Languren, frische Luft und die Unschuldsvermutung
Wie jeder Strafverteidiger betreute Dr. Strathmann hin und wieder Aidskranke, denen sein aufrichtiges Mitgefühl galt. Er überlegte, ob „Mitgefühl“ das richtige Wort war, oder ob er, angesichts seiner eigenen Vergangenheit, einfach nur Angst hatte, ebenso krank und ausstößig zu werden. Ja, möglicherweise ging es beim „Mitgefühl“ im Grunde nur darum? Es hatte allerdings Zeiten gegeben, in denen er mit der Krankheit unbefangener umgegangen war. Wie jeder, wusste er, dass man sich durch Handschütteln normalerweise kein Aids einfangen konnte, und dennoch brachte ihn die irrationale Angst vor Ansteckung heute in den Konflikt, der Angst nachzugeben oder sich unmenschlich zu fühlen. Der Gewahrsamsbeamte schloss die schwere, hellgraue Eisentüre auf. Ein zooiger Käfiggeruch schlug ihm entgegen, und der kleine Gefangene setzte sich von seiner Betonpritsche auf. Er blinzelte hoch zur Neonröhre und sah sich irritiert in der fensterlosen Zelle um, die nur durch einen mit Aluminiumlamellen verdeckten Luftschlitz sparsam belüftet wurde. Wie fast allen Verdächtigen in Totschlagsverfahren hatten sie ihm seine Kleidung weggenommen und ihn in einen weißen Polyester-Overall gesteckt. Er wirkte abgemagert. Sein braunes Gesicht und die ebenso braunen Hände und Füße, die aus dem weißen Plastik ragten, bildeten den einzig starken Kontrast im Raum. Frische Luft und Unschuldsvermutung sind flüchtige Güter. Erst ihre Abwesenheit macht sich unangenehm bemerkbar. Wie jedes Mal, wenn Strathmann eine solche Zelle betrat, fragte er sich, ob dieser Staat nicht anders mit seinen Problemkindern umgehen konnte. Nicht dass er ein Hotelzimmer erwartete, aber wenigstens ein vergittertes Fenster und ein Bett, vielleicht ein Schreibtisch mit einem Aschenbecher und ein Bild an der Wand, müssten doch für die nach dem Gesetz angeblich Unschuldigen drin sein. Und in der sich wohl auch in diesem Fall anschließenden Untersuchungshaft würde es nicht besser. Allein in den letzten 14 Tagen hatten sich drei Knackis im Hafthaus aufgehangen, wofür Strathmann jedes Verständnis hatte. Der Polizeibeamte zeigte ihm den mit dreckigen braunen Punkten besprenkelten Rufknopf, der unmittelbar neben der Tür und Nirosta-Kloschüssel in der Wand eingelassen war. „Klingeln Sie nach mir, wenn Sie fertig sind.“ Strathmann nickte deprimiert. „Gibt´s hier auch einen Stuhl, auf den ich mich setzen könnte?“, aber schon hörte er die Türe zuschlagen und das mehrfache metallische Klacken des Schlosses. Der kleine Inder behielt die zwei möglichen Meter Abstand und schaute ihn aus dunkelbraunen, beinahe schwarzen Augen unsicher an. „Rechtsanwalt Strathmann. Ihre Bezugsbetreuerin aus dem Wohnheim hat mich beauftragt, mich um Sie zu kümmern.“ Der neue Mandant machte eine verneinende Kopfbewegung und Strathmann erinnerte sich an seine Reise durch Indien, kurz nach dem Abitur. Mit dem Fahrrad war er die über 1000 km entlang des Indischen Ozeans in zwei Monaten von Khyberpass bis nach Goa geradelt, und nie würde er die anfänglichen Missverständnisse vergessen. Das Kopfschütteln bedeutete in diesem Kulturkreis ein aufmunterndes „Ja“. Ein bittendes, hoffnungsvolles „Sprich weiter …“. Er hatte wohl zu schnell gesprochen. „Kathrin schickt mich.“, wiederholte er langsam und überdeutlich. Bei dem Namen „Kathrin“ ging in dem Gesicht seines Gegenüber eine indische Sonne auf, eine Sonne, die Strathmann mit knapp 20 einst an den einsamen Stränden des indischen Ozeans geweckt und ihm Mut gemacht hatte, durch den Dschungel, ohne Ziel, immer weiterzufahren. Languren-Affen hatten Stöcke von den Tamarindenbäumen nach ihm geworfen, was ihn damals belustigt hatte. Der Mandant strahlte über das traurige Gesicht und machte einen Schritt auf Strathmann zu. Er streckte dankbar seine mit Heftpflastern verklebten Hände aus, und Strathmann machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten gegen die kalte Stahltüre. Der kleine Mann verharrte in seiner Vorwärtsbewegung. Sein Lächeln blieb eingefroren in seinem Gesicht stehen. „Sie haben sich bei der Messerstecherei verletzt!“, versuchte Strathmann, sich zu retten und fühlte sich dabei beschissen. „Kathrin hat mir alles erzählt!“, sagte er und faltete mit einer angedeuteten Verbeugung seine Hände zu einem unkörperlichen hinduistischen Gruß, der keinen Körperkontakt notwendig machte. Damals mit 20 hatte er diesen Gruß noch nicht beherrscht. Er erinnerte sich plötzlich: Gegen Mittag hatte ihn ein staubtrockner, erdiger Weg mitten im Dschungel in ein Dorf geführt. Er hatte sein schwerbepacktes Fahrrad an eine palmbedachte Hütte gelehnt und war der enthusiastisch winkenden Einladung des Besitzers folgend, die drei knarzenden Stufen hoch zur Veranda gestiegen. Der dünne Inder hatte hastig Korbsessel um einen wackeligen Holztisch gerückt, seine beiden Hände ergriffen und ihn sanft in einen Sessel gedrückt, während er seiner Frau zurief, sie solle schnell Tee bringen. Unentwegt sprach er dabei in einem Kauderwelsch aus indischem Dialekt und englischen Brocken freundlich auf ihn ein. Irgendwo hatte eine Glocke geläutet. Aus den umliegenden Hütten und dem größeren Schulgebäude waren die Dorfbewohner, allen voran die Kinder, geströmt und hatten sich fröhlich, aber schüchtern, vor der Veranda versammelt. Die Frau seines Gastgebers hatte ihm mittlerweile in einem dünnwandigen Glas Tschai mit frischen Salbeiblättern serviert. Ermutigt von ihrem Lehrer trauten sich die Kinder nun näher heran, und er war aufgestanden und hatte jedem Kind über die Geländerbrüstung hinweg die Hand gereicht. Der Lehrer hatte ihn für die Nacht in sein Haus eingeladen. Noch spätabends saßen sie vor seiner Hütte, und nach einigen Gläsern gegorener Kokosmilch erfuhr er, dass der letzte Weiße, das Dorf vor 15 Jahren besucht hatte. Kurz vor dem Schlafengehen war die Frau des Lehrers mit der 16-jährigen Tochter von einem Besuch ihrer Eltern aus dem Nachbardorf nach Hause gekommen. Sie hatten plötzlich in ihren bunten Saris unter dem dunklen Sternenhimmel vor ihnen gestanden, und noch während der Lehrer sie hatte vorstellen wollen, war Strathmann, der inzwischen beschwipst war, aufgesprungen und hatte der Frau und der Tochter die Hände geschüttelt. Eine peinliche Pause entstand. Strathmann war irritiert. Er suchte den Blick der Frauen, die verlegen einen Schritt zurück getreten waren und ihre Köpfe gesenkt hielten. Plötzlich nahm er die getrommelten Rhythmen wahr, die von einem anderen Dorf her durch den Dschungel drangen. Der Lehrer hatte seinen Arm um Strathmanns Schulter gelegt und ihm den hinduistischen Gruß erklärt, mit dem ein Mann, zur Vermeidung von Missverständnissen, einer fremden Frau mit Respekt gegenüber zu treten hatte. Frau und Tochter hatten ihn daraufhin angelächelt, die Hände gefaltet und sich mit eben jenem Gruß vorbildlich für die Nacht verabschiedet. Seit Wochen war es die erste
Zeugen Jehovas, Salafisten, Buddha und meine goldene Zündapp
Als es am Sonntag um 14 h klingelte, ahnte ich, wer da draußen vor der Haustüre stand. Ich zurrte meinen Morgenmantel fest und strich mir durch die stubbeligen Haare, was zu keiner Verbesserung führte. Mit nackten Füßen schlich ich zur Haustüre und spähte durch die verzierte Scheibe, wobei mir der Unsinn des heimlichen Vorgehens sofort bewusst wurde. Von draußen konnten sie mich ebenso gut sehen wie ich sie. Es blieben nur zwei Möglichkeiten, aber ein beobachtetes Zurückschleichen wäre mir peinlich gewesen, also öffnete ich entschlossen die Haustüre. Die beiden Herren blickten in ihren schwarzen Anzügen so freundlich die zwei Stufen zu mir herauf, dass mir der spontane Satz „Sie schon wieder!“ auf der glatten Zunge ins Straucheln geriet und so von einem griffigen „Guten Morgen!“ rechts des Gaumenzäpfchens überholt wurde. „Sie hatten gesagt, wir könnten wiederkommen. Passt es Ihnen heute?“, fragte der Ältere und brachte seine große Nase durch vorsichtiges Zurücklegen des Kopfes in Sicherheit, als erwarte er erneut ein bissiges „Nein!“, das nach ihm hätte schnappen können. Ich zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, was ihnen Mut machte. Sie traten einen Schritt näher und blickten mich hoffnungsfroh an. „Nun ja, ich bin ein wenig derangiert. Bitte entschuldigen Sie. Es war hart. Die ganze Zeit im Gefängnis, das macht einen müde.“ Ihre Blicke glitten von meinen zerzausten Haaren an mir herunter, streiften das von meinem unartigen Bademantel geöffnete Dreieck mit der spärlichen, grauen Brustbehaarung, verweilten einen Moment an meinen stacheligen Beinen und prüften meine Fußnägel. Mit einem verzagten Gleichschritt zurück, versuchten sie Sicherheitsabstand zu gewinnen, und um ganz sicher zu gehen, klemmten sie sich ihre braunen Lederkladden schützend vor die Brust. „Oh, das tut uns leid …, wir wollten nicht stören …, aber …. Wir dachten …, weil sie ja die letzten Wochen auch immer geöffnet haben …, Gefängnis?“ „Nein, nein! Sie stören nicht.“ Um Vertrauen zu gewinnen, öffnete ich den Gürtel meines Bademantels und gewährte ihnen einen Blick auf meine Unterhose. Dann zog ich mir den Mantel dicht um die Schultern und band den Gürtel wieder fest zu. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Das geht nun schon 20 Jahre so. Rein in den Knast, raus aus dem Knast. Man gewöhnt sich daran. Glauben Sie mir, so schlimm ist das nicht!“ Der Jüngere musterte mich mitleidig. „Aber dann würde Ihnen ein Gespräch mit uns vielleicht helfen. Glauben Sie an Gott?“ Ein leichtes Nieseln kündigte ein von Süden schnell aufziehendes Gewitter an. Ich rückte meine Lesebrille zu Recht und schaute ihn über den Brillenrand hinweg an. „Gott? Ich dachte Sie seien vom Finanzamt! Ich hab mich schon gewundert, dass Beamte sonntags arbeiten. Nun ja, … Gott? Ich weiß nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden …“ Ich spürte, wie die Hoffnung auf missionarischen Erfolg in ihnen aufkeimte und beendete meinen Satz: „…, ich meine, ich habe mich noch nicht entschieden, für welchen Gott. Da gibt es ja so einige?“ Draußen hatte sich der immer zorniger werdende Niesel zu einem heftigen Regenfall gesteigert. Dicke Tropfen prasselten auf den Bürgersteig und tanzten um die Schuhe der beiden Männer. Ein von dumpfem Donnergrollen gefolgter Blitz zuckte aus der dunklen Wolkendecke. Ich hob meine Stimme, um gegen das Unwetter anzusprechen: „Also, bitte erklären Sie mir, welcher Gott Sie schickt – und Sie glauben, er könne mir helfen?“ „Wir sind Zeugen Jehovas. Gott hilft den verlorenen Seelen, die bereit sind, sich zu öffnen und zuzuhören!“, sagte der Jüngere und sein älterer Jünger nickte weise und tapfer, mit einem irgendwie verschwommenen, beinahe spirituellen Blick, während der Regen von seinen mittlerweile klitschnassen Haaren aus den kürzesten Weg zwischen Hemdkragen und Nacken zum Hosenbund suchte. Ich versuchte, ihm in die Augen zu blicken, aber da war dieses vielleicht göttlich Verschleierte, nach außen begrenzt nur durch ein schwarzes Fielmann-Gestell, das mich irritierte, bis mir schlagartig klar wurde, dass die Brille des Mannes beschlagen und mit verschieden großen Wassertropfen übersät war, die punktuell – wie durch eine Lupe – kleinste Stellen seiner hinter dem Glas gelegene Iris vergrößerten und ihm ein unheimliches Aussehen verliehen. „Das ist vielleicht ein Scheißwetter! Wenn ich Millionär wäre, würde ich hier abhauen und mein Glück in Südamerika oder sonst wo suchen!“, brüllte ich gegen den zunehmenden Regen an. „Wollen Sie nicht lieber rein kommen?“ Die beiden drückten sich an mir vorbei in den Flur und schüttelten sich den Regen von den Schultern. Ich glaube, nur ihr eiserner Glaube hinderte sie daran das Wetter und mich, der so spät auf die rettende Idee gekommen war, ihnen Obdach zu gewähren, zu verfluchen. Sie sagten jedenfalls kein böses Wort, als ich ihnen die aus der Form geratenen, triefenden Jacketts abnahm und ordentlich auf einen Bügel an die Garderobe hing. „Wirklich ein Sauwetter! Da kriegt man ja Depressionen!“, versuchte ich sie zu trösten und schob sie dabei sanft in die Küche. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“ „Nein, danke“, sagte der Jüngere. „Wenn Sie vielleicht ein Mineralwasser für uns hätten?!“ Ich unterdrückte die Frage, ob sie für heute nicht schon genug Wasser gehabt hätten, schenkte ihnen ein Mineralwasser und mir einen wunderbar heißen Kaffee ein. Wir setzten uns an den Küchentisch und schwiegen, während ich an meinem dampfenden Kaffee nippte und mir eine Zigarette anzündete. „Wenn Ihr Gott es schafft, mich von meiner Nikotinsucht zu heilen, dann schafft er alles!“, durchbrach ich, mit dem Willen eine Diskussion anzuzetteln, die Stille. „Gott hilft denjenigen, die sich selber helfen!“, murmelte der Ältere und putzte dabei seine Brille trocken. Der Jüngere holte aus seiner durchweichten Kladde eine Zeitschrift heraus und überreichte sie mir feierlich. „Da steht alles drin – unsere Zeitung, der Wachtturm.“ „In dem dünnen Heft soll ALLES stehen?“ Ich schaute ihn skeptisch an. „Das hätten Sie mir einfach in den Briefkasten werfen können! … Ich meine, ich lese das Käseblättchen, die Metrowerbung …, das Ding hätte ich in 5 Minuten durchgehabt. Ich dachte, sie wollten mit mir ernsthaft über Glaubensfragen diskutieren?“ Der Ältere setzte seine Brille auf und hob beschwichtigend die Hände: „Wir gehen von Tür zu Tür und freuen uns über jedes offene Ohr, das die Botschaft des Herren vernehmen möchte.
Die Bremer Stadtmusikanten, Marathon-Man und Captain Picard
Auf der Einladungskarte stand in Kleinbuchstaben geschrieben „begegnungen“. Das Konzert fand im alten römischen Kulturkeller statt. Auf der Bühne der syrische Musiker Hesen Kanjo mit seinem orientalischen Instrument Qanun, einer Art Zither, an den Percussion-Instrumenten Jürgen Dahmen und am Kontrabass Konstantin Wienstroer. Klassische arabische Musik begegnete Jazz-Rhythmen und Jazz-Basslinien. Eine glückliche Begegnung auf kleiner Bühne, die wir andächtig genossen. Hörte ich das von Jazz begleitete Qanun seit Jahr und Tag, würde es bei mir wahrscheinlich irgendwann einen Würgereiz hervorrufen, wie die Carglass -, die Seidenbacher-Müsli-Werbung, Platz 1 der Popmusik-Charts oder „Die kleine Nachtmusik“? So aber war es tatsächlich eine glückliche Begegnung. Dem Begriff Glück wohnt – wie dem Begriff der Kunst – das Ungewöhnliche, Unerwartete, Überraschende – jedenfalls nichts Objektives – bei. Ihre semantische Bedeutung erlangen die Begriffe durch ihre immanente Seltenheit. All das wusste ich, als ich wegen einer versuchten Mordsache als Nebenklagevertreter nach Bremen fuhr. Ich war davon ausgegangen, dass nur kurz verhandelt werden würde, da der Verteidiger des Angeklagten auf den schlechten gesundheitlichen Zustand seines Mandanten hingewiesen hatte. In der Hoffnung auf nachmittägliche Freizeit nahm ich meine Lebensgefährtin mit in die alte Hansestadt. Am Anreisetag quartierten wir uns abends in ein Hotel direkt am Markt des Rolanddenkmals ein und flanierten bei sommerlichen Temperaturen durch die Stadt, setzten uns schließlich auf´s Deck des Theaterschiffs und lauschten bei kühlen Weinschorlen bis spät in die Nacht den Klängen einer kubanischen Jazztruppe. Hin und wieder hörte man das Platschen von größeren Fischen in der braunen Flusssuppe, während die Sonne im pastellfarbenen Himmel über der Weser unterging. Noch ahnte ich nichts vom Marathon-Man und Captain Picard, die ich bald kennenlernen sollte. Bei strahlendem Sonnenschein überquerte ich mit meiner schweren Aktentasche am nächsten Morgen den Bremer Marktplatz und legte die wenigen Schritte bis zum ehrwürdigen Bremer Landgericht zurück. Um kurz vor 9 stand ich am Raum 218 vor noch verschlossener Türe, als ein auf den ersten Blick junger, dynamischer Mann auf mich zustürmte, zur Begrüßung meine Hand ergriff und sich fröhlich auf eine sehr bestimmte Art vorstellte: „Kellermann. Sie sind bestimmt Rechtsanwalt Meister aus Mönchengladbach. Wir haben telefoniert. Warten Sie, ich schließe Ihnen die Türe auf. Es dauert noch einen Moment – und passen Sie solange auf den Saal auf.“ Mit diesen Worten schob mich der Vorsitzende Richter in den Saal. „Sie tragen die Verantwortung dafür, dass nichts wegkommt!“ und weg war er. Ich nahm den Geruch von alter Holzvertäfelung, Bänken, Pulten und Balustraden auf, ein Geruch, der mich an die Zigarrenkisten meines Vaters erinnerte, an denen ich als Kind immer geschnuppert hatte. Ich hatte gelesen, dass hier früher auch Bürgerversammlungen abhalten worden waren, bei denen die reichen Kaufleute dicke Zigarren geraucht hatten, deren Qualm bis hinauf zur 6 Meter hohen Decke gestiegen war, um sich für Dekaden in jede Holzpore und Deckenritze einzubrennen und sich dauerhaft mit dem gewachsten Holz zu diesem würzigen Wohlgeruch zu vermischen. Mit Bewunderung blickte ich mich in dem riesigen Schwurgerichtssaal um und atmete den Geist einer längst verstrichenen Epoche ein. Nach und nach erschienen die anderen Prozessbeteiligten, allerdings nicht – wie ich vielleicht für einen Moment geträumt hatte – mit weiß gepuderten Perücken, Monokeln, Tintenfass und Federkiel, sondern durchaus zeitgemäß gekleidet. Der Staatsanwalt, der Verteidiger des Angeklagten, die Protokollführerin, der Dolmetscher und der Sachverständige grüßten mich nicht unfreundlich, aber distanziert und begannen vertraut untereinander zu plaudern und zu scherzen. Jetzt hatte ich das Gefühl, zwar doch in der richtigen Epoche zu sein, aber dennoch nicht dazu zu gehören. Der Prozess begann. Mein Mandant, das Opfer einer Messerstecherei, saß angespannt neben mir und beäugte den Angeklagten mit Rachegefühl in den Augen. 6 Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet und sein Hass auf den damaligen Freund, der nun auf der Anklagebank wegen versuchten Mordes saß, war seither mit jedem Tag, den er auf den Prozess gewartet hatte, tiefer geworden. Ungläubig hatte er den Kopf geschüttelt, als ich ihm berichtete, dass sein vorheriger Anwalt die 3-jährige Verjährungsfrist für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche vergeigt hatte und die Mordanklage möglicherweise in der Beweisaufnahme wie ein angeschossenes Pferd zusammenbrechen würde. „So langsam, wie die Justiz, kann kein Pferd sein!“, hatte er immer noch kopfschüttelnd meinen Vergleich aufgegriffen, woraufhin ich in gespielter Zerknirschung erwiderte, „der Amtsschimmel manchmal schon!“ Die folgende Beweisaufnahme bestätigte meine Prognose und ließ die als gesichert geltende Erkenntnis durchschimmern, Strafverteidiger sollten keine Nebenklage vertreten. Mit einer, meine Position als „Opferanwalt“ möglicherweise nicht in Einklang zu bringender Anerkennung, verfolgte ich aufmerksam die wohlwollende, mit Aktenkenntnis gespickte, und dennoch durchaus kritische Befragung des Angeklagten durch den Richter. Während ich weiter über meine Rolle als Nebenklagevertreter sinnierte, beobachtete ich den mir immer sympathischer werdenden Staatsanwalt, dem ich angesichts seines Dienstsitzes in der Hansestadt und einer bekannten Fernsehserie den Beinamen Captain – Captain Picard – verpasste. Auch er blieb während des gesamten Prozesses gegenüber dem Angeklagten im ernsten Bemühen um Objektivität ohne Schärfe, ohne Polemik und hinterfotzige Unterstellung, obwohl seine Mordanklage während des Verfahrens immer mehr in Richtung gefährliche Körperverletzung wie Knäckebrot zerbröselte. Mir kam der Gedanke, dass auch vermeintlich gesicherte Erkenntnisse einer Überprüfung zugänglich sind. Ja, doch! Auch Verteidiger können ohne Verrat und unsinnige Schärfe eine Nebenklage vertreten. Welchen Dienst könnte ich meinem Klienten erweisen, indem ich Öl ins Feuer gösse, indem ich im Ignorieren der erarbeiteten Beweisergebnisse versuchte, den Staatsanwalt rechts zu überholen, indem ich die verbitterte Perspektive des Mandanten aufgriffe und ihn bis zur Urteilsverkündung im Trügerischen bestärkte, ein erhofftes, hartes Urteil werde seinen Rachedurst löschen. Nein, auch Verteidiger können Opfer vertreten. Ihre Aufgabe ist es dann an der Wahrheitsfindung aktiv mitzuwirken und mit Einfühlungsvermögen, den Mandanten auf ein realistisches Ergebnis einzustellen, ihm bei allem Verständnis für seine Gefühlslage klarzumachen, dass blinde Rache an sich und vor allem, wenn sie sich im Rechtsstaat nicht verwirklichen lässt, letztlich ein Irrweg ist. In den nachfolgenden Gesprächen verdeutlichte ich dem Geschädigten, dass es nicht dem Angeklagten anzulasten ist, dass der vorheriger Opferanwalt 6 Jahre lang nichts unternommen hatte, um diesem dicken weißen Pferd einen Tritt zu geben, Beschleunigung ins Verfahren zu bringen und berechtigte Schadensersatzansprüche titulieren zu lassen – auch wenn das gezahlte, bescheidene Honorar eigentlich keine übersteigerten Erwartungen hätte aufkommen lassen
Da wird man ja irre!
„Ah, unser Herr Meister beehrt uns in den Niederungen einer Bußgeldsache. Was tun Sie hier? Sind Ihnen die Mörder ausgegangen?“, begrüßt mich die freundliche Amtsrichterin mit einem süffisanten Lächeln. „Tach, Frau Salosch!“ Ich grinse die Vorsitzende breit an. „Sie sollten wissen, dass ich keine Mörder, sondern grundsätzlich Unschuldige vertrete. Es sind die schrecklichen Justizirrtümer, die mir offenbar diesen Ruf eingebracht haben. Im Übrigen, wollte ich mal sehen, was Sie hier so den ganzen Tag treiben.“ Es entspannt sich ein freundliches Gespräch über die Leiden einer müden OWi-Richterin, den Mangel an Mitarbeitern in der Geschäftsstelle, die Flut von sinnlosen Einsprüchen gegen ach so klare Bußgeldbescheide, die zu 99 Prozent alle verworfen werden, und den Unsegen von Rechtsschutzversicherungen. „Und da wir schon mal beim Thema sind, glauben Sie ja nicht, mich mit Ihrem Charme becircen zu können. Der Fall Ihres Mandanten ist doch glasklar! Zwei Polizeibeamte haben Ihren Mandanten bei einer gezielten Überwachung mit dem Handy am Ohr erwischt! Wetten, dass Herr …“, sie blättert in der Akte … “ Telefonikis eine Rechtsschutzversicherung hat?“ Da wir irgendwie noch in einer Art informellem Vorgespräch sind und ich auch etwas zum allgemeinen Wehklagen beitragen möchte, berichte ich Ihr von meinen frustrierenden Erfahrungen mit dem Zeugenbeweis in jüngster Zeit. „Der Zeugenbeweis war ja schon immer das schlechteste Beweismittel, aber in letzter Zeit …, ich weiß nicht, ob es an diesen Gerichtsshows oder der zunehmenden Respektlosigkeit gegenüber der Justiz liegt …, aber es treibt einem zunehmend die Verzweiflung ins Gesicht, was man sich heutzutage so alles für einen Schmarren in der Hauptverhandlung anhören muss.“ Die Richterin stimmt mir entschieden zu: „Da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen! Neulich ging es um einen Verkehrsunfall. Jeder Zeuge hatte was anderes gesehen. Einmal kam das Auto von rechts, einmal von links, einmal war es ein blaues, beim nächsten Zeugen ein gelbes Auto … und als dann die Polizeibeamten aussagten …, die reine Katastrophe …, der eine Beamte hatte ein rotes Auto in Erinnerung, der andere Beamte, ein grünes. Da wird man ja irre!“ Ich quittiere ihre kleine Anekdote mit einem Lächeln, beschreibe noch kurz das zum Thema passende Basketball-Video über die Unsicherheiten des Zeugenbeweises, und die Richterin tritt in die Beweisaufnahme ein. „Okay!“, sagt sie. „Nehmen Sie den Einspruch zurück?“ „Ich befürchte, nein. Noch einen Justizirrtum kann ich einfach nicht ertragen.“ Herr Telefonikis bestreitet telefoniert zu haben. Der erste Polizeibeamte weist daraufhin, dass der Vorfall schon Monate zurückliegt und er fast jeden Tag an der fraglichen Stelle Überwachungen vornimmt. Er sei sich aber sicher, dass Herr T. das Handy am Ohr gehabt habe. Auf meine Frage, wo er denn genau gestanden habe und wo sich sein Kollege zu der Zeit befunden habe, ist er sicher, dass er auf der einen Seite der Straße, sein Kollege aber auf der anderen Straßenseite gestanden habe. Das machten sie immer so. Der nächste Zeuge, der Polizeikollege, ist sich seiner Beobachtung ebenfalls ganz sicher. Er habe unmittelbar neben seinem Kollegen auf der gleichen Straßenseite alles beobachtet. Das machten sie immer so. Die Richterin lächelt mich gequält an: „Mit ner Einstellung einverstanden?“ Auch wenn es mir schwer fällt, willige ich nach einigem Hin und Her ein. Zum Abschied zwinkert mir die Richterin zu: „Und er hat doch telefoniert!“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Der arme Herr Beuter!
Eigentlich kämen wir mit drei Zimmern wunderbar aus: Küche, Schlafzimmer, Bad, würden völlig genügen – denn allabendlich sitzen wir vor dem Zubettgehen noch einige Zeit in der Küche. Auf der kleinen Bose-Box dudelt über das iPhone unsere aktuelle Lieblingsmusik – zur Zeit Roy Hargrove und Snarky Puppy. Der Küchentisch ist überladen mit Büchern, Zeitungen und Krimskrams, der erst am nächsten Tag an seinen angestammten Ort in Hand- oder Hosentaschen zurückwandert oder eben einfach bis zur nächsten Aufräumaktion liegen bleibt. Da, wo noch Platz ist, stehen Teekanne und unsere Teetassen. Es gibt kaum etwas Langweiligeres als Juristen, die ständig über ihre Fälle reden (bloggen ist was anderes; muss ja keiner lesen/zuhören?!) und so bemühe ich mich, mein Alltagsgeschäft nicht zum Thema zu machen, was mir im Allgemeinen nicht schwer fällt. Wir reden über Gott und die Welt, Kinder, die Bücher, die wir gerade lesen oder die Musik, die wir gerade mögen. Die Gespräche verlaufen ungefähr so geordnet, wie unser Küchentisch meistens aussieht. Vor einigen Tagen aber ertappte mich Anna in Gedanken an einen Bankraub-Prozess, in dem ich gerade verteidige. „Hey Kjanqs (armenischer Kosename), woran denkst du gerade?“ „Mmh …, an Weicheier, und ich weiß nicht, ob ich Herrn Beuter damit nicht Unrecht tue.“ `Wer ist dieser Herr Beuter?´ fragen ihre dunklen, strahlenden Augen, die Menschen, die Anna nicht kennen, oftmals in Unsicherheit, wenn nicht Angst versetzten. „Ach, das ist ein Bankangestellter, der das Pech hatte, in wenigen Monaten dreimal von meinem Mandanten in verschiedenen Bankfilialen überfallen worden zu sein. Heute schilderte er als Zeuge, welche Auswirkungen die Überfälle auf ihn hatten. So betroffen, wie die Schöffen dreinschauten, war das keine Sternstunde für die Verteidigung. Er kann nicht mehr mit Kunden arbeiten, Schlafstörungen, Angstattacken, wenn er z.B. mit seiner Frau beim Waldspaziergang auf Fremde trifft …, seit Monaten in therapeutischer Behandlung … Ich weiß nicht, das kam mir irgendwie übertrieben vor. Ich kann mir so ein Trauma jedenfalls nicht wirklich vorstellen, zumal der Bankräuber vergleichsweise human agiert hat. Es gab keine körperliche Gewalt, die ungeladene Pistole hatte er zwar bei seiner Forderung, den Tresor zu öffnen, sichtbar in der Hand, richtete sie aber nicht auf Herrn Beuter, sondern sicherte ausdrücklich zu, es werde nichts passieren, wenn Herr Beuter keine Dummheiten mache.“ „Schon klar, dir hätte das bestimmt nichts ausgemacht?! Beim dritten Überfall hättest du dem Räuber nach der Geldübergabe wahrscheinlich noch einen Kaffee angeboten, ein Autogramm gefordert, ihm die Tür aufgehalten und dich mit `Tschüss, bis zum nächsten Mal!´ verabschiedet.“ Ich grinse gequält. „Ich bin selbst schon mit einer scharfen Waffe bedroht worden.“ Sie legt ihre Hand auf meine: „Erzähl!“ „Das ist schon lange her. Ich war mit meiner damaligen Freundin und den Kindern Jeff und Simon in meinem rostigen, uralten und schrecklich gelben Passat auf dem Weg nach Hause. Wir fuhren gerade durch unsere Siedlung, als plötzlich ein junger Mann auf die Straße trat. Ich bremste und hielt unmittelbar vor ihm an, als er eine Knarre hob und über die Motorhaube direkt auf meinen Kopf zielte. Mit der Pistole bedeutete er mir, aus dem Wagen zu steigen, dann sah ich wieder direkt in die Mündung seiner Waffe. Ich weiß nicht mehr genau, was ich damals dachte, ich weiß nur noch, dass die Zeit plötzlich viel langsamer lief, während ich meine Chancen ausrechnete und versuchte, den Typ einzuschätzen. Ich hatte das Gefühl, er sei stark angetrunken, was ihn noch unberechenbarer machte. Die Waffe weiter auf meinen Kopf gerichtet, machte er einen Schritt zur Seite auf meine Fahrertüre zu .., und ich gab Vollgas. Er flog über meinen Kotflügel und landete glimpflich neben meinem Fahrzeug. Aus dem Seitenfenster sah ich, wie die Pistole über den Asphalt gegen den Bordstein schlitterte. Ich raste um die Ecke, hielt an der dortigen Telefonzelle (ja, es gab eine Zeit ohne Handys) und rief die Polizei. Wundersamer Weise fuhr drei Minuten später ein Streifenwagen vor. Die Beamten ließen sich kurz den Sachverhalt schildern, fuhren davon und verhafteten den Mann.“ „Oh Gott, aber war das klug von dir? Er hätte dich erschießen können!“ „Tja, im Nachhinein kann ich sagen, es war die richtige Entscheidung. Was wäre passiert, wenn ich ihm das Auto mit hysterischer Frau und zwei schreienden, kleinen Kindern überlassen hätte! Den geilen Passat hätte ich nie wieder gesehen!“ „Und? Ging es dir danach wie Herrn Beuter?“ Ich lächele sie an. „ Ich hab nach wie vor ein Trauma bezüglich hysterischen Frauen, schreienden Kindern und gelben Autos, aber ansonsten – nöh! Ich war ein paar Stunden aufgeregt, aber irgendwie hat es mich nicht sonderlich betroffen. In dem Prozess gegen den Mann habe ich später noch ein gutes Wort für ihn eingelegt… Alkohol, keine richtige Angst, so schlimm war das alles nicht, etc.“ Anna zeigt mir ihr ironisches Lächeln: „Mmh, vielleicht ist ein Bankraub doch noch etwas anderes? Immerhin geht es da um Geld und nicht nur um Frauen, Kinder und Autos?“ „Das Verrückte ist, dass die Kollegin von Herrn Beuter, die mit überfallen wurde, kein Trauma erlitt. Sie schilderte den Vorfall ganz nüchtern. Sie hätte kaum Angst gehabt und glaubte dem Räuber, dass ihr nichts passiere, wenn sie seinen Forderungen nachkomme. Das habe sie gemacht und alles sei gewaltlos abgelaufen.“ „Vielleicht will Herr Beuter einfach ein hohes Schmerzensgeld haben und dramatisiert deshalb so? Aber das zu unterstellen, wäre wohlmöglich ungerecht. Jeder empfindet halt anders?! Oder, was denkst du? Ich zucke mit den Achseln. „Also, vielleicht doch kein Weichei, dieser Herr Beuter, sondern einfach verdammt ausgebufft? In jedem Fall hast du Recht: Jeder empfindet halt anders!“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus; Polizisten lügen nicht!
Heute scheint ein Tag der Reminiszenzen zu sein. Ich denke zurück an eine an sich unspektakuläre Berufungsverhandlung, die den damaligen “frischen”, also noch unerfahrenen, Vorsitzenden der Berufungskammer geprägt haben dürfte. Erstinstanzlich war der damals noch von einem anderen Rechtsanwalt vertretene Angeklagte vom Amtsgericht wegen mehrfachen gewerblichen Diebstahls in besonders schwerem Falle zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr ohne Bewährung verurteilt worden. Daraufhin übernahm ich seine Verteidigung in der Berufungsinstanz. Wie ich den Akten entnehmen konnte, war das Amtsgericht davon ausgegangen, dass der Angeklagte professionell hochwertige Markenklamotten aus Warenhäusern entwendet hatte. Zur Überlistung der Sicherungsanlagen am Ausgang der Geschäfte habe er das Diebesgut zunächst in eine Aluminiumdecke gewickelt und sei dann mit seiner großen Beuteltasche seelenruhig an den Alarmdetektoren vorbei nach draußen gegangen. Die Alarmsensoren hätten auf die Sicherungsetiketten an der Bekleidung nicht anschlagen und Alarm auslösen können, da die Aluminiumdecke die entsprechende Strahlung der Detektoren abgehalten hätte. Diese Vorgehensweise spreche für die hohe Professionalität des Diebes. Die in der Beweisaufnahme gehörten vier Polizeibeamten, die mit dem Fall befasst waren, bestätigten folgendes unisono: Die sichergestellten Kleidungsstücke seien allesamt hochwertig und neu gewesen. Dies habe man aufgrund der noch an den Kleidungsstücken befestigten Preisetiketten und Sicherungsetiketten eindeutig feststellen können. Die ebenfalls beim Angeklagten sichergestellte Aluminiumdecke sei eine Spezialanfertigung gewesen, wie sie auch von anderen professionellen Dieben benutzt werde. Die Beweislage war also für das Amtsgericht und die Staatsanwaltschaft “rund”. Um so ungehaltener war der Berufungsrichter, als ich seiner Anregung, die Berufung auf das Strafmaß zu beschränken und auf eine umfassende Beweisaufnahme zu verzichten, nicht nachkam und stattdessen Freispruch als Ziel der Verteidigung formulierte. Der Richter und der anwesende Oberstaatsanwalt schüttelten missbilligend den Kopf. Was will der verrückte Verteidiger denn damit erreichen? Will er uns die Zeit stehlen? Also hörten wir uns die vier Polizisten an, die wie aus einem Munde ihre Angaben beim Amtsgericht bestätigten. Ja, sie seien 100 %ig sicher, dass die Preisetiketten mit Nylonbändchen noch an jedem der beim Angeklagten sichergestellten Kleidungsstücke befestigt gewesen seien. Auch die Sicherungsetiketten seien durchweg vorhanden gewesen und ja, es habe sich eindeutig um eine speziell angefertigte Aluminiumdecke gehandelt. Mimik und Gestik des Richters und des Oberstaatsanwaltes waren ebenso eindeutig: `Na, Herr Anwalt. Haben wir doch direkt gesagt – die Beweisaufnahme geht für die Verteidigung nach hinten los. Klarer Schuss ins Knie.´ Ich gestattete mir noch eine Frage an den letzten Polizeizeugen: “Was ist eigentlich aus der Diebesbeute geworden. Ist sie ordnungsgemäß asserviert worden?” Die Frage wurde mit einem überheblichen Lächeln in meine Richtung und Augenzwinkern in Richtung des Vorsitzenden mit “Selbstverständlich, Herr Rechtsanwalt!” beantwortet. “Wir sind schließlich auch Profis.” “Na, das höre ich aber gerne”, erwiderte ich. “Wie wär´s, wenn einer mal schnell rüber zur Staatsanwaltschaft rennt und die Asservate holt? Ich will die nämlich sehen!” Der Vorsitzende wurde blass – wahrscheinlich vor Wut. Das Gesicht des Oberstaatsanwaltes wurde rot. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und polterte mich schräg an: “Wollen Sie behaupten, dass vier Polizeibeamten hier und beim Amtsgericht gelogen haben. Wollen Sie unterstellen, die Ermittlungsakten der Polizei seien manipuliert?!!!!!!!!! Das ist doch die Höhe! Was soll diese unseriöse Art der Verteidigung?” Auch wenn es mir schwer fiel, ruhig zu bleiben, antwortete ich gelassen: “Aber, aber, Herr Kollege, ich behaupte doch nicht, dass die Beamten gelogen haben. Mein Mandant behauptet das! Ich mache hier meinen Job – genauso wie Sie.” Eine halbe Stunde später erschien ein Wachmeister mit einem schwarzen Sack, in dem sich die Asservate befanden und kippte diesen ohne großes Federlesen auf dem Richtertisch aus. Wieder änderten sich die Gesichtsfarben des Richters und des Oberstaatsanwaltes, diesmal aber in umgekehrter Richtung. Der Vorsitzende lief gefährlich rot an und der Oberstaatsanwalt wurde vampirweiß, man nennt das wohl “kalkweiß”. Auf dem Richtertisch lag ein Haufen T- und Sweatshirts, allerdings ohne Preis- oder Sicherheitsetiketten; daneben eine hellblaue Babywolldecke – ohne Aluminiumbeschichtung. Der Vorsitzende entschuldigte sich bei mir, während der Oberstaatsanwalt noch um Fassung rang. Natürlich gab es für meinen Mandanten einen Freispruch. Die Frage, ob der Oberstaatsanwalt gegen seine Polizeibeamte ein Ermittlungsverfahren u.a. wegen falscher uneidlicher Aussage und Freiheitsberaubung im Amt eingeleitet hat, können Sie sich selbst beantworten. Denken Sie dabei an Krähen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Jetzt werden wir mal persönlich. Über die Leidenschaft, in fremden Schlafzimmern rumzuwühlen.
Wenn man sehr verärgert ist, sollte man vorsichtig sein, was man schreibt! Erst mal bis 10 zählen und tief durchatmen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen im nachfolgenden Artikel sind rein zufällig. Auch gibt es kein Landgericht Lochum.Als ich den Zellentrakt des Landgerichts Lochum betrat und auf den Haftvorführraum zuging, hörte ich bereits die bedächtige, monotone Stimme von Staatsanwalt Chaplin. Er stand vornübergebeugt am Richtertisch und redete auf die Haftrichterin ein – die Köpfe nur 30 cm auseinander. Jetzt bemerkten sie mich, ein letzter geflüsterter Satz und Charly richtete sich auf. Mit seiner grauen Bügelfaltenhose, gelbem Hemd und einem schreiend unpassenden braunen Jackett aus den 50iger Jahren kam er mit wenigen Schritten auf mich zu. Ich meinte ein „guten Tag“ gehört zu haben, als sich der kleine Mann auf seinen Stuhl neben der Türe setzte. Den Gedanken, die beiden bei einem flüchtigen Kuss erwischt zu haben, verwarf ich schnell und dennoch fiel mir die nun schwindende Gesichtsröte der Richterin auf. Auch sie verweigerte eine auch nur halbwegs freundliche Begrüßung. „Sie sind Rechtsanwalt Meister? Den Sinn ihres Haftprüfungsantrages müssen sie mir erklären. Wo ist ihr Mandant?“, schnippte sie mich an. Während ich mir noch Gedanken machte, ob das Jackett des Staatsanwalts passend zu dessen Brille geschneidert oder umgekehrt, die Brille nach dem Jackett ausgesucht worden war, antwortete ich: „Erst einmal einen wunderschönen Tag allerseits. Ich könnte mir denken, dass mein Mandant anlässlich seiner Haftprüfung in einer der vielen Zellen da draußen sitzt? Geben Sie mir den Schlüssel, und ich hole ihn. Über den Sinn von Haftprüfungsanträgen im Allgemeinen und Speziellen können wir ja dann in seiner Anwesenheit sprechen?“ Ich setzte mich und wollte gerade zu einem Kompliment für die Brille ansetzen, als Charly mich ohne eine Schwankung in der Tonhöhe und ohne jede Gesichtsregung leise ansprach: „Mir erklären Sie, wieso sie mir die Ermittlungsakte erst zwei Tage nach Fristsetzung zurückgesandt haben. “ Ich war baff und fing an in der Akte nach dem Rücksendungsschreiben zu suchen. Einem Aktenvermerk meiner Sekretärin konnte ich entnehmen, dass die Akte rechtzeitig in den Postlauf kam und es diverse Telefonate mit der Geschäftsstelle der StA gegeben hatte. Die Akte war dort wohl untergegangen und dann wieder aufgetaucht. Der Sachbearbeiter hatte sich für seine Nachfragen bei meiner Sekretärin freundlich entschuldigt. Ohne Charly anzusehen las ich in dem stillen Zimmer- wie für mich selbst, leise aber gut hörbar – den Aktenvermerk vor und beendete ihn mit dem gedankenverlorenen Satz: „Das sind ja Zustände bei der Staatsanwaltschaft Lochum, tsss, tsss. tsss.“ Endlich wurde der Mandant vorgeführt. Er nahm neben mir Platz und ich legte los: „Okay, Herrn Alibidi wird ein bandenmäßiger Betrug vorgeworfen. Die Schadenssumme von knapp 100.000 € ist auch nicht allzu gering. Auf der anderen Seite ist Herr Alibidi bereit, sich konstruktiv einzulassen und eine Kaution i.H.v. 15.000 € zu stellen. Er lebt mit zwei kleinen Kindern und seiner Ehefrau in ansonsten geordneten Verhältnissen und wird sich dem Verfahren stellen. Ich denke, dass unter diesen Voraussetzungen durchaus eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls in Frage kommt.“ Die mutige Haftrichterin schielte rüber zu Charly, der immer noch regungslos auf seinem Stuhl saß. Er lebte noch, denn nach einigen langen Sekunden fing er sinuston-gleich an zu sprechen. Ich beobachtete fasziniert seine Augen. Kein einziger Wimpernschlag, keine Mimik. Wie schaffte der das nur? Charly machte klar, dass er ein Geständnis begrüßen würde und die Kaution von der Höhe her in Ordnung sei. Eine Haftverschonung komme heute aber nicht in Frage, erst müsse der Mandant von ihm persönlich vernommen werden. Zwar gehe auch er nicht von Fluchtgefahr aus, aber im Moment bestehe noch Verdunklungsgefahr, weil erstens, das „ertrogene“ Geld noch nicht sichergestellt sei und zweitens, Mittäter, die noch nicht ermittelt werden konnten, gewarnt werden könnten. Um keine Zeit zu verlieren, könnten wir sofort mit der Vernehmung beginnen. Ein Blick zur Haftrichterin bestätigte meine Vermutung, dass zumindest in Lochum der Staatsanwalt über Haftfragen entscheidet. Die Richterin fragte ohne weiteren Kommentar, ob ich den Haftprüfungsantrag für heute zurücknehmen wolle. Ich schluckte meinen Ärger herunter und wenig später fand die Vernehmung in erstaunlich harmonischer Stimmung statt. Alibidi räumte seinen Tatbeitrag ein. Er habe Hilfe geleistet und dafür 4.000 € erhalten. Hintermänner kenne er nicht, die Schadenssumme sei seinem Mittäter zugutegekommen. Wenn dieser genau das Gegenteil behaupte, sei das gelogen. Charly war mit der Vernehmung zufrieden und menschliche Züge blitzten für kurze Augenblicke auf, als wir gemeinsam Herrn Alibidi zurück in seine Zelle begleiteten. Stolz erzählte er, dass er jeden Tag mit dem Fahrrad zum Dienst fahre und in seiner Freizeit ein begeisteter Bergsteiger sei. Er sei einer der wenigen Staatsanwälte, die noch selbst ermittelten. Für ihn sei es spannend, früh morgens mit Polizeibeamten in Wohnungen zu stürmen und die Schlafzimmer von Beschuldigten zu durchsuchen. Er verabschiedete sich freundlich und versprach in Kürze wegen eines neuen Haftprüfungstermins zurückzurufen. Nach ein paar Metern drehte er sich noch einmal kurz zu mir um: „Ich will nicht nur die Kaution, sondern auch die Pässe ihres Mandanten. Sie liegen in der Schlafzimmerkonsole rechts, oberste Schublade.“ Hierbei huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Nach drei Tagen rief ich Charly an und fragte, was los sei. „Warum sind Sie so ungeduldig? Ihr Mandant sitzt doch erst 6 Wochen in Haft.“ „Jeder überflüssige Tag Haft, ist einer zu viel. Sagt Ihnen der Begriff „Ultima Ratio“ in dem Zusammenhang etwas?“ „Ich werde nächste Wochen noch einmal den Mittäter vernehmen. Solange muss sich ihr Mandant gedulden.“ In dem Telefonat in der Woche danach teilte er mir mit, dass der Mittäter bei seiner Aussage bleibe. „Oh, wundersame Überraschung!“ entfuhr es mir. „Solange die Schadenssumme nicht auf dem Tisch liegt und die Hinterleute nicht benannt werden, stimme ich einer Haftverschonung nicht zu. Im Übrigen ist die Anklage fertig und liegt bereits beim Schöffengericht.“ Klack, Ende des Telefonats. ‚Was für ein arrogantes A ……, na warte! Die können in Lochum doch nicht alle vom anderen Stern sein‘, – dachte ich. Mit einer am Telefon freundlich wirkenden Vorsitzenden vereinbarte ich am gleichen Tage einen neuen Haftprüfungstermin nur wenige Tage später und erlebte ein Déjà-vu. Wieder war Charly vor mir im Richterzimmer,
Gestehen Sie, wir haben alles auf Film!
Wir sitzen im Besucherraum der JVA. Mal wieder so eine Beweislage, bei der ich denke, da hilft nur noch die Flucht nach vorne. Aber der heroinabhängige Mandant, der zwei kleine Diebstähle zugibt, bestreitet die entscheidende Anklage wegen räuberischen Diebstahls. “Nein”, sagt er, “ich habe die Verkäuferin bei der Flucht nicht geschlagen – und schon gar nicht, um im Besitz der Beute zu bleiben. Die hab ich nämlich bei der Rangelei mit ihr verloren. Sie war oben in meiner Jacke und ist noch im Laden rausgefallen. Ich wollte nicht in den Knast und da bin ich abgehauen!” “Nach der Ermittlungsakte sieht das anders aus”, erwidere ich. “Sowohl die Verkäuferin als auch eine Kundin behaupten, du hättest die Verkäuferin bewusst und fest in die Rippen geschlagen und dann mit der Faust ausgeholt, um ihr ins Gesicht zu schlagen. Das Ganze ist auch noch von der Überwachungskamera festgehalten worden. In dem Auswertungsbericht der Polizei steht, dass die Zeugenaussagen durch die Videoaufnahme eindeutig belegt sei.” Der Angeklagte kratzt sich am Kopf. “Das kann nicht stimmen! Ich stand allerdings so unter Entzug, dass ich mir heute auch nicht mehr ganz sicher bin, wie das damals abgelaufen ist.” Bei der Sachlage kann ich dem Angeklagten keine Hoffnungen auf Bewährung oder gar Haftverschonung im Hauptverhandlungstermin machen. Zu dick ist sein Vorstrafenregister. Ihm bleibt erfahrungsgemäß nur der Weg über den § 35 BtMG – Therapie statt Knast. Aber bis dahin wird es wohl noch einige Monate dauern. In der Hauptverhandlung gebe ich für den Mandanten eine Erklärung ab. Er räumt die beiden Diebstähle ein und kann sich nicht mehr an die Sache mit der Verkäuferin erinnern, weil er zum damaligen Zeitpunkt unter starkem Entzug stand und zudem Benzodiazepam in rauen Mengen geschluckt hatte. Sollte er der Verkäufern weh getan haben, so tut ihm das ausgesprochen leid. Er wisse heute nur noch, dass er aus Angst vor seiner Verhaftung weggelaufen sei. An die Diebesbeute – ein paar Kosmetika – habe er bei seiner Flucht überhaupt nicht gedacht. Die Richterin fragt mich, ob ich die Akte gelesen hätte. “Klar” sag ich, “aber ich kann nur wiedergeben, was mir mein Mandant erzählt hat und wenn wir schon ein wasserdichtes Beweismittel in Form eines Videomitschnitts haben, warum schauen wir es uns nicht einfach mal an?” Gesagt getan. Zur großen Überraschung aller, sieht man auf dem Video ganz deutlich, wie sich der Angeklagte aus der “Umarmung der Verkäuferin” herausdreht, alle möglichen Kosmetika hierbei zu Boden fallen und der Angeklagte aus dem Bild rennt. Nach dem dritten Anschauen in Zeitlupe ist selbst die Staatsanwältin für einen kurzen Moment verunsichert. Ich denke laut: “Tja, wie gut, dass wir mal ein vernünftiges Beweismittel zur Verfügung haben. Ohne Gewalt und ohne Beutesicherungsabsicht – kein räuberischer Diebstahl. Von mir aus können wir die Beweisaufnahme schließen.” So sehen es auch die Vorsitzende und die Schöffen. Nur die Vertreterin der objektivsten Behörde der Welt, will selbst bei dieser Sachlage ihre Anklage mit allen Mitteln durchsetzen, obwohl sie genau weiß, dass sie sich dabei eine blutige Nase holen wird. Ich habe das noch nie verstanden. Warum in drei Teufels Namen sind (manche) Staatsanwälte oft so unflexibel wie ein Öltanker beim Bremsvorgang? Ist das vielleicht eine Einstellungsvoraussetzung für den Beruf des Staatsanwalts? (Natürlich quatsch und polemisch!) In meinem Plädoyer verlange ich die Aufhebung des auf Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehls – ohne recht daran zu glauben. Schließlich ist die Vorsitzende dafür bekannt, dass sie Junkies in deren eigenem Interesse zur Therapie aus dem Knast heraus “verhelfen” will. Wie sich bei der Urteilsverkündung zeigt, ist die Vorsitzende allerdings auch zurecht dafür bekannt, juristisch saubere Urteile und Beschlüsse zu fassen. Der Angeklagte wird wegen 3-fachen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt und der Haftbefehl wird aufgehoben – streng nach dem Gesetz: Nach § 112 a I Nr.2 StPO kann ein auf Wiederholungsgefahr gestützter Haftbefehl in den Fällen des Nr. 2 nur Bestand haben, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist. Selbstverständlich werde ich gegen das Urteil Berufung einlegen – nicht weil ich mit dem Ergebnis unzufrieden bin oder weil ich das Gericht ärgern will – nein, um dem Angeklagten mehr Zeit zu verschaffen, sich um seine stationäre Therapie zu kümmern. Im Hinausgehen denke ich an einen meiner alten Fälle zurück, bei dem es ebenfalls angeblich objektive, unwiderlegliche Beweismittel gegen meinen damaligen Mandanten gegeben haben soll. Drei Polizeibeamte hatten als Zeugen in der Hauptverhandlung felsenfest behauptet, den Angeklagten mit einer Aludecke zur Umgehung von Kaufhaussicherungsanlagen und einem Rucksack voller gestohlener Kleidungsstücke mit noch angetackerten Preisschildern erwischt zu haben. Ich weiß noch wie rot der Richter damals anlief, als ich den Beweisantrag stellte, die Beweisstücke aus der Asservatenkammer zu holen und wie blass er wurde, als die Asservate aus einem Aufbewahrungssack auf seinen Richtertisch gekippt wurden. Bei der angeblichen Aludecke handelte es sich um eine alte Baby-Wolldecke und an den angeblich gestohlenen Kleidungsstücken befand sich kein einziges Preisschild. Bei jedem anderen Zeugen, hätte die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage eingeleitet; für die Polizeibeamten gab es damals vom Sitzungsvertreter der StA nur ein verwundertes Kopfschütteln. Ja, so funktioniert Gerechtigkeit manchmal. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Tierschutz – Das Schwein
Anlässlich unseres wöchentlichen Männerabends erzähle ich meinem Freund, dem Biologen Thomas Belau, dass ich heute auf dem Weg zum Amtsgericht Gelsenkirchen-Buer an einem Schweinetransporter vorbeigefahren bin und mich ein Schwein freundlich durch die LKW-Planke angeschaut hat. Ich schaute freundlich zurück und hatte ein Schuldgefühl im Bauch, weil ich mehr wusste als das Schwein. Eine Gedanke durchzuckte mich: Soll ich Vegetarier werden und die teuren Kochbücher mit den vielen leckeren Fleischgerichten wegwerfen? Thomas schüttelt den Kopf: “Ich habe kein Mitleid mit Schweinen, ausgenommen den armen! Schweine sind selbst Allesfresser. Sie fressen z.B. arme Mäuse. Im Übrigen bekommen Vegetarier auf Dauer geistige Mangelerscheinungen und noch mehr davon -mein lieber Gerd – kannst du nun wirklich nicht gebrauchen (Haha!).” “Naja”, antworte ich, “ ein bisschen weniger tierisches Fett könnte dir jedenfalls nicht schaden, und deine Fleischesserei hat dich ebenfalls nicht vor geistigen Mangelerscheinungen geschützt. Vielleicht solltest du Vegetarier werden und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?” “Ach”, kontert er. “Fliegen sind dir also scheißegal! Ziemlich inkonsequent für einen Tierliebhaber!” “Ich finde, wir sollten dennoch Mitleid mit unseren Artgenossen haben!” beharre ich. “Das sind keine Artgenossen!”, belehrt mich Thomas. “Warum”, frage ich als Nichtbiologe. Thomas kehrt den Fachmann raus und erklärt mir, was Arten sind. Ich formuliere neu: “Dann sind es eben Lebensgenossen. Was ändert die Begrifflichkeit an meinem Schuldgefühl?” Belau grinst : “Hast du auch Mitleid mit unseren pflanzlichen Lebensgenossen? Mitleid ist kein biologisches Prinzip.” Mir kommen fleischfressende Pflanzen in den Sinn, und ich versuche Zeit zu gewinnen: “Noch ein Bier, lieber Thomas?” “Hopfen lebt! Her damit! Aber von mir aus, pflege dein Schuldgefühl. Jetzt haben wir soviel von deinem Schwein geredet, dass ich Hunger bekommen habe. Lass uns zu Mc´Fleisch fahren.” Mmmh, ich schätze diese sensible und pragmatische Art meines Freundes, und irgendwie kommt heute keine seriöse Diskussion mehr zustande. Um irgendwohin zu fahren, sind wir allerdings mittlerweile beide zu betrunken. In dem Bemühen, nicht klein beizugeben, lenke ich ebenfalls ein: “Ich würde jedenfalls einen Vegetarier-Cheeseburger – ohne tierischen Käse nehmen. So wie auf den Tiefkühlpizzen!” “Lecker Pizza! Gute Idee! Hast du noch welche im Tiefkühlfach?” “Klar! Salami oder Schinken?” Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Bitte ein Lob für den Staatsanwalt
Wie oft habe ich Staatsanwälten schon insgeheim vorgeworfen, sie ließen es an gebotener Objektivität fehlen und machten aus einem Strafverfahren einen Wettkampf, den es um jeden Preis zu gewinnen gelte? Was die psychologische Seite angeht, ist diese Betrachtung ganz schön unfair – denn ich bin kein bisschen besser. Und so freute ich mich dieser Tage bei passendem Wetter königlich, zwei meiner Mandanten in der JVA aufzusuchen, um ihnen die frohe Botschaft zu überbringen: Yeah! Sieg auf ganzer Linie. In dem einen Fall war mein deutlich vorbestrafter Mandant wegen sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Das war soweit auch in Ordnung. Nicht in Ordnung war die zusätzliche Anordnung der Sicherungsverwahrung. Um es vorweg zu nehmen: Ich kenne und schätze viele psychiatrische Sachverständige. In diesem Fall aber stützte die Kammer des betreffenden Landgerichts sich auf das Gutachten eines Kotzbrocken von psychiatrischen Sachverständigen. Einschub: Für einen Moment habe ich überlegt, ob “Kotzbrocken” nicht doch zu hart klingt? In Gedanken schweife ich zurück zur damaligen Hauptverhandlung. Ich sehe den Sachverständigen wieder vor meinem geistigen Auge. Wohlheischend, anbiedernd und schleimig bemüht er sich mit jedem Wort und jeder Geste, dem Gericht zu gefallen. Sympathie heuschelnd hängt er an den Lippen des Vorsitzenden, quittiert jeden noch so bescheidenen Scherz mit einem begeisterten Nicken und versenkt dabei den Angeklagten erbarmungslos und ohne jede Empathie auf den Grund des juristischen Marianengrabens *. Sein Lebensmotto steht ihm unter seiner Schmalzlocke auf der Stirn geschrieben: Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing. Nein, es bleibt beim “Kotzbrocken”! Meinen zwingenden Befangenheitsantrag gegen den KB ** lehnte das Gericht ab. Also legte ich gegen das Urteil Revision zum BGH ein und gewann. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung an eine andere Kammer zurückverwiesen. Ein neubestellter Sachverständiger zerpflückte – oder noch besser, zerfetzte – genussvoll (für mich) das Gutachten seines Vorgängers und schickte ihn damit auf den Grund des psychiatrischen Tongagrabens *** im südwestlichen Pazifik, wo ihn bestimmt einiger seiner Kollegen bereits schadenfroh erwarteten. Und sportlich legte nun die Staatsanwaltschaft gegen die Aufhebung der Sicherungsverwahrung wiederum Revision ein. Heute endlich wurde mir die gut begründete Siegerurkunde des BGH zugestellt, mit der die Revision der Staatsanwaltschaft verworfen wurde. Im dem zweiten Fall war mein Mandant wegen versuchten Totschlags angeklagt. Er hatte einen unliebsamen Nachbarn in einem Wutanfall mit 33 zum Teil lebensgefährlichen Messerstichen niedergestreckt. Ein Stich drang genau über dem Augapfel des Opfers durch das Augenlied ins Gehirn. Wie durch ein Wunder wurde das Auge dabei nur unwesentlich verletzt. Ein durchstochener Riechnerv, der sich wie ein Stopfen vor das Loch in der Gehirnhaut gelegt hatte, verhinderte das Ausfließen von Gehirnflüssigkeit und rettete dem Opfer letztlich das Leben. Wofür Riechnerven nicht alles gut sind. In der damaligen Hauptverhandlung gelang es mir zwar einen Rücktritt vom Versuch der Tötung durchzusetzen, sodass der Angeklagte “nur” wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurde. Nicht akzeptieren konnte ich allerdings die im Urteil bestimmte Einweisung in die Psychiatrie nach § 63 StGB, zumal das Gericht den Vorwegvollzug von 3 Jahren Gefängnis angeordnet hatte. Die von mir eingelegte Revision hiergegen hatte Erfolg. Ja, heute ist ein guter Tag für die Strafverteidigung. Ich geb´s zu: Ich fühle mich wie ein erfolgreicher Wettkämpfer, und wie ein solcher wurde ich von meinen beiden strahlenden Mandanten mit Knuffen und Schulterklopfen empfangen. Jeder Mensch braucht hin und wieder ein Erfolgserlebnis. Fazit: Ich sollte mehr Verständnis für wetteifernde Staatsanwälte haben. Von wem werden die eigentlich bei Erfolg geknufft? Von ihren Vorgesetzten? * Marianengraben: Tiefseerinne im Pazifischen Ozean; 11.034 m tief. **KB : Kotzbrocken *** Tongagraben: 10.882 m tief; Der Tongagraben bildet einen Teil der tief eingeschnittenen Nahtstelle von Australischer Platte im Westen und Pazifikplatte im Osten. Die Pazifische Platte wandert mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 24 cm pro Jahr westwärts unter die Australische Platte und bildet eine Subduktionszone. (Quelle: Wikipedia) Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach