Kleptomanin Selma

Selma ist 34 Jahre alt und verheiratet mit einem türkischen Landsmann. Beide waren noch Kinder, als sie mit ihren Familien aus der Türkei nach Deutschland zogen. Selma ist eine vorbildliche Mutter von 2 kleinen Kindern, führt ordentlich ihren Haushalt  und hat zwei Nebenjobs als Putzhilfe und Helferin in einem Altenpflegeheim. Da ihr Mann ebenso fleißig ist und als Produktionshelfer viele Überstunden leistet, geht es der Familie finanziell gut. Sie leben zurückgezogen in einem kleinen Eigenheim auf dem Land und sind dennoch in der türkischen Gemeinde gut integriert. Der Mann legt Wert auf den Kontakt zu seiner Großfamilie, verabscheut aber die Familie von Selma. Heimlich telefoniert sie manchmal mit ihren betagten Mutter, die immer noch unter dem tyrannischen Vater leidet, und manchmal trifft sie sich mit ihren jüngeren  Geschwistern. Auch das wird von ihrem Ehemann nicht gerne gesehen. Diese unspektakulären biographischen Daten kenne ich aus ihren vielen Strafakten und psychiatrischen Gutachten. Ansonsten weiß ich von Selma so gut wie nichts. In ihrer Verzweiflung ist sie schweigsam und verschlossen. Nur einmal ließ sie mich für einen kurzen Moment in ihre Seele blicken. Wir saßen in meinem Büro, führten wieder mal ein stockendes Gespräch, und ich versuchte durch behutsame Fragen, die eigentlichen Ursache für ihre mittlerweile knastträchtigen Diebstähle zu ergründen. Meine Fragen kreisten immer wieder um ihre Kindheit, und für einen Augenblick  als ihre Selbstkontrolle bröckelte, trotzte ich ihr den Versuch einer Selbsterklärung ab. Zurückversetzt in ihre Kindheit schloss Selma die Augen und wie in Trance erinnerte sie sich. Ihre kleine Geschichte habe ich noch bildhaft vor Augen: Der modrige Herbstgeruch weicht langsam der Winterkälte. Es ist dämmrig und feucht. Vom Hochhaus aus sieht man nur noch die kontrastarmen Umrisse von Bäumen und Büschen. Dazwischen die nun schwarzen Balken des Klettergerüsts und vielleicht die Schaukelketten, aber dazu ist es eigentlich zu dunkel. Wer hier lebt, könnte wissen, dass da unten auf dem Spielplatz nur noch Selma und ihre kleineren Geschwister warten, aber es interessiert niemanden. Der einsetzende Nachtwind wirbelt die Kinderstimmen gegen die Hauswände bis hinauf in die obersten Stockwerke. Aber um diese Jahreszeit sind die Fenster geschlossen. Denkt man die Kinder hinweg, herrscht verlassene Ruhe. Die Kinder sind hungrig und müde. Endlich öffnet sich im 5. Stock ein Fenster. Der Vater pfeift, und die Kinder rennen zum Eingang – die 5 Treppen hinauf. Der Aufzug ist kaputt. Mit ihren ausgezogenen Schuhen in der Hand stehen sie nun schweigend vor der geschlossenen Wohnungstüre. Einmal müssen sie den Lichtschalter im Treppenhaus drücken ehe die Mutter sie hereinlässt. Sie schleichen in die Küche, vorbei am Wohnzimmer, wo der Vater vorm Fernseher sitzt und stürzen sich auf das Essen. Schweigend tauschen sie verstohlene Blicke. Der Vater will seine Ruhe und erst Jahre später wird Selama sich fragen, warum er sie und die Geschwister in die Welt gebracht hat. Nach der Schule ist es Selmas Aufgabe, sich um die Kleinen zu kümmern, aber heute hilft ihr die Mutter, die Geschwister ins Bett zu bringen. Nie wird Selma die zarten Hände der Mutter vergessen, die ihr abends das lange zerzauste Haar kämmten, und nie den Streit der Eltern, den sie von ihren Betten aus hörten. Die Mutter ist schwach, und seit ihrem 12. Lebensjahr spürt Selma immer mehr die auf ihr lastende Verantwortung, auch für den Vater, den sie trotz allem liebt, und der auch nicht aus seiner Haut kann. Auch für ihn spürt sie zeitlebens Verantwortung. So hat sie es gelernt. Um die Geschwister zu entschädigen, beginnt sie Spielzeug und Süßigkeiten aus den umliegenden Geschäften zu stehlen, und das ist auch ein süßer Trost für sie. Mit 18 heiratet Selma und bekommt schnell zwei Kinder. Sie will es besser machen als ihre Eltern. Vielleicht hat sie gehofft, der Verantwortung zu entfliehen, sie einzutauschen gegen eine andere, bessere. Aber es funktioniert nicht. Nun hat sie zwei “Verantwortungen”, mit denen sie schnell in Konflikt gerät. Mit niemandem kann sie darüber reden. Gegenüber jeder Seite hat sie ein schlechtes Gewissen, keiner Seite kann sie gerecht werden – so jedenfalls empfindet sie es. Wenn der familiäre Druck zu groß wird, überkommt Selma dieser unbeschreibliche Drang. Sie steht im Kaufhaus und kann ihm nicht widerstehen. Obwohl sie genug Geld dabei hat, fängt sie an, sich wahllos Dinge in die Taschen zu stecken: Tischtennisbälle, Vogelfutter oder Zigaretten, die sie nicht raucht; einfach irgendetwas, um dieses schreckliche Gefühl loszuwerden. Bei diesen letzten Sätzen öffnet Selma die Augen, und obwohl ich eine weitaus schlimmere Geschichte erwartet hätte, kullern Tränen aus ihren dunklen Augen. Dann verstummt sie ganz und kein weiteres Wort ist aus ihr herauszuholen. Am nächsten Tag ist ihre Hauptverhandlung. Die Richterin erörtert Selmas Vorstrafen, ihre drei laufenden Bewährungen und auch das bei der letzten Verurteilung von mir beantragte Sachverständigengutachten. Der Gutachter hatte keine Kleptomanie oder andere seelische Störung angenommen und sie für voll schuldfähig erklärt. Diesmal sieht es schlecht aus für Selma, und sie weiß es. Zusammen mit der sehr engagierten Bewährungshelferin schaffen wir es schließlich doch, den sehr freundlichen Staatsanwalt und die Richterin von einer erneuten Bewährungsstrafe zu überzeugen. Währenddessen hat Selma ihre Haare vor´s Gesicht gezogen und sich so schief hingesetzt, dass sie mit dem Rücken zum Publikum sitzt. Es sieht aus, als wolle sie ihr Gesicht verstecken, und genau das versucht sie. Im Zuschauerraum sitzt eine Schulklasse, die das Geschehen aufmerksam verfolgt. Während die Bewährungshelferin nocheinmal die familiäre Situation der Angeklagten schildert, fragt Selma mich flüsternd nach türkischen Schülern im Zuschauerraum. Sie hat Angst von irgendjemanden aus der türkischen Gemeinde erkannt zu werden. Wenn ihr Mann herausbekäme, dass Selma eine Diebin ist, ginge es ihr schlecht.  Die Vorstrafen und die heutige Hauptverhandlung müssen geheim bleiben. Sie hat halt niemanden, mit dem sie reden kann. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Wer anderen eine Grube gräbt!

Bei einer sachlich komplexen und juristisch schwierigen Betrugssache stand die Sockelverteidigung. Meine beiden Mitverteidiger (Kollege 1 und Kollege 2) und ich waren in einem ausführlichen Gespräch zu der Entscheidung gekommen, dass alle 3 Angeklagten schweigen sollten. Aufgrund dieser Sachlage entschied sich das Gericht beim ersten Verhandlungsauftakt, die Sache auszusetzen, um weitere Beweismittel anzufordern. Beim zweiten Prozessauftakt erlebte ich dann zusammen mit dem Verteidiger (Kollege 1), der sich an unsere Absprache gehalten hatte, eine zunächst böse Überraschung. Wir erfuhren, dass der dritte Angeklagte kurz zuvor in einer anderen kleinen Strafsache bei einem anderen Richter eine Hauptverhandlung hinter sich gebracht hatte. Aus noch ungeklärten Gründen hatte man „unsere“ Sache mit dem dortigen Verfahren verbunden. Der Kollege 2 gab für seinen Mandanten dort sodann ein umfassendes Geständnis ab, wonach alle Drei als Mittäter gehandelt hätten und erzielte damit für seinen Mandanten ein zweijährige Bewährungsstrafe. Herzlichen Glückwunsch! Um die Sache aber so richtig kollegial abzurunden, erklärte er einen sofortigen Rechtsmittelverzicht und vergaß offenbar, seine „Sockelbrüder“ über sein kollegiales Verhalten zu informieren. Der dritte Angeklagte saß nun also nicht mehr mit auf der Anklagebank, sondern wartete brav draußen vor dem Gerichtssaal auf seinen Aufruf als Belastungszeuge. Nach Verlesung der Anklageschrift sagte ich: „Herr Vorsitzender! Angesichts dieser neuen Umstände hat die Verteidigung im Moment nur zwei Möglichkeiten: entweder wir ziehen uns zu einem freundlichen Rechtsgespräch zurück ins Beratungszimmer, oder ich muss eine einstündige Unterbrechung beantragen, um mir noch einmal genau die Akte anzuschauen und gewisse, möglicherweise auch unaufschiebbare Anträge zu formulieren. Sie werden Verständnis dafür haben, dass mich die Abtrennung des Verfahrens bezüglich des neuen Belastungszeugen irritiert. Ich frage mich, wie es kam, dass die Sache ohne unsere Kenntnis vom Schöffengericht an den Amtsrichter zur dortigen gemeinsamen Verhandlung mit einer „Pipi-Sache“ abgegeben wurde.“ Der überaus freundliche Vorsitzende nahm meinen Vorschlag auf, und die Profis zogen sich mit den Schöffen ins Beratungszimmer zurück. Dort erfuhren wir in sehr gelöster Atmosphäre, dass der damalige Mitverteidiger kurzfristig den Amtsrichter für einen solchen Vorschlag gewonnen hatte und dann auf kurzem Dienstweg die Abtrennung und Hinzuverbindung beim Amtsrichter erfolgt sei – aus prozessökonomischen Gründen. „Nun, ja!“, erwiderte ich freundlich. „Ich nehme das so mal zur Kenntnis. Interessant.“ „Mmh …“ sagte der Richter. „Kann sein, dass das ein bisschen blöd gelaufen ist. Was stellen Sie sich denn vor, meine Herren Verteidiger? Es muss für Ihre Mandanten ja gar nicht so schlimm ausgehen. Ich stelle mir Bewährungsstrafen vor!? Oder was sagen Sie, Frau Staatsanwältin?“ Während die Staatsanwältin zustimmend nickte und noch einmal die Höhe des Schadens hervorhob, erwiderte ich: „Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Ich stelle mir einen ziemlich glatten Freispruch vor – trotz des hohen Schadens. Für einen Moment genoss ich das irritierte Schweigen im Raume, um dann fortzufahren: „Ich muss zugeben, der Fall ist sehr komplex und birgt schwierige juristische Fragen, aber schauen wir uns den in der Anklage angeführten Sachverhalt doch mal genau an und subsumieren ihn dann unter die einschlägige Vorschrift. Und das taten wir dann gemeinsam, wie früher im Seminar und siehe da: Die Anklage zerbröselte und hinterließ staubige kleine Bröckchen auf dem Fußboden, die unangenehm knirschten, wenn man versehentlich darauf trat. Die Staatsanwältin hörte eine Weile schweigend zu und sagte dann: „Tja, die Krümel kann jemand anders aufkehren. Die Anklage ist aus rechtlichen Gründen tatsächlich nicht zu halten. Ich werde einen Freispruch beantragen. Wieso der Amtsrichter bezüglich des Belastungszeugen zu einer Verurteilung gekommen ist, ist mir schleierhaft.“ Ich lächelte meinen Kollegen siegesgewiss an und antwortete: „So sieht´s aus!“ Nach einer 15-minütige Beratungspause verkündete das Gericht sein Interesse an einer kurzen Beweisaufnahme. Die Staatsanwältin hielt ein 3-wortiges Plädoyer (Ich beantrage Freispruch), das mein Kollege und ich mit einem 8-wortigen Plädoyer toppten (Wir schließen uns dem Antrag der Staatsanwaltschaft an), und die Sache war geritzt. Die Angeklagten verstanden die Welt nicht mehr, wo sich doch der dritte Angeklagte für seinen „Verrat“ mit der Begründung entschuldigt hatte, sein Verteidiger habe ihm dringend geraten, die Flucht nach vorne anzutreten, um das sensationelle Ergebnis einer Bewährungsstrafe noch so gerade zu ermöglichen. Auf die nächste Begegnung mit diesem Kollegen freue ich mich nicht wirklich, obwohl er eigentlich ein netter Kerl ist. Besonders schlimm an der Geschichte ist, dass es sich um einen meiner Ex-Referendare handelt. Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Los ihr Scheißbullen, schießt mir in den Kopf!

Seit 20 Jahren lese ich den Akten den Namen Kuczera. POK Kuczera, der Dorfsheriff eines berüchtigten Stadtteils aus der Umgebung. Und wenn ich mit meinen oft jugendlichen Mandanten aus diesem Stadtteil rede, höre ich immer wieder seinen Namen. „Der Kuczera hat mich wieder am Arsch!“ oder „Verdammt, der hat seine Elefantenohren überall!“ oder „Ich glaube es gibt richtigen Ärger! Der Kuczera war bei meinen Eltern. Ich traue mich nicht nach Hause.“ So oder so ähnlich reden die jungen Leute von diesem Polizisten. Und wenn ich meinen jungen Mandanten ins Gewissen rede und ihnen rate, mit der Scheiße aufzuhören, zur Drogenberatung zu gehen, sich wieder um Schule oder Ausbildung zu kümmern oder im Wege des Täter-Opfer-Ausgleichs auf die Geschädigten zuzugehen, höre ich oft, „Ja, das hat der Kuczera auch schon gesagt.“ Bei aller grundsätzlichen Ablehnung gegen die Polizei, entnehme ich Ihren Sprüchen einen gewissen Respekt für „ihren“ Dorfsheriff, den ich bis heute noch nicht persönlich kennengelernt hatte. Aus Erzählungen über ihn und aus seinen merkwürdig freundlichen Aktenvermerken, die ich in den letzten Jahren gelesen hatte, war bei mir das Bild eines Streetworker-Polizisten entstanden. So fand ich Vermerke, in denen es z.B. hieß: „Selim, denen ich seit seiner frühen Kindheit kenne und der aus schwierigen familiären Verhältnissen stammt, stellte sich heute persönlich bei mir auf der Wache vor und entschuldigte sich für die angezeigte Straftat. Die Entschuldigung war aufrichtig und wurde angenommen!“ Solchermaßen wohlwollende polizeiliche Aktenvermerke, die im weiteren Strafverfahren den Beschuldigten helfen sollen, liest man selten und so war ich gespannt, diesen Polizisten anlässlich der heutigen Hauptverhandlung persönlich kennenzulernen. Da mein Mandant zwei Besprechungstermine nicht wahrgenommen hatte, war ich in der Hoffnung, vor der Hauptverhandlung noch einmal mit ihm sprechen zu können, früh beim Amtsgericht. Vor der Schleuse stand eine Schlange, die geduldig auf Einlass ins Gericht wartete. Ich drängelte mich entschlossen vor und betrat als erster die Schleuse. Ein freundlicher Herr zuckte einen Behördenausweis und folgte mir mit den Worten: „Wenn Sie das können, versuche ich das auch mal.“ Der Justizbeamte hinter seiner Panzerglasscheibe musterte uns ungehalten und verwies auf das Eingangsschild, wonach immer nur einer die Schleuse betreten durfte. Wir zuckten entschuldigend die Achseln und verwiesen auf unsere Ausweise. „Ja, ja, aber Verkehrsschilder gelten auch für solche wie euch, oder?“ Gemeinsam und amüsiert über den Anschiss betraten wir scherzend die Eingangshalle des Gerichts. Der Beamte schien den gleichen Weg zu haben, und so blieben wir bis zum Gerichtsaal weiter im Gespräch. „Ach, Sie sind auch in der Neunuhr-Sache hier?“, fragte ich. „Ja, und Sie sind bestimmt Rechtsanwalt Meister, der Anwalt, der anscheinend den ganzen Stadtteil vertritt?“ „Nein, nein!“, erwiderte ich. „Ich vertrete nur die Guten aus diesem Stadtteil! Und Sie sind Herr Kuczera?“ Ein weiterer Beamte, der ebenfalls als Zeuge geladen war, trat auf uns zu und fragte seinen Kollegen: „Wo bleibt denn der Kuczera?“, was meine Frage beantwortete. „Das ist übrigens Rechtsanwalt Meister, der uns immer so bei den Ermittlungen behindert!“, wurde ich freundlich vorgestellt. „Wir haben schon oft miteinander telefoniert.“, sagte der neu hinzugetretene Beamte und reichte mir die Hand. „Immer wenn wir jemanden bei uns verhaften, heißt es sofort: `Hier ist mein Anwalt am Telefon´ und dann höre ich von Ihnen immer – `Mein Mandant macht keine Angaben, usw.´ Mann, das kann ganz schön nerven!“ Dabei lächelte mich der Polizist frech an. Ich schaute auf meine Uhr. Fünf nach Neun. Verdammt, wo blieb denn nur mein Mandant? „Wetten, dass Selim nicht oder zu spät zur Verhandlung kommt?“, sagte der andere Beamte und blickt ebenfalls auf seine Uhr. „Naja“, erwidere ich, „der Kuczera scheint sich ebenfalls zu verspäten! Kann ja mal vorkommen!“ Trotzdem ärgerte ich mich insgeheim über diesen unzuverlässigen Selim. Und wenn ich schon keine Informationen von Selim bekam, fragte ich die beiden Beamten: „Was war da eigentlich los? Die Akte liest sich ja wie eine Räuberpistole.“ „Zu viel Koks, zu viel Alkohol. Selim stürmte in die Wache, stürzte in Kuczeras Zimmer und brüllte los: `Schieß mir in den Kopf, du Scheißbulle. Als ihn Kuczera beruhigen wollte, schlug Selim ihm ins Gesicht und versuchte die Pistole aus dessen Holster zu ziehen. Kuczera rief um Hilfe und bekam weitere heftige Schläge ins Gesicht. Zum Glück waren wir als ältere Beamte vor Ort. Selim war wie von Sinnen, schlug um sich und brüllte immer wieder, `Schießt mir in den Kopf!´. Unerfahrenere Kollegen hätten Selim wahrscheinlich erschossen. So haben wir ihn letztlich überwältigt und in eine Zelle gesperrt. Das war krass!“ In diesem Moment erschien vom anderen Ende des Gerichtsflurs Selim in Begleitung eines älteren, weißhaarigen Mannes. Die beiden schienen es nicht eilig zu haben. Sie unterhielten sich freundschaftlich. Der ältere Herr legte Selim die Hand um die Schulter, wobei er laut lachte, als sie auf uns zukamen und uns begrüßten. „Hallo, Herr Meister! Sorry für die Verspätung!“, sagte Selim. „Das ist übrigens der arme Polizist, den ich geschlagen habe. Mann, was war ich für ein Idiot.“ Und an Kuczera gewandt, fügte er kumpelhaft hinzu: „Tut mir echt leid! Aber Sie haben mir doch verziehen, stimmt´s?“ Kuczera und ich sahen uns neugierig an und sagten unisono: „Schon viel von Ihnen gehört!“, und weil das so gleichzeitig kam, mussten wir beide lachen. „Ich hoffe, sie fassen das nicht als Beamtenbeleidigung auf!“, sagte ich. „Zwei Dumme, ein Gedanke. Freut mich wirklich Sie endlich mal persönlich kennenzulernen. Seit Jahren geistert Ihr Name durch die Akten, und ich habe den Eindruck gewonnen, Sie sind einer von den richtig Guten!“ Kuczera lächelte mich bescheiden an, während seine Kollegen sich in gespielter Empörung über das einseitige Lob beschwerten: „Wieso heimst der eigentlich immer die Komplimente – und dann noch von der falschen Seite – ein?! Wir sind auch gar nicht so übel, oder was sagst du dazu, Selim?“ „Das stimmt, Herr Meister! Die sind auch schwer in Ordnung, wenn man nicht gerade Streit mit ihnen hat. Mann, was habt ihr mir damals die Hucke vollgehauen! Aber, ich hatte es ja wohl auch verdient!“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Wenn ihr nicht gewesen wärt, stünde ich heute nicht hier. Eure jüngeren Kollegen hätten mich bestimmt erschossen.“

Der Mythos des Sisyphos. Frau Staatsanwältin, Sie haben ein hübsches Sommerkleid an!

Einen Tag vor meinem Kurzurlaub und das Büro wirkt wie ein Dampfdruckkessel kurz vor der Explosion. Der Deckel wölbt sich unter dem Druck und vibriert metallisch, wenn heißer Wasserdampf pfeifend durch die Ritzen entweicht. Ich hetzte von einem Gerichtstermin zum nächsten. Kaum betrete ich mein Zimmer, schrillen die Telefone wie Presslufthämmer. Ich habe das Gefühl, der Teppichboden unter meinen Füßen bebt, aber was ich fühle ist nur mein Pulsschlag. Ich will diesen Urlaub und zugleich hasse ich ihn. Er bringt mich aus dem Tritt und an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Gerade habe ich den Stapel mit den wichtigsten Akten bearbeitet, und Hoffnung steigt in mir auf, da bringt die Sekretärin den nächsten Berg. Alles ist wichtig! Ich denke an den „Mythos des Sisyphos“ und frage mich, ob Albert Camus Rechtsanwalt war. Das Telefon schreit und die Sekretärin scheucht mich zum 11.15 h – Termin. Außer Atem trete ich vor den Gerichtssaal. Die Verhandlung verspätet sich um 15 Minuten. Ich nutze die Zeit und setze mich auf die Steinstufen vor dem Gericht . Die Sonne brennt mir ins Gesicht, und ich sauge jeden einzelnen Sonnenstrahl auf. Ich halte mein Handy einsatzbereit in der Hand und atme durch. Als die Hauptverhandlung aufgerufen wird, betrete ich – ganz der coole Anwalt – den Gerichtssaal. Ich grüße freundlich und mache meine Scherze. Die Staatsanwältin ist mir neu. Sie blättert ernst und in sich versunken in den Akten. Ihr Plädoyer aber überrascht mich. Sie berichtet davon, wie sie den Angeklagten in der Haftvorführung vor einigen Monaten erlebt hatte. Sie sei über sein Aussehen erschrocken gewesen. Sie habe sich Sorgen um ihn gemacht, da er offenbar wegen seiner Drogensucht kurz vor dem Tod gewesen sei. Heute sähe er 15 Jahre jünger aus. Sie freue sich aufrichtig darüber, dass die Untersuchungshaft ihm gut getan habe. Er mache einen klaren Eindruck und habe Ziele. Sie wünsche sich, dass er die schwierige Therapie durchstehe und ein neues Leben, das den Namen verdiene, beginne könne. Deshalb beantrage sie auch nur eine geringe Freiheitsstrafe. Zu seinem Schutz wolle sie aber, dass er bis zum Antritt der Therapie in Haft bleibe. Sie traue dem jungen Mann mit seiner schwierigen Biographie noch nicht zu, aus der Freiheit heraus durchzuhalten. Ich höre ihre Worte und spüre, sie meint es ernst. Ehe ich aufstehe, um meinerseits etwas zu sagen, regt sich Widerstand gegen die Prämisse, Haft könne irgendjemandem gut tun. Dann schließe ich mich mit meinen eigenen Überlegungen ihrem Plädoyer an. Ich muss innerlich zugeben, sie hat in diesem Falle Recht. Und wieder denke ich an Sisyphos. Solange wir, die Gesellschaft, nichts anderes anzubieten haben als Haft, kann ich ihr nicht ernsthaft widersprechen, auch wenn ich Anderes wünschen würde. Wir verlassen gemeinsam den Gerichtssaal, und auf dem Wege raus mache ich ihr ein Kompliment über ihr hübsches Sommerkleid. „Das ist ein Rock mit Bluse!“, korrigiert sie mich mit einem stillen Lächeln. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Manchmal ist das letzte Wort des Gerichts kaum zu ertragen.

Ich scrolle betont lustlos in meiner Spiegel-App. „Noch Fragen?“, fragt die Vorsitzende. Ich schaue kurz auf und frage die Zeugin gelangweilt, ob sie von den zu ihrem Nachteil veruntreuten 40.000 € ihrer Enkelin vielleicht ein Darlehn gewährt hätte und wie viel Zinsen sie sich in diesem hypothetischen Fall versprochen hätte. Die Frage hat mit dem Fall nichts zu tun und ist völlig belanglos, aber das gilt auch für so ziemlich jede Frage der Vorsitzenden in den vergangenen drei Stunden. Die Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils sind nämlich wegen der Berufungsbeschränkung der Staatsanwaltschaft in Rechtskraft erwachsen. Es steht also fest, dass mein Mandant als Versicherungsvertreter Kundengelder veruntreut hat. Ich sitze hier völlig sinnlos seit 3 Stunden rum und werde langsam wütend darüber, wie hier in größter Ineffizienz meine Zeit gestohlen wird. Die Vorsitzende weiß, dass ich um 15 Uhr in eine Schwurgerichtssache muss und auf heißen Kohlen sitze. Hiervon völlig unbeeindruckt rollt sie dennoch die ganze Beweisaufnahme wieder auf. Verliest jeden Papierschnipsel und will von jedem Zeugen genau wissen, wie sehr der Angeklagte ihm geschadet hat. Jetzt fragt sie den Angeklagten für welche Steuerschulden er das veruntreute Geld denn verwendet habe. „Ach, Sie wissen also nicht mehr, ob es sich um Gewerbesteuer handelte? Und wann haben Sie die Steuerbescheide bekommen? Sie wollen uns also erzählen, dass Sie plötzlich 130.000 € Steuern nachzuzahlen hatten?“ Der Mandant versucht ihr zu erklären, dass die Steuerprüfung einen Zeitraum von mehreren Jahren umfasst habe und er nach 5 Jahren jetzt nicht mehr genau wisse, was im Einzelnen moniert wurde und welche Beträge auf die einzelnen Steuerarten fielen. Irgendwann habe er den Kopf in den Sand gesteckt, und es sei auch zu Schätzbescheiden gekommen. Die Schöffen fragen eifrig mit, und aus jeder Frage ist der eindeutige Wille herauszuhören, noch nicht entdecktes Negatives ans Licht zu befördern, um dem Angeklagten die erstinstanzliche Bewährungsstrafe zu verhageln. Ob er denn wisse, dass man Schätzbescheide korrigieren lassen können. Warum er denn keinen Einspruch gegen die Bescheide  eingelegt habe, will der eine Schöffe nun wissen? Ich frage zurück, ob der Schöffe beim Finanzamt beschäftigt sei, und ob er sich vorstellen könne, dass einem die Probleme so über den Kopf wachsen können, dass man nicht mehr adäquat reagiert. Der andere Schöffe fragt den nächsten Zeugen, ob er schon ausgerechnet habe, dass die mittlerweile zur Schadenswiedergutmachung gezahlten 17.000 € noch nicht einmal den Zinsschaden deckten. Und, ob es dem Zeugen nicht merkwürdig vorgekommen sei, dass der Angeklagte ihm das Geld teilweise in bar übergeben habe. Der Zeuge nickt unsicher und schaut dabei entschuldigend rüber zu meinem Mandanten. Ich erlaube mir die Bemerkung, dass es völlig wurscht sei, in welcher Form Geld gezahlt worden sei. Nun fangen die drei Richter an, die Angaben des Angeklagten zu seinem neuen Beruf in Zweifel zu ziehen. „Sie behaupten also, mittlerweile Teppichböden und Laminat zu verlegen? Woher wollen Sie das denn können? Lernt man so etwas als Versicherungsvertreter? Wie viel Gewinn machen Sie denn an einem Quadratmeter? Und damit wollen Sie die Schadenswiedergutmachung hinkriegen?“ „So schlecht kann der Verdienst ja nicht sein, wenn in 5 Monaten schon 17.000 € von meinem Mandanten bezahlt worden sind“, werfe ich genervt ein. Ich weiß, dass wir in dieser Instanz keinen Blumentopf mehr gewinnen werden und die Berufung der Staatsanwaltschaft Erfolg haben wird. Zynisch frage ich, ob das Gericht die Angaben zur Berufstätigkeit meines Mandanten unter Beweis gestellt sehen will, was verneint wird. Meine Überlegung, einen Beweisantrag zur Frage der damaligen Steuerschulden zu stellen, verwerfe ich, da ich weiß, dass die Steuerbescheide bereits in der ersten Instanz zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurden. Endlich hört die offen und böse Befragung auf und die Staatsanwältin plädiert auf eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten. Ich bin mittlerweile so geladen, dass ich mein Plädoyer damit einleite, dass Staatsdiener, die ihr Geld jeden Monat sicher auf ihr Konto überwiesen bekommen und die sich nicht um Steuererklärungen groß kümmern müssen, sich offenbar nur schwer vorstellen können, wie das Leben eines Freiberuflers funktioniert. Ja, dass das Finanzamt bis dato gutgehende Unternehmen platt machen könne und dass der daraus entstehende Druck für einen Betroffenen so groß werden kann, dass er tatsächlich den Kopf in den Sand steckt. Ich verweise auf die Argumentation des erstinstanzlichen Richters und darauf, dass die in dem Urteil und den Bewährungsauflagen zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, der Angeklagte werde den Schaden ratenweise wiedergutmachen, bisher nicht enttäuscht worden sei. Ich frage die im Publikum sitzenden Geschädigten, ob sie es ähnlich sähen, wie der schlaue Schöffe und 17.000 € als Nichts betrachten würden. Dann sollten sie mir die 17.000 € nach der Verhandlung geben, ich könne sie gut gebrauchen. Im Wissen auf den Untergang versuche ich dem Gericht klar zu machen, dass der Angeklagte durch eine Inhaftierung seinen beruflichen Neuanfang vergessen könne. Alle bereits jetzt existierenden Bemühungen um einen Broterwerb seien damit dahin. Wenn er – nach dem Willen der Staatsanwaltschaft – mit knapp fünfzig aus der Haft komme, werde er kaum noch einen neuen Job finden. Damit sei letztlich auch die weitere Schadenswiedergutmachung illusorisch. Es kommt, wie es kommen muss, und das Gericht verurteilt den Mandanten zu einer Strafe von 2 Jahren und 8 Monaten. In der Begründung heißt es, das Gericht glaube dem Angeklagten seine Steuerschulden als Motiv für die Veruntreuung nicht. Er könne ja aus dem offenen Vollzug heraus weiterarbeiten, um den Schaden wiedergutzumachen. Pikiert fügt die Vorsitzende hinzu, dass das Gericht meinen Kommentar, die Geschädigten könnten mir ja die 17.000 € geben, nicht zu Lasten des Angeklagten gewertet hätte, über meine Bemerkung könne man allerdings nur den Kopf schütteln. Worüber das Gericht den Kopf meint schütteln zu müssen, ist mir in diesem Moment schnurz. Ich gehe zu den am Eingang wartenden Geschädigten und sage laut und deutlich, dass die Vorstellung des Gerichts, der Angeklagte könne seinen Job im offenen Vollzug behalten und weiter Schadenswiedergutmachung leisten, von schreiender Unkenntnis geleckt sei. Sie könnten sich beim Gericht dafür bedanken, dass weitere Raten nicht mehr folgen werden. Frustriert eile ich zur nächsten Verhandlung und hoffe auf die Revision. So sauer war ich selten! Rechtsanwalt Gerd Meister,

Der Staatsschutz schnüffelt hinter Rechtsanwalt Meister her?

Strafmaß und Bewährungsauflagen waren in einem Vorgespräch einvernehmlich ausgehandelt worden, und dennoch saßen wir in einer rudimentär durchgeführten Beweisaufnahme bereits zweieinhalb Stunden rum und hörten uns Zeugen an. Ich fragte mich gerade, ob die andern Prozessbeteiligten an diesem Tag nichts anderes zu tun hatten und irgendwie sinnvolle Beschäftigung bis zur Mittagspause simulieren wollten, als ich eine E-Mail meiner Sekretärin erhielt. „Lieber Gerd, Ermittlungsverfahren gegen dich! Rufe dringend Herrn KOK Spitzer, Abteilung Terrorismus-Bekämpfung, Tel. xxxx-xxxxx, an.“ „Mmh …?“, instinktiv überlegte ich, welches Verbrechen ich in den letzten Monaten im Zusammenhang mit Terrorismus begangen haben könnte, mir fiel aber spontan nichts Gescheites ein, das zu einem Ermittlungsverfahren hätte führen können. Ich durchkämmte in Gedanken meine letzten Blog-Artikel. Hatte ich da etwas Böses geschrieben? Fühlten sich vielleicht jüdische oder muslimische Mitbürger wegen meiner Kritik an rituellen Beschneidungen terrorisiert? Hatte sich die iranische oder israelische Botschaft beschwert? Nach Verkündung des erwarteten Urteils tigerte ich rüber zur Kanzlei und rief Herrn Spitzer an. „Gut, dass Sie zurückrufen. Ich hatte es schon auf Ihrem Handy versucht und mangels Rückrufes vermutetet, Sie wollten sich meiner Befragung entziehen. Als Rechtsanwalt wissen Sie ja, dass das keinen Sinn macht! Wir haben ermittelt, dass ein weißer Audi A1 mit dem amtlichen Kennzeichen yy- aa1234 auf Sie zugelassen ist. Ihren Wohnort habe ich auch schon inspiziert. Sie wohnen doch auf der Kirchstraße 12 in Neuss?“. „Mmh. Als Rechtsanwalt weiß ich aber auch, dass man gegenüber der Polizei zunächst einmal keine Angaben machen sollte. Worum geht es denn? Meine letzte SDAJ – Sitzung ist ungefähr 50 Jahre her, und ich war nie Mitglied! Und gegen religiöse Beschneidungen habe ich nur humanitäre und medizinische Einwände geäußert!“, versuchte ich es mit einem Scherz. „Aha, warten Sie! Das notiere ich mir direkt. Sie geben also zu, mit der …, wie war das noch gleich …, SDAJ Kontakt gehabt zu haben. Ich vermute, das ist die Abkürzung für Salafisitsche Deutsche Abteilung Jemens? Oder vielleicht Salafistischer Djihad … Allah? … Wofür steht das J?“ „Hallo, Herr Spitzer! Vermerken Sie, was Sie wollen. Ohne Belehrung ist das soweiso nicht verwertbar!“, stammelte ich in zunehmender Verwirrung. Durch den Hörer vernahm ich das Rascheln von Papieren, und nach einer kurzen Pause sagte Herr Spitzer: „Warten Sie, ich lese Ihnen meinen Vermerk vor: Noch ehe der Unterzeichner den Beschuldigten belehren konnte, äüßerte dieser in einem informellen Vorgespräch spontan …“. „Herr Spitzer, jetzt machen Sie mal halblang. Das ist ja gehirnschädlich, was Sie da von sich geben. Jetzt sagten Sie mir endlich, worum es in Dreiteufels Namen geht?“ Ungerührt fuhr Herr Spitzer fort: „Kennen Sie die Dönerbude schräg gegenüber Ihres Hauses?“ „Ach, Sie meinen die von Ali und Mustafa?“. „Sie geben also zu, die Betreiber der Imbissbude persönlich zu kennen?“. „Herr Gott nochmal! Klar kenne ich die. Die machen einen fantastischen Döner und der Thunfischsalat ist auch nicht zu verachten. Wenn ich mal keinen Bock habe zu kochen, hole ich mir da was zum Essen. Aber, was wollen Sie von mir?“, fragte ich nun völlig aus dem Konzept gebracht. Durch die Leitung hörte ich, wie der Beamte leise mitsprach, während er notierte: ´Der … Beschuuuldigte … beruuft … sich … aahuf … Gott …`. Herr Spitzer räusperte sich und legte seinen Eifer für einen Moment ab. Sehr förmlich sagte er: „Gegen Sie liegt eine anonyme Anzeige einer Bürgerin vor, die sehr interessante Beobachtungen gemacht hat! In die Dönerbude gegenüber von Ihrem Wohnhaus – Ich habe mich persönlich davon überzeugt … Sie können von Ihrem Küchenfenster da reinschauen – sind während des diesjährigen Schützenfestes verdächtige und – nach Überzeugung der Anzeigenerstatterin – gefährliche Personen konspirativ ein- und ausgegangen!“. „Langsam gewinne ich den Eindruck, Sie wollen mich verarschen, Herr Spitzer? Ich muss zugeben, dass die Schützen meistens ziemlich besoffen wirken und der eine oder andere mir auch verdächtig vorkommt, wenn er sich da seinen Döner holt. Aber gefährlich? Meinen Sie wegen der albernen Holzgewehre oder den Säbeln? Die sind doch nur zur Dekoration da!“. „Ich rede nicht von den Schützen!“, unterbrach er mich unwirsch. „Ich rede von verdächtigen, bärtigen Männern in Schlafanzügen und Nachthemden, die eindeutig der salafistischen Szene zuzuordnen sind!“. Unwillkürlich strich ich mir über meinen Wochenbart und dachte, dass ich mich doch besser regelmäßig rasieren sollte. Verunsichert fragte ich: „Ja, selbst wenn! Was hat das mit mir zu tun?“. Herr Spitzer legte eine beängstigende, künstliche Pause ein, ehe er fortfuhr: „Jetzt kommt ihr Auto ins Spiel. Es wurde beobachtet, dass diese Verdächtigen mit Ihrem Fahrzeug dorthin anreisen. Und Sie haben sich öffentlich zu den Salafisten bekannt?“. „Wie bitte? Ich habe was? Da muss eine Verwechslung vorliegen!“, äußerte ich empört. „Ich habe es selbst im Internet recherchiert. Sie haben einen Text darüber veröffentlicht, oder stammt der Artikel „ Zeugen Jehovas, Salafisten, Buddha und meine goldene Zündapp“ nicht von Ihnen?“. Als ich das hörte, fing ich laut an zu lachen. „Herr Spitzer, jetzt klär ich Sie mal auf: Der Artikel ist reiner Humbug, eine Art Satire, und Sie haben die Geschichte bestimmt nicht gelesen, sonst würden Sie nicht so einen Quatsch erzählen. Und den Audi fährt ausschließlich meine Frau. Sie ist Christin und stammt aus Armenien, das heißt, sie hat ein historisch begründetes Vorurteil gegen so ziemlich alles, was mit dem Islam zu tun hat. Schon mal was vom armenischen Genozid durch die Türken gehört. Bergkarabach, der Krieg mit den Aserbaidschanern? Meine Frau hat zwar manchmal Haare auf den Zähnen, aber selbst im Bademantel kann man sie kaum mit einem Salafisten verwechseln. Im Übrigen ist ihr Auto mit absoluter Sicherheit die salifistestenfreie Zone in ganz Europa. Und nun zur Dönerbude: Ich kann zwar nicht die Hand für Ali und Mustafa ins Feuer legen, aber auf mich machen die einen ganz normalen, westlich angepassten Eindruck, oder warum meinen Sie, dass selbst die Schützen dort regelmäßig einkaufen. Die beiden nehmen sogar die Schützenparade mit ab. Bei der EM hatten sie eine Deutschlandfahne rausgehängt. Sie tragen weder Bart noch Gespensterverkleidung. Ich wohne direkt gegenüber, und Sie haben Recht. Ich kann in die Imbissbude reinschauen und ich versichere Ihnen, dass ich dort noch nie irgendein Salafistengespenst gesehen habe! Ihre Zeugin hat offenbar einen Dachschaden!“. Schon viel freundlicher

Arman kotzt mich an!

An dem Tag, als der Urgroßvater meines Freundes Arman starb, war seine Familie mit Trauern beschäftigt, und Arman fühlte sich fehl am Platz. So besuchte er mich an dem verregneten Nachmittag, war aber so erschöpft und müde, dass er sofort auf meinem Bett einschlief. Nach einer Stunde schlich ich zum Schlafzimmer, und da lag er wach auf dem Rücken und strahlte mich mit seinen braunen, armenischen Augen an. Ich legte mich für einen Moment zu ihm und streichelte ihm tröstend über den Kopf. Während ich ihm von dem köstlichen Essen berichtet, das ich extra für ihn zubereitet hatte, betrachtete er mich weiter mit seinem hypnotisierenden Blick und lächelte erfreut. Wir gingen nach unten in die Küche. Noch immer sagte er kein Wort und verschlang gierig sein Essen. Dann rülpste er laut und fing begeistert an zu erzählen. Es gibt Menschen, die Armans Geschichten für Blödsinn halten, ja, die behaupten, sie ergäben nicht den geringsten Sinn und das, was er zu sagen hätte, könne keiner so richtig verstehen. Aber diese Menschen hören nicht richtig hin oder sind einfach begriffsstutzig. Und obwohl ich seine Sprache nicht perfekt spreche, verstehe ich Arman und er mich! Ausführlich berichtete er über seine jüngsten, aufregendsten Erlebnisse und kam dabei immer wieder auf sein Lieblingsthema zurück – die Milch, als wichtigstes Lebensmittel, und dass er einfach nicht davon lassen könne. Ich verstand den Wink und reichte ihm die Flasche. Er nahm einen tiefen Zug und berichtete weiter über seine gesunde Leidenschaft. Obwohl ich das Thema von ihm zur Genüge kenne, hörte ich aufmerksam zu. Irgendwann unterbrach ich ihn, schaute ihm tief in die Augen und fragte nachdenklich, ob ihn der Tod seines Urgroßvaters nicht traurig mache. Für einen Moment blickte er mich ernst  an. Dann beugte er sich plötzlich vor, riss mir die Brille vom Kopf und warf sie mit Schmackes auf den Boden, wo sie in zwei Teile zerbrach. Ich zuckte erschrocken zurück. Offenbar war ich ihm bei meiner Frage zu nahe gekommen, und ich hätte es wissen müssen. So ist Arman, und das war jetzt schon die dritte Brille, die er vernichtet hatte. Ich warf die Brillenteile in den Mülleimer und trat auf ihn zu. Dabei hob ich den Zeigefinger und drohte energisch mit dem Ende unserer Freundschaft. Er lächelte mich frech an und sagte: „Öhgröööh!“ Ich schaute ihn an und fragte: „Was hast du gerade gesagt?!“. Ich zog ihn aus seinem Stuhl, nahm ihn am Schlafittchen und hielt ihn mit ausgestreckten Armen über meinem Kopf, und da kotzte er mir auf mein frisches Hemd. Ich wischte die Babykotze mit dem Küchenhandtuch weg und nahm ihn mit in den Flur. Wir betrachteten uns im Dielenspiegel und ich forderte ihn auf: „Hey Kumpel, sag das nochmal. Sag Öhgröööh! Das war klasse!“. Obwohl er es wahrscheinlich viel besser wusste als ich, erklärte ich ihm das universale Wort: „Weißt du Arman, ich kenne mich mit Babys aus, auch mit so vier Monate alten Pupsern, wie du einer bist. Hab schon ne ganze Reihe davon mit groß gezogen, und alle haben irgendwann dieses Wort gesagt. Nicht etwa Auto, Mama oder Papa, nein, das erste Wort war immer Öhgröööh! Und weißt du, was es bedeutet? Naja, es ist schwer zu übersetzen, und es hat wohl mehrere Bedeutungen. Eigentlich drückt  es mehr so ein Gefühl aus, von allen geliebt und respektiert zu werden. Man könnte vielleicht sagen, es drückt die pure Lebensfreude aus! Aber eines ist gewiss: Egal, ob in China, in Afrika, Arabien, Armenien oder hier, alle glücklichen Babys dieser Welt benutzen bestimmt dieses Wort. Und dass du es gerade gesagt hast, beweist, dass auch du glücklich bist, obwohl heute für deine Familie ein sehr trauriger Tag ist. Aber das Leben geht weiter, stimmt´s?! Und ich hoffe, das Öhgröööh-Gefühl bleibt dir für die Zukunft erhalten.“ Ich drehte ihn zu mir, und wir schauten uns an. Er wiederholte das Wort zwar nicht, aber er lächelte mich freundschaftlich an. Ich gab ihm einen Kuss auf die Nase und sagte: „Ich will nämlich nicht, dass du eines Tages auf die schiefe Bahn gerätst und einer meiner Mandanten wirst. Obwohl …, wenn du mir noch eine Brille kaputt machst, fange ich an, mir ernsthafte Sorgen zu machen. Das ginge dann schon in die Richtung von schädlichen Neigungen, und du weißt, was das bedeutet! So, jetzt kriegst du erst einmal eine frische Windel verpasst.“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Bitte ziehen Sie Ihre Hose wieder hoch!

Nach Besprechung der Akte kamen wir ins Plauschen und irgendwie darauf, dass ich Tattoos für eine hässliche Unsitte halte. Die attraktive Mandantin wirkte für einen Moment verlegen und gestand, dass sie sich gerade eines habe stechen lassen, aber nicht so ein auffälliges, sondern eines, das gut platziert und versteckt an einer geheimen Stelle ihres Körpers angebracht sei, wo es nur Vertraute betrachten könnten. Dann überlegte sie für einen Moment und sagte schelmisch: „Schlimm wäre es, wenn man zu seinem eigenen Anwalt kein Vertrauen hätte!“ Noch ehe ich die logische Konsequenz dieser Aussage zu Ende gedacht hatte, sprang sie auf, drehte mir ihr Gesäß zu und zog sich ohne Umschweife Jeans und Höschen bis auf die Knie runter, um mir ihren entblößten Po zu zeigen. In diesem Moment kam die Sekretärin mit einer Unterschriftenmappe ins Zimmer und erstarrte, als sie den nackten Hintern erblickte. Nach einigen endlosen Millisekunden überwand ich die allgemeine Sprachlosigkeit und stand in einer Art Übersprungshandlung von meinem Stuhl auf, umrundete den Schreibtisch und sagte zur Sekretärin: „Nicht was du denkst!“ Fachmännisch begutachtete ich das Tattoo und fuhr souverän fort: „Also, ich muss zugeben – nicht schlecht!“, wobei ich die Frage nach dem Gemeinten unbewusst offen ließ. „Was meinst du?“, fragte ich die Sekretärin, die ungläubig den Kopf schüttelte und erwiderte: „Ich hab schon schlechtere gesehen. Wirklich ganz hübsch!“ Zur Mandantin sagte ich: „Bitte ziehen Sie ihre Hose wieder hoch. Nicht, dass hier noch einer auf falsche Gedanken kommt.“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Richter Bohnen: „Als junger Richter war ich ein richtiges Arschloch!“

Vor einigen Tagen traf ich ihn wieder. Die Hauptverhandlung sollte um 9 Uhr beginnen. Um 9.05 h fand ich endlich in einer Seitenstraße einen Parkplatz. Vom Beifahrersitz klaubte ich Portemonnaie, Handy, Tabak und Feuerzeug und steckte alles umständlich in meine Jackentaschen. Aus dem Kofferraum nahm ich Robe und Akte, schloss den Wagen ab und hatte schon den ignorierten Parkautomaten ganz am Ende der Straße passiert, als mir einfiel, dass ich meine Waffen vergessen hatte. Also rannte ich zum Wagen zurück, um meine Brille und einen Kugelschreiber aus dem Türfach zu holen. Da stand er plötzlich mit einem überraschten Gesichtsausdruck vor mir, weil ich ihn in meiner Hektik beinahe umgelaufen hätte. „Guten Tag, Herr Meister! Was bin ich froh, dass ich diese Hetzerei hinter mir gelassen habe!“, sagte er und schüttelte mir fest die Hand. „Richter Bohnen! Das ist aber schön, sie mal nach all den Jahren wieder zu sehen. Ich habe in den letzten Jahren immer mal wieder an Sie gedacht! Wie geht es Ihnen ohne die Justiz? Die Pensionierung scheint Ihnen gut zu tun!“ „Immer noch der alte Schmeichler, unser Herr Meister! Aber jetzt, wo Sie mir keinen 153a mehr abluchsen können, darf ich das wohl als Kompliment auffassen.“, dabei lächelte er mich mit diesem einmaligen, verschmitzten Richter-Bohnen-Lächeln an, dass mir warm ums Herz wurde. Das Alter hatte ihn leicht gebeugt, aber er schien immer noch der Alte zu sein. „Um ehrlich zu sein, wenn einer behauptet, das Alter sei eine schöne Zeit, der lügt. Und mit Lügen kenne ich mich ja aus, wie Sie wissen! Nein, das Alter ist kein Zuckerschlecken!  Ich schlage mich so durch und mache gute Miene zu den fortschreitenden Zerfallserscheinungen. Wenn ich  eines Morgens aufwache und nichts tut mehr weh, dann bin ich tot. Aber ich bin sicher, sie spüren auch schon das eine oder andere Zipperlein!?“, sagte er – wieder mit diesem frechen Grinsen im Gesicht. Ich legte meine Robe und Akte auf einem angrenzenden Mäuerchen ab. „Erzählen Sie, was machen Sie denn so den ganzen Tag mit ihrer vielen Freizeit? Bei Ihnen bin ich mir fast sicher, dass Sie vor lauter Hobbys nicht einmal Zeit finden, zum Friseur zu gehen.“ Der Richter gluckste und schlug mir freundschaftlich auf den Arm. „Wie immer, ganz schön respektlos. Sie haben Recht. Zum Friseur müsste ich tatsächlich mal wieder. Aber wen sollte das heute noch interessieren?“, sagte er munter und strich sich dabei durch sein dünner gewordenes, weißes Haar. „Ich fotografiere viel und gut– vor allem viel. Meine Kinder haben mir so eine neumodische Digitalkamera gekauft. Letzten Monat war ich in Berlin und habe alles fotografiert, was mir vor die Linse kam. Alleine vom Reichstag habe ich bestimmt tausend Fotos gemacht, die sich nie einer ansehen wird. Ich meine, wer sollte sich dafür interessieren? Meine Kinder bestimmt nicht. Die machen Fotos von ihren Kindern. Das ist interessant! 1000 Fotos. Verrückt!“, dabei tippte er sich an den Kopf. „Mmmh, warum suchen Sie sich nicht die besten Fotos daraus zusammen und machen eine Ausstellung? Ich würde kommen, wenn Sie mich einladen!“ „Naja, ich denke darüber nach. Genug Zeit zum Denken habe ich ja jetzt!“, sagte er wieder mit diesem ironischen Unterton. „Ich werde nie unsere kleine Unterhaltung vergessen, die wir vor vielen Jahren einmal in der Kantine geführt haben.“, sagte ich. „Ich war damals noch ganz frisch und hatte wahrscheinlich von Nichts eine Ahnung! Wir kamen aus einer gemeinsamen Verhandlung – hatten uns, glaube ich, ein wenig in den Haaren gehabt – und ich stand hinter Ihnen an der Kasse. Da haben Sie sich zu mir umgedreht und gesagt: Damals, als junger Richter, war ich ein richtiges Arschloch!“. Richter Bohnen lachte in gespielter Empörung auf. „Das soll ich gesagt haben?“, prustete er los. „Ja, genau das waren Ihre Worte. Das „Arschloch“ haben Sie mir allerdings ganz leise ins Ohr geflüstert, weil hinter uns noch Leute in der Schlange standen. Sie luden mich zu einem Kaffee ein und wir haben uns an einen etwas abseits gelegenen Tisch gesetzt. Und da erzählten Sie mir, dass Sie aus einem spießen Elternhaus kamen und mit der 60iger Bewegung nichts hätten anfangen konnten. Sie hätten all diese Hippies und etwa die grausame Musik der Rolling Stones als junger Mann einfach nicht verstanden. Selbst diese braven Beatles wären Ihnen verdächtig vorgekommen. In den 70igern wären Sie dann ein tumber, konservativer und gnadenloser Richter geworden, der es nicht geschafft habe, über den Tellerrand zu schauen – und dass Sie sich im Nachhinein heute noch dafür ohrfeigen könnten. Das haben Sie mir erzählt, und dann haben Sie mich genauso wie jetzt angeschaut und gesagt: ´Ich will Ihrem Mandanten doch gar nichts! Er soll nur aufhören so dumm zu lügen!` Und wissen Sie was? Für diese schonungslose, offene Selbstkritik bewundere ich Sie bis heute. Das hat mich damals schwer beeindruckt! Ich meine, fehlende Selbstkritik ist ja geradezu eine Berufskrankheit von z.B. Richtern und Lehrern, die es gewohnt sind, immer das letzte Wort zu haben!“. Richter Bohnen schaute mich belustigt an. „Ja, so kann es gewesen sein!“ Er gab mir die Hand und sagte: „Erinnern Sie sich auch noch daran, wie sehr ich Unpünktlichkeit immer gehasst habe? Ich glaube, Sie waren doch nicht grundlos so in Eile?!“. Ich schaute auf meine Uhr. „Verdammt! Zwanzig nach! Ich muss los!“ Ich nahm meine Ausrüstung vom Mäuerchen und drückte seinen Arm. „Ich hoffe, wir finden bald noch einmal die Gelegenheit, einen Kaffee zusammen zu trinken! Und vergessen Sie nicht, mich zu Ihrer Ausstellung einzuladen!“. Dann rannte ich los. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

An Tagen wie diesen. Ein Rechtsanwalt dreht durch!

I. Der Videoclip Strathmann fühlte sich, als sei er den Nachmittag über in einer Höhle angekettet gewesen. Er wusste, es war eine Illusion, aber sie war verdammt real und sie verdichtete sich in seinem Kopf zu einem surrealen Film. Sein Gefängnis war mit einer Dolby-Surround-Anlage ausgestattet, aus deren Lautsprechern unentwegt die Stimmen von Kater Karlo, Minnie Mouse, Daisy Duck und Verona Pooth drangen. Auf einem riesigen 3D-Bildschirm tanzten sie in grellbunten Zwergenkostümen vor seinen Augen und grölten dabei schreckliche Lieder. Zuletzt war nur noch Verona auf dem Bildschirm, die in einer Endlosschleife immer und immer wieder das Schlumpflied sang. An Stellen, wo Michael Jackson vielleicht mit einem Griff an die Eier elegant hochgesprungen wäre, um sein „Hihhh“  auszustoßen, hörte er bei Verona allerdings nur ein noch höheres „Blubb“, das in Richtung des viergestrichenen C ging. Auch tanzte sie bei weitem nicht so gut wie Michael. Die Kamera zoomte sie stetig näher heran. Ihr schreiender Mund kam immer näher, wurde größer und größer, bis Strathmann den Eindruck gewann, er werde jeden Moment in ihren brüllenden Schlund gesogen. Strathmann wurde wach und starrte die  Mandantin mit so irren Augen an, dass sie zum ersten Mal seit einer Stunde Luft holte und verstummte. Unter einem Vorwand beendete er die Besprechung und komplementierte die Nervensäge hinaus. Er schloss hinter ihr die Türe und zählte langsam bis 50. Jetzt konnte er sicher sein, dass sie nicht noch auf dem Bürgersteig auf ihn lauerte. Fluchtartig verließ er das Büro und trat auf die Straße. Strathmann war so unruhig und aggressiv wie ein 6-jähriges Kind, das den ganzen verregneten Sonntag vor der Glotze verbracht hatte und sollte die ältere Dame, die jetzt gerade mit ihrem Dackel auf ihn zukam, auch nur sagen – „Guten Abend, jetzt erst Feierabend!“ oder so was Ähnliches – würde er ihr wahrscheinlich das teure Gebiss aus der freundlich lächelnden Fratze schlagen. An seinem Gesichtsausdruck musste die Dame erkannt haben, dass sie besser die Klappe halten sollte. Sie zog die Hundeleine kürzer, um ihren kleinen Kläffer vor einem sicheren Tritt zu schützen und ging in einem großen Bogen an ihm vorbei. Strathmann rieb sich die Handgelenke. Seine Hände waren heiß. Wenn er sie zur Faust ballte, färbten sich die Knöchel weiß. Er blinzelte in die Abendsonne und schloss seinen PKW auf. An Tagen wie diesen, konnte Strathmann richtig wütend werden. Er stieg in seinen wenig gelittenen, silbernen 500er CL und suchte das 2. Stück auf der eingelegten CD  „Nighthawks Live in Hamburg – Master Consul“, drehte die Lautstärke auf 12 und fuhr nach Hause. Jürgen Dahmens fantastisches Fender Rhodes schlug gegen seine Trommelfälle und brachte seine Brust zum Beben, und obwohl man anderes hätte erwarten müssen, tat ihm die Musik gut. Zumindest überdeckte sie den Ohrwurm vom Schlumpflied. Was war das für ein Tag gewesen. Das Gesetzt der Serie hatte mal wieder erbarmungslos zugeschlagen. Im Rückblick durchlief er den Nachmittag. II. Der verlorene Nachmittag Seine 15-Uhr-Mandantin war eine sexy gestylte Mittdreißigerin, die ihm wie auf einem Laufsteg mit klackenden Stakkato-Stöckelschuhen vom Wartezimmer in sein Büro folgte und dabei ostentativ mit einem Beratungshilfeschein in der Hand wedelte. Ausgehend von ihren finanziellen Mitteln und der Stoffmenge ihres Minirocks, stellte er die Vermutung an, sie habe sich den Rock aus einem dieser kleinen Gäste-WC-Handtücher um die Hüften getackert, was ja immerhin für ein gewisses Improvisationstalent sprach. Wahrscheinlich weil  er über keinen Glastisch verfügte, rückte die Frau ihren Stuhl so weit von der ihm gegenüberliegenden Tischkante weg, dass er nicht umhin kam, ihre langen, übereinander geschlagenen Beine zu betrachten. Ihn überkam die Ahnung, dass sie gleich galant ihre Sitzposition ändern würde, um ihm einen Blick unter das WC-Handtuch zu gewähren. Die Frau musste seine Ahnung erraten – wenn nicht sogar suggeriert – haben, denn nun lächelte sie ihn mit einer Mischung aus Koketterie und Triumph an, machte ein Hohlkreuz, um auch ihren üppigen Busen besser zur Geltung zu bringen und begann in epischer Breite ein tragödienhaftes Beziehungsproblem zu schildern. Mit hilflosen sporadischen Einwänden versuchte er sich gegen ihren Redefluss zu stemmen, aber die Frau ließ ihm keine Chance. Sie wollte partout nicht hören, dass er kein Familienrecht machte. Unter Aufbietung ihres gesamten weiblichen Waffenarsenals versuchte sie ihn zur Übernahme des Mandats zu überreden, und als er ihr zum x-ten Male kraftlos das Wort „Strafverteidiger“ entgegen geschleudert hatte, spülte sie seine Argumente mit aberwitzigen angeblichen strafrechtlichen Bezügen weg. Vielleicht wegen ihrer Stimme oder ihres Sexappeals tauchte für den Bruchteil einer Sekunde erstmals das Bild von Daisy Duck vor seinem geistigen Auge auf. Aber diesmal blieb Strathmann standhaft und verwies sie letztlich an einen versierten familienrechtlichen Kollegen. Sollte der doch in die Honigfalle tapsen. An der Türe reichte sie ihm mit Tränen in den Augen die Hand und fragte ihn, ob er es sich nicht doch noch überlegen wolle. Mit treu blinzelnden Daisy-Augen steckte sie ihm eine selbst entworfene Visitenkarte zu. Sobald sie den Raum verlassen hatte, zerriss er die Karte zur eigenen Sicherheit  vorsichtshalber  in kleinste Schnipsel und entsorgte sie umgehend im Papierkorb. Es war lange her, dass er auf so einen Scheiß reingefallen war. Zu seiner Überraschung waren die 16-Uhr-Mandanten – ein Bonnie und Clyde – Pärchen – das bereits dreimal vorher unentschuldigt Termine nicht wahrgenommen hatte, diesmal da. Der Typ sah aus wie Kater Karlo, begleitet von Minnie Mouse. Er suchte ihre Akten aus seinem Besprechungsstapel heraus und stellte fest, dass sich mittlerweile 8 Verfahren wegen Diebstahls, Einbruchs und Betruges angesammelt hatten, die in den unterschiedlichen Akten mit komplizierten Verbindungsbeschlüssen teilweise zusammengeführt worden waren. Da er sich diesmal nicht auf die Besprechung vorbereitet hatte, blätterte er auf der Suche nach einer sinnvollen Struktur lustlos die Akten durch. Seine Finger glitten widerwillig über das Papier. Sie waren trocken und stießen jedes Mal kaum hörbare, kleine Schmerzensschreie aus, wenn er eine Seite umblätterte. In diesem Moment klopfte es leise an der Türe und Daisy, die Venusfalle von soeben, steckte ihren Kopf ins Zimmer. „Entschuldigen Sie! Ich habe, glaube ich, mein Handy hier vergessen?!“, sagte sie. Strathmann bat sie herein und gemeinsam mit Minnie und Kater Karlo blickten sie hinter die auf dem Schreibtisch festgewachsenen Aktenberge, hoben Papiere an und