir freundschaftlich auf den Arm. „Wie immer, ganz schön respektlos. Sie haben Recht. Zum Friseur müsste ich tatsächlich mal wieder. Aber wen sollte das heute noch interessieren?“, sagte er munter und strich sich dabei durch sein dünner gewordenes, weißes Haar. „Ich fotografiere viel und gut– vor allem viel. Meine Kinder haben mir so eine neumodische Digitalkamera gekauft. Letzten Monat war ich in Berlin und habe alles fotografiert, was mir vor die Linse kam. Alleine vom Reichstag habe ich bestimmt tausend Fotos gemacht, die sich nie einer ansehen wird. Ich meine, wer sollte sich dafür interessieren? Meine Kinder bestimmt nicht. Die machen Fotos von ihren Kindern. Das ist interessant! 1000 Fotos. Verrückt!“, dabei tippte er sich an den Kopf. „Mmmh, warum suchen Sie sich nicht die besten Fotos daraus zusammen und machen eine Ausstellung? Ich würde kommen, wenn Sie mich einladen!“ „Naja, ich denke darüber nach. Genug Zeit zum Denken habe ich ja jetzt!“, sagte er wieder mit diesem ironischen Unterton. „Ich werde nie unsere kleine Unterhaltung vergessen, die wir vor vielen Jahren einmal in der Kantine geführt haben.“, sagte ich. „Ich war damals noch ganz frisch und hatte wahrscheinlich von Nichts eine Ahnung! Wir kamen aus einer gemeinsamen Verhandlung – hatten uns, glaube ich, ein wenig in den Haaren gehabt – und ich stand hinter Ihnen an der Kasse. Da haben Sie sich zu mir umgedreht und gesagt: Damals, als junger Richter, war ich ein richtiges Arschloch!“. Richter Bohnen lachte in gespielter Empörung auf. „Das soll ich gesagt haben?“, prustete er los. „Ja, genau das waren Ihre Worte. Das „Arschloch“ haben Sie mir allerdings ganz leise ins Ohr geflüstert, weil hinter uns noch Leute in der Schlange standen. Sie luden mich zu einem Kaffee ein und wir haben uns an einen etwas abseits gelegenen Tisch gesetzt. Und da erzählten Sie mir, dass Sie aus einem spießen Elternhaus kamen und mit der 60iger Bewegung nichts hätten anfangen konnten. Sie hätten all diese Hippies und etwa die grausame Musik der Rolling Stones als junger Mann einfach nicht verstanden. Selbst diese braven Beatles wären Ihnen verdächtig vorgekommen. In den 70igern wären Sie dann ein tumber, konservativer und gnadenloser Richter geworden, der es nicht geschafft habe, über den Tellerrand zu schauen – und dass Sie sich im Nachhinein heute noch dafür ohrfeigen könnten. Das haben Sie mir erzählt, und dann haben Sie mich genauso wie jetzt angeschaut und gesagt: ´Ich will Ihrem Mandanten doch gar nichts! Er soll nur aufhören so dumm zu lügen!` Und wissen Sie was? Für diese schonungslose, offene Selbstkritik bewundere ich Sie bis heute. Das hat mich damals schwer beeindruckt! Ich meine, fehlende Selbstkritik ist ja geradezu eine Berufskrankheit von z.B. Richtern und Lehrern, die es gewohnt sind, immer das letzte Wort zu haben!“. Richter Bohnen schaute mich belustigt an. „Ja, so kann es gewesen sein!“ Er gab mir die Hand und sagte: „Erinnern Sie sich auch noch daran, wie sehr ich Unpünktlichkeit immer gehasst habe? Ich glaube, Sie waren doch nicht grundlos so in Eile?!“. Ich schaute auf meine Uhr. „Verdammt! Zwanzig nach! Ich muss los!“ Ich nahm meine Ausrüstung vom Mäuerchen und drückte seinen Arm. „Ich hoffe, wir finden bald noch einmal die Gelegenheit, einen Kaffee zusammen zu trinken! Und vergessen Sie nicht, mich zu Ihrer Ausstellung einzuladen!“. Dann rannte ich los. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Was man in einer kurzen Verhandlungspause so gar nicht braucht!

Nach der Vernehmung von 5 Zeugen in einer fiesen Mordsache beschloss der Vorsitzende  eine 20 minütige Pause. „Das trifft sich gut“, sagte ich zu meiner Referendarin Claudia. „Im Nachgang zu unserem Antrag auf Hinzuziehung eines weiteren psychiatrischen Sachverständigen, sollten wir den Sachverständigen spätestens jetzt wegen Befangenheit ablehnen. Was meinst du?“ Auf dem kurzen Weg ins Büro begannen wir leidenschaftlich über die Begründung des Antrags zu diskutieren, als mich die Schwester des Angeklagten auf meinem Handy anrief. Sie sei ja für nach der Pause als Zeugin geladen und müsse unbedingt vor ihrer Aussage noch einmal kurz mit mir reden. Ich sagte ihr, wir hätten gerade alle Hände voll zu tun und wenig Zeit, aber wenn es gar nicht anders ginge, solle sie kurz ins Büro nachkommen. Wir hatten Glück, denn in der Küche war zur Abwechslung frisch aufgebrühter Kaffee, den ich ausnahmsweise mal nicht gemacht hatte. In meinem Büro rissen wir zur Vermeidung eines Anschisses von Bettina * die Fenster sperrangelweit auf und räumten zur Herstellung von Sichtkontakt einige Stapel Akten von meinem Schreibtisch. Immer noch diskutierend setzten wir uns und zündeten uns gemütlich und beinahe ohne schlechtes Gewissen eine Zigarette an. „Also, der Sachverständige ist der Klopper!“, meinte Claudia. „Wenn´s nicht um so viel ginge, müsste man lachen. Für heute hatte er sich doch am 1. Verhandlungstag entschuldigt und sein überraschende Erscheinen heute mit der Begründung erklärt, es läge eine Verwechslung vor, er habe sich doch für den ersten Verhandlungstag entschuldigen wollen, weil er da berufsbedingt nicht gekonnt habe. Ist der senil? Der erste Verhandlungstag ist gerade mal fünf Tage her und da war er eindeutig anwesend.“ „Ja, aber das Härteste war doch seine Frage, ob er denn heute unbedingt dabei sein müsse, wo man doch nicht mit ihm gerechnet habe. Er habe viel zu tun und der Verzicht auf seine Anwesenheit käme ihm gut zu pass.“ „Und das, obwohl heute die wichtigsten Zeugen für das Vor- und Nachtatverhalten geladen sind. Wirklich unglaublich! Ich verstehe aber auch das Gericht nicht. Wieso entscheiden die nicht über unseren ersten Antrag, einen weiteren Sachverständigen hinzuzuziehen? Wir haben das Gutachten doch methodenkritisch so zerpflückt und an die Erde gerissen. Damit ist doch kein Blumentopf mehr zu gewinnen.“ „Die fahren ein ganz schönes Risiko oder rechnen die im Ernst nicht mit einem Befangenheitsantrag? Also, lass uns mal zusammenfassen und ein Argumentationsgerüst bauen. Was haben wir …?“ In diesem produktiven Moment klopfte es an der Türe und die Schwester des Angeklagten trat zusammen mit ihrer besten Freundin ein. Schnell wurde klar, dass nicht die Schwester mit mir reden wollte, sondern die Freundin, die aufmerksam die bisherige Beweisaufnahme vom Zuschauerraum aus beobachtet hatte und nun ohne Punkt und Komma in die ultimative Beweiswürdigung eintrat. Die Sache sei doch glasklar. Sie habe alles genau beobachtet. Der Angeklagte sei trotz seines polizeilichen Geständnisses unschuldig. Als seine Lebensgefährtin vernommen worden sei, habe er nach unten geguckt und als dann diese … Drogenschlampe, bei der er nach dem Mord genächtigt hat, aussagte, da habe er dem Flittchen direkt in die Augen geschaut. Ob ich das nicht bemerkt hätte. Der Angeklagte habe eindeutig ein Liebesverhältnis zu dieser „Dame“ und wolle sie decken. So sei der Angeklagte nun mal. Er nähme immer alles auf sich, selbst wenn er dafür lebenslang eingesperrt würde. Bestimmt stecke der Bruder der „Dame“ auch damit drin, das sei auch so ein Junkie. Ausgeraubt und ermordet hätten sie die arme alte Dame, um sich Drogen zu kaufen, und jetzt solle der Angeklagte dafür hinhalten. Als meine Argumente gegen ihre Verschwörungstheorie an ihrer eifrigen Betonmaske ungehört zerschellten und im Strudel ihres Redeschwalls jämmerlich ertranken, riss mir schließlich der Geduldsfaden. Vielleicht etwas zu barsch, wies ich darauf hin, dass die Gerichtspause in ein paar Minuten ende und ich zu arbeiten hätte. Sie solle mit der Schwester des Angeklagten schon mal vor zum Gerichtssaal gehen. Wir kämen gleich nach. Mit verblüffter Miene wandte sich die Dame noch im Luftholen mit offenem Mund – wie ein an Land geworfener Fisch  – abrupt  zum Gehen. An der Türe drehte sie sich noch einmal zu mir um und sagte beleidigt: „Irgendwann werden Sie sehen, wie Recht ich hatte, und dann wird es Ihnen leid tun!“ Die Schwester meines Mandanten zuckte entschuldigend die Achseln, folgte verschämt ihrer Freundin und schloss behutsam hinter sich die Türe. Ich schaute Claudia resigniert an. „Prüf doch bei Gelegenheit mal, welche Chancen ein Befangenheitsantrag gegen Prozessklugscheißer aus den hinteren Zuschauerrängen hat.“ Lächelnd erwiderte Claudia: „Oh Mann, so etwas in einer kostbaren Verhandlungspause braucht kein Mensch!“ * Bettina = militante Exraucherin und (nur diesbezüglich – leider) die Sekretärin von Gerd Meister, der – seiner Sekretärin und der eigenen Gesundheit zu Liebe – inzwischen aufgehört hat, zu rauchen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Herr Vorsitzender, ich will keinen Krieg, aber …

In meinem letzten Artikel „Was man in einer kurzen Verhandlungspause so gar nicht braucht“ hatte ich von meinem geplanten Befangenheitsantrag gegen einen psychiatrischen Sachverständigen in einem Mordverfahren berichtet, der dann auch prompt von mir gestellte wurde. Der Sachverständige rang während der Verlesung des vierseitigen Antrages mit Fassung.  Er tat mir aufrichtig leid, aber eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeit eines anderen gelingt selten, ohne dass sich der Kritisierte auch persönlich angegriffen fühlen muss. Und so beeile ich mich zu sagen, dass der Mann sicherlich ansonsten ein hervorragender Arzt ist. Als Gutachter aber hatte er mangels forensischer Erfahrung einfach zu viele Fehler gemacht. Bereits am ersten Tag rief er ein gewisses Amüsement hervor, als er mit einem ans Revers geheftete Namensschild – wie auf einem Ärztekongress – im Schwurgerichtssaal erschien und unsicher über die Sitzordnung,  zunächst einmal bescheiden und verloren hinten bei den Zuschauerrängen herumstand, bis ihn der freundlich Staatsanwalt zu sich heranwinkte und ihm seinen Platz zuwies. Für die nächsten Verhandlungstage meldete sich der Arme auf unabsehbare Zeit krank, und der auch von der Verteidigung favorisierte neue Sachverständige begann unverzüglich mit seiner Arbeit. Ich hatte der Kammer für einen der nächsten Verhandlungstage eine schriftlich von mir zu verlesende Einlassung des Angeklagten angekündigt, der sich – vielleicht aus Scham wegen einer mitangeklagten Vergewaltigung – außerstande sah, selbst vor Gericht das Wort zu ergreifen. Die Einlassung musste nun vorbereitet werden, und so besuchte ich den Angeklagten mit der hervorragenden Dolmetscherin in der JVA. Wie immer war der Mandant auffallend wortkarg und in sich gekehrt.  Eine Vergewaltigung bestritt er, nickte aber die Vorhalte seines polizeilichen Geständnisses  im Übrigen ab. Die Frage nach dem „Warum“ der Tat kommentierte er mit den Worten „Kurzschluss“ und „Wodka“, und ich verlegte mich darauf, ihn nun auch mit falschen, angeblich von ihm stammenden, polizeilichen Aussagen zum zeitlichen Ablauf der Tat zu konfrontieren. Auch hier bestätigte er die von ihm so nie gemachten Angaben mit einem stoischen Nicken. Ich fragte nach, ob er denn so etwas tatsächlich bei der Polizei gesagt habe, bis mir schließlich der Kragen platzte und ich ihn über meinen Hinterhalt aufklärte. „Also, warum hast du bei der Polizei dann eine Vergewaltigung behauptet?“, fragte ich. „Das wäre doch die einzig Erklärung dafür, dass ich die Frau ausgezogen habe?!“, antwortete er und blickte mich dabei offen an. Ich zeigte ihm andere mögliche Erklärungen auf und wies ihn darauf hin, dass Menschen, ob betrunken oder nicht,  oft auch unplausible Dinge täten und dass auch er ansonsten völlig unsinnige Vorgänge bei der Polizei geschildert habe.  Wieder nickte er. Bei seiner Vernehmung habe er einfach Angst gehabt, und was die Polizeibeamten vermutet hätten, wäre ihm da irgendwie logisch erschienen. Ich wiederholte, dass es hier um seinen Arsch ginge und es ihm nichts nütze, jetzt plötzlich meine vermeintlich logischen – aber tatsächlich falschen – Vorhalte immer nur zu bestätigen. Er solle sich Mühe geben und mir die Sache einmal richtig im zeitlichen Ablauf schildern. Im stundenlangen, mühsamen Gespräch kamen wir der Sache so zumindest näher. Es zeigte sich die Möglichkeit auf, dass das Opfer bei den in Tötungsabsicht zugefügten massiven Schlägen mit Wahrscheinlichkeit bereits tot gewesen sein könnte. Der Angeklagte beschrieb, dass die Frau nach einem Schlag mit der Hand und ihrem Sturz auf den Boden so komisch nach Luft geschnappt und sich dann nicht mehr bewegt habe. Da habe er sie noch nicht töten wollen. Er habe sie auf den Rücken gedreht und wieder dieses merkwürdige Geräusch gehört. Dann habe sie ganz ruhig da gelegen, und er habe mehrere Zigaretten geraucht. Die Angst sei in ihm hochgestiegen, sie könne tot sein. Erst dann habe er ganz sicher gehen wollen und die Frau noch mehrmals mit einem Metallstab auf den Kopf geschlagen. Diese Schilderung war nicht von der Hand zu weisen, da sich im Obduktionsbericht auch mögliche postmortale Verletzungen finden. Ich versuchte dem Mandanten klar zu machen, dass somit auch „nur“ ein versuchter Mord in Frage käme, und dass eine präzise Beschreibung des Tatablaufs schon nützlich sei. Meine Frage, ob er das nicht auch so selber bei Gericht mündlich vortragen könne, verneinte er vehement. Er wolle jetzt nichts mehr sagen. Die Tat sei so schlimm und er könne sich angesichts der Nebenkläger und seiner im Zuschauerraum sitzenden Familie nicht äußern. Erschöpft verließen wir das Gefängnis, und ich machte mich daran, das soeben gehörte in meinem Schriftsatz zusammenzufassen. Am nächsten Verhandlungstag teilte ich dem Gericht mit, dass ich nun im Namen und mit Vollmacht die angekündigte Erklärung verlesen werde, der Angeklagte aber aus psychischen Gründen nicht in der Lage sei, selbst zu sprechen oder Fragen des Gerichts zu beantworten. Gegenüber dem Sachverständigen werde er aber in der Intimität der Explorationssitzung Angaben machen, die so ja auch in die Hauptverhandlung eingeführt werden könnten. Zu meiner Überraschung lehnte der von mir sehr geschätzte Vorsitzende diese Vorgehensweise unter Hinweis auf die neuere Rechtsprechung des BGH entschieden ab. Er lasse eine Verlesung der Einlassung nur zu, wenn sich der Angeklagte danach den Fragen des Gerichts stelle. Natürlich könne er mir nicht verwehren, meinen Schriftsatz als Anhang zum Protokoll zu den Akten zu reichen. Konsterniert bat ich um eine Unterbrechung, suchte die Kammer im Beratungszimmer auf und leitete das Gespräch mit den Worten ein, dass ich keinen Krieg wolle, aber … Die Kammer griff mein „Aber“ freundlich auf, und wir diskutierten – ja, man kann sagen in aller Freundschaft – das prozessuale Problem, ohne Einigkeit zu erzielen. Bei den meisten anderen Gerichten hätte ich mit Sicherheit einen Befangenheitsantrag aus der Tasche gezogen, hier aber wollte ich das nicht, denn die Kammer war  eindeutig – trotz anderer Meinung – nicht befangen. Schließlich lösten wir das Problem nach Rücksprache mit dem Angeklagten einvernehmlich, und er beantwortete – so gut er konnte – die durchaus wohlwollenden Fragen des Gerichts. Der Prozess ist noch nicht beendet und vielleicht berichte ich an anderer Stelle über seinen Ausgang. Da mich die Sache aber immer noch wurmt, schickte ich dem Vorsitzenden den folgenden Link, der nicht als Klugscheißerei verstanden werden soll, sondern als Fortsetzung unserer kleinen Diskussion. Mir ist bewusst, dass der Vorsitzende und seine

Grabräuber vor Gericht

Vor 2200 Jahren ließ ein König der Meni sein Grab bei den Pyramiden von Gise mit der deutlich sichtbaren Aufschrift vor potentiellen Grabräubern schützen: “Das Krokodil gegen den im Wasser, die Schlange gegen den auf der Erde, der etwas gegen dieses Grab tun wird. Niemals habe ich etwas gegen ihn getan. Gott ist es, der richten wird.” Wen der König dabei besonders im Auge hatte geht aus der Fortsetzung der Inschrift hervor: “Keiner von denen, die mir dieses Grab gemacht haben, hatte Grund sich zu ärgern. Sei er ein Bildhauer oder Steinmetz, ich habe ihn zu seiner Zufriedenheit entlohnt.” Ein netter Versuch, der aber wohl nicht viel gebracht hat. Welcher Dieb konnte damals schon lesen und so ist es kein Wunder, dass seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. schon häufig die Grabkammern der Pharaonen geplündert wurden – auch wenn die Handwerkerrechnung für´s Grab vollständig bezahlt war. Als im 13. Jahrhundert v. Chr. der Regierungssitz nach Norden ins Niltal verlegt wurde, blieb das thebanische Tal der Könige der traditionelle Bestattungsort der Pharaonen. Die Handwerker und Künstler, die sich mit dem Grabbau beschäftigten, stellten eine kleine Gruppe von vielleicht 200 priviligierten Spezialisten dar, die in strenger Familientradition ihre Fertigkeiten weiter vererbten und in sich in dem heutigen Deir-el-Medina niedergelassen hatten. Über ein halbes Jahrtausend lebten sie hier, so dass begeisterte Archäologen eine umfassende und kontinuierliche Hinterlassenschaft sichern konnten. Hierzu gehören zahlreiche Papyri, auf denen Experten die Gerichtsprotokolle verschiedenster Verfahren fanden, von denen hier nur die Grabräuberprozesse interessieren. Von den etwa dreißig Königsgräbern im Tal der Könige blieb nur das von Howard Carter 1922 entdeckte Grab des Tutanchamun nahezu unversehrt. Auch die aufwendigsten architektonischen Sicherungsmaßnahmen in Form von Schächten, toten Gängen und Fallen änderten nichts daran, dass die Gräber fast alle ausgeplündert wurden. Um 1100 v. Chr. berichtete der Bürgermeister von Theben-West seinem Vorgesetzten Wesir von einer von ihm eingesetzten Untersuchungskommission zum Zustand der alten Königsgräber und der Gräber der einfachen Bürger in der Nekropole, um sodann die Namen der geständigen und ins Gefängnis verbrachten Diebe zu nennen. Die damaligen Verhörmethoden der Polizei finden sich in Grab-Wandmalereien wieder. Es ist die Rede von Schlägen auf Hände und Füsse mit spitzen Gegenständen und von Daumenschrauben. Ein gefasster Steinmetz gab zu Protokoll, dass er seit Jahren mit einer festen Bande, die sich auf Gold, Silber und Edelsteine spezialisiert hätten, systematisch Gräber ausgeraubt habe. Sein Prozess endete glimpflich. Er wurde – nachdem er den zuständigen Untersuchungsbeamten mit Gold bestochen hatte – entlassen und setzte seine lukrative Tätigkeit fort. Das Ergebnis dieser Grabräuberprozesse spiegelt eine Kapitulation der Staatsgewalt vor einem damals perfekt funktionierenden Netz organisierter Kriminalität wieder. Die ramessidische Zentralverwaltung, die fern von Theben in der Deltaresidenz saß, hatte die Staatsausgaben, insbesondere die Militärausgaben für den Kampf gegen das verfeindete Libyen und Hethiterreich, so erhöht und damit den Lebensstandard der Bevölkerung gesenkt, dass die Handwerker oft monatelang auf ihren Lohn warten mussten. Nun hielten sie sich mit einer gewissen moralischen Legitimation an den Kostbarkeiten der Toten schadlos. Das altägyptische Rechtssystem, das überwiegend mit Laienrichtern arbeitete und kein detailliertes kodifiziertes Recht kannte, war der Situation nicht gewachsen und es wäre wahrscheinlich auch politisch unklug gewesen, gegen diese Grabräuber hart durchzugreifen.Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach Der Artikel basiert auf Informationen aus dem Artikel „Grabräuber vor Gericht“ von Dietrich Wilding in dem Buch „Große Prozesse“, C.H. Beck, 3. Aufl. 2001

Mein Gott – Pontius Pilatus macht kurzen Prozess mit Jesus

Die wichtigsten Quellen für das Leben Jesu sind bekanntlich die zwischen 65 und 100 n. Chr. verfassten Evangelien des Neuen Testaments, die sich auf mündliche Überlieferungen stützen. Danach wurde Jesus 4 v. Chr., vielleicht auch etwas früher, vermutlich im galiläischen Nazareth in Palästina geboren. Er gehörte als Zimmermann zur Unterschicht. Mit etwa 30 Jahren wurde er von dem Bußprediger Johannes im Jordan getauft und zog danach als prophetischer Wanderlehrer durch Galiläa. Die Zeit seines öffentlich bekannt gewordenen Handelns soll nicht mehr als 2 – 3 Jahre gedauert haben und endete mit seiner Kreuzigung vermutlich im Jahre 30 n. Chr. Der kurze Prozess, der seinem Tod vorausging, erwies sich als einer der folgenreichsten Prozesse der Weltgeschichte.Über Jahrhunderte hinweg hat das Christentum unter Berufung auf die Evangelien das jüdische Volk für den Tod Jesu verantwortlich gemacht und seinen Richter, den römischen Präfekten Judäas, Pontius Pilatus, versucht zu entlasten. Am deutlichsten zeigt sich das in einer Szene aus dem Matthäus-Evangelium, der einen Dialog zwischen Pilatus und einer mordlustigen jüdischen Volksmenge beschreibt: “Pilatus spricht zu ihnen: `Was soll ich denn mit Jesus tun, der Messias genannt wir?` Sie sagen alle: `Er werde gekreuzigt!´ Er aber sagte:´Was hat er denn Böses getan?´ Sie aber schrien übermäßig und sagten: ´Er werde gekreuzigt!´ Aber als Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern vielmehr ein Tumult entstand, nahm er Wasser, wusch seine Hände vor der Volksmenge und sprach: ´Ich bin schuldlos an dem Blut dieses Gerechten. Seht ihr zu!´ Und das ganze Volk antwortete und sprach: ´Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!´ Wie tief sich diese Szene in das kollektive christliche Bewusstsein eingeprägt hat, zeigt das Sprichwort: “Seine Hände in Unschuld waschen.” Die hierin enthaltene Geschichtsverzerrung stellt eine im historischen Gewand gekleidete religiöse These dar und ist eine Ursache für den christlichen Antisemitismus und letztlich auch für die Progrome der nachfolgenden Jahrhunderte. Claude Montefiore, einer der bedeutendsten Vertreter des modernen Judentums, hat diesen Dialog so kommentiert: “Dies ist eines jener Sätze, die schuldig sind an Meeren von Menschenblut, und an einem ununterbrochenen Strom von Elend und Verzweiflung.” Und in der Tat – die Darstellung im Matthäus-Evangelium entbehrt jeder historischen Glaubwürdigkeit, was freilich nichts daran änderte, dass sich die Entlastungstendenz bezüglich Pilatus in der Kirchengeschichte unaufhaltsam fortsetzte. So erklärte der lateinische Kirchenvater Tertullian Pilatus Anfang des 3. Jahrhunderts sogar zum heimlichen Christen und die koptische Kirche verehrte ihn sogar später als Heiligen. Dem jüdischen Hohenrat und anderen jüdischen Gruppen – wie etwa den Pharisäern – wird die böse Absicht unterstellt, sie hätten Jesus aus religiösen Gründen beseitigen wollen. Nach den sich z.T. widersprechenden Evangelien wurde Jesus in einem zweistufigen Prozess zum Tode verurteilt. So schildert das älteste Markus-Evangelium, dass Jesus am Donnerstagabend vor dem jüdischen Passahfest von einer jüdischen Polizeitruppe verhaftet und dem höchsten Selbstverwaltungsgremium Jerusalems – dem Sanhedrin, das sich im Hause des Hohepriesters versammelt hatte, vorgeführt wurde. Falsche Zeugen sollen Jesus mit dem Satz zitiert haben: “Ich will diesen Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in 3 Tagen einen anderen bauen, der nicht mit Händen gemacht ist.” Da Jesus zu den Vorwürfen schweigt, verleitet ihn der Hohepriester, sich als Sohn Gottes zu offenbaren, was Grund genug ist, Jesus wegen Gotteslästerung zum Tode zu verurteilen. Der Sanhedrin liefert daraufhin Jesus am frühen Freitagmorgen an den römischen Statthalter Pilatus aus, der Jesus mit einem 2. Prozess überzieht, in dessen Verlauf das aufgebrachte jüdische Volk, einen tatsächlichen Mörder namens Barabbas freipresst und für Jesus die Kreuzigung fordert. Nach dem Lukas-Evangelium soll Pilatus Jesus vor der endgültigen Verurteilung noch an den Landesherren Herodes Antipas überstellt haben, der ihn dann an Pilatus zurückverwies. Daher das Sprichwort – “Von Pontius nach Pilatus”. Die Darstellung eines gewissermaßen vorgeschalteten Verfahrens gegen Jesus vor dem jüdischen Hohenrat ist schon wegen der erheblichen Widersprüche im Einzelnen innerhalb der Evangelien historisch nicht zu beweisen. Weder der Sanhedrin noch der Hohepriester verfügte nach der damalige Rechtslage über die Kapitalgerichtsbarkeit, die in allen römischen Provinzen allein in der Hand der römischen Besatzer lag. Dem entsprechend findet sich in den zu Beginn des 2. Jahrhunderts von dem römischen Historiker Tacitus verfassten Annalen kein einziges Wort über eine Beteiligung jüdischer Instanzen am Todesurteil gegen Jesus. Lapidar wird festgehalten, dass “Christus” unter Tiberius von dessen Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet wurde. Denkbar ist allenfalls, dass einige Denunzianten aus dem Kreis der damaligen jüdischen Oberschicht, Jesus als Unruhestifter bei Pilatus anschwärzten, der gerade vor dem jüdischen Passahfest, zu dem tausende Auswärtige nach Jerusalem strömten, besonders auf Ruhe und Ordnung bedacht war, um Rebellionen gegen Rom von vorneherein im Keim zu ersticken. Und dass die Römer in Jesus einen solchen Rebellen gesehen haben könnten, ergibt sich aus dem überlieferten Dialog zwischen Jesus und Pilatus, in dem Pilatus Jesus fragt, ob er sich als König der Juden bezeichne, worauf Jesus zweideutige geantwortet haben soll: “Du sagst es!” Die Beanspruchung der Königswürde über die Juden in einem römischen Protektorat konnte aber aus Sicht der römischen Besatzer nur als Hochverrat und Rebellion gedeutet werden. Für diese Deutung spricht auch die gewählte Hinrichtungsart der Kreuzigung. Jesus wurde mit zwei weiteren “Räubern” hingerichtet. Sprachforscher konnten inzwischen belegen, dass dieser Begriff ein terminus technicus für antirömische Rebellen war. Heute würde man Jesus wohl als Terroristen bezeichnen. Hierfür spricht auch, dass es historisch als erwiesen gilt, dass alle von den Römern vorgenommenen Kreuzigungen in Israel zu dieser Zeit aus politischen Gründen erfolgten. Das brutale Vorgehen der Statthalter Judäas hängt zweifellos mit den damaligen Schwierigkeiten, ihre Herrschaft in der Provinz durchzusetzen, zusammen. So berichtet der römische Historiker Josephus von ersten Massenkeuzigungen 4 v.Chr., bei denen 2.000 Aufständische nach vorangegangenen Unruhen auf diese Weise hingerichtet worden sein sollen. Josephus schrieb: “Judäa war voller Räuberbanden. Und überall dort, wo sich eine Schar von Aufrührern zusammenfand, wählten sie einen König, der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. Sie fügten zwar nur wenigen Römern einen – und dazu noch unerheblichen – Schaden zu, bereiteten aber ihrem eigenen Volke ein ungeheuerliches Blutbad.” Auch hier waren es soziale Hintergründe, die zur Aufruhr in der Bevölkerung führten – nämlich die erdrückende römische Steuerlast, die mit