Bitte ein Lob für den Staatsanwalt

Wie oft habe ich Staatsanwälten schon insgeheim vorgeworfen, sie ließen es an gebotener Objektivität fehlen und machten aus einem Strafverfahren einen Wettkampf, den es um jeden Preis zu gewinnen gelte? Was die psychologische Seite angeht, ist diese Betrachtung ganz schön unfair – denn ich bin kein bisschen besser. Und so freute ich mich dieser Tage bei passendem Wetter  königlich, zwei meiner Mandanten in der JVA aufzusuchen, um ihnen die frohe Botschaft zu überbringen: Yeah! Sieg auf ganzer Linie. In dem einen Fall war mein deutlich vorbestrafter Mandant wegen sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Das war soweit auch in Ordnung. Nicht in Ordnung war die zusätzliche Anordnung der Sicherungsverwahrung. Um es vorweg zu nehmen: Ich kenne und schätze viele psychiatrische Sachverständige. In diesem Fall aber stützte die Kammer des betreffenden Landgerichts sich auf das Gutachten eines Kotzbrocken von psychiatrischen Sachverständigen. Einschub: Für einen Moment habe ich überlegt, ob “Kotzbrocken” nicht doch zu hart klingt? In Gedanken schweife ich zurück zur damaligen Hauptverhandlung. Ich sehe den Sachverständigen wieder vor meinem geistigen Auge. Wohlheischend, anbiedernd und schleimig bemüht er sich mit jedem Wort und jeder Geste, dem Gericht zu gefallen. Sympathie heuschelnd hängt er an den Lippen des Vorsitzenden, quittiert jeden noch so bescheidenen Scherz mit einem begeisterten Nicken und versenkt dabei den Angeklagten erbarmungslos und ohne jede Empathie auf den Grund des juristischen Marianengrabens *. Sein Lebensmotto steht ihm unter seiner Schmalzlocke auf der Stirn geschrieben: Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing. Nein, es bleibt beim “Kotzbrocken”! Meinen zwingenden Befangenheitsantrag gegen den KB ** lehnte das Gericht ab. Also legte ich gegen das Urteil Revision zum BGH ein und gewann. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung an eine andere Kammer zurückverwiesen. Ein neubestellter Sachverständiger zerpflückte – oder noch besser, zerfetzte –  genussvoll (für mich) das Gutachten seines Vorgängers und schickte ihn damit auf den Grund des psychiatrischen Tongagrabens *** im südwestlichen Pazifik, wo ihn bestimmt einiger seiner Kollegen bereits schadenfroh erwarteten. Und sportlich legte nun die Staatsanwaltschaft gegen die Aufhebung der Sicherungsverwahrung wiederum Revision ein. Heute endlich wurde mir die gut begründete Siegerurkunde des BGH zugestellt, mit der die Revision der Staatsanwaltschaft verworfen wurde. Im dem zweiten Fall war mein Mandant wegen versuchten Totschlags angeklagt. Er hatte einen unliebsamen Nachbarn in einem Wutanfall mit 33 zum Teil lebensgefährlichen Messerstichen niedergestreckt. Ein Stich drang genau über dem Augapfel des Opfers durch das Augenlied ins Gehirn. Wie durch ein Wunder wurde das Auge dabei nur unwesentlich verletzt. Ein durchstochener Riechnerv, der sich wie ein Stopfen vor das Loch in der Gehirnhaut gelegt hatte, verhinderte das Ausfließen von Gehirnflüssigkeit und rettete dem Opfer letztlich das Leben. Wofür Riechnerven nicht alles gut sind. In der damaligen Hauptverhandlung gelang es mir zwar einen Rücktritt vom Versuch der Tötung durchzusetzen, sodass der Angeklagte “nur” wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurde. Nicht akzeptieren konnte ich allerdings die im Urteil bestimmte Einweisung in die Psychiatrie nach § 63 StGB, zumal das Gericht den Vorwegvollzug von 3 Jahren Gefängnis angeordnet hatte. Die von mir eingelegte Revision hiergegen hatte Erfolg. Ja, heute ist ein guter Tag für die Strafverteidigung. Ich geb´s zu: Ich fühle mich wie ein erfolgreicher Wettkämpfer, und wie ein solcher wurde ich von meinen beiden strahlenden Mandanten mit Knuffen und Schulterklopfen empfangen. Jeder Mensch braucht hin und wieder ein Erfolgserlebnis. Fazit: Ich sollte mehr Verständnis für wetteifernde Staatsanwälte haben. Von wem werden die eigentlich bei Erfolg geknufft? Von ihren Vorgesetzten? * Marianengraben: Tiefseerinne im Pazifischen Ozean; 11.034 m tief. **KB : Kotzbrocken *** Tongagraben: 10.882 m tief; Der Tongagraben bildet einen Teil der tief eingeschnittenen Nahtstelle von Australischer Platte im Westen und Pazifikplatte im Osten. Die Pazifische Platte wandert mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 24 cm pro Jahr westwärts unter die Australische Platte und bildet eine Subduktionszone. (Quelle: Wikipedia) Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Herr der Ringe oder die Psychologie der Großzügigkeit

Auf dem Weg zur Champs Elysee, irgendwo am Place de la Concorde, trafen ich den Herrn der Ringe. Ich schaute gerade in die Karte, als ich aus dem Augenwinkel einen Mann bemerkte, der sich zu meinen Füßen bückte und mir im nächsten Moment einen schweren goldenen Ring freundlich unter die Nase hielt. In gebrochenem Französisch sagte er: “Ich glaube, den hier haben Sie gerade verloren?” Irritiert schaute ich instinktiv auf meine linke Hand. Mein Ring war noch da, und bei etwas mehr Geistesgegenwart, wäre mir auch sofort aufgefallen, dass der Mann einen anderen Ring gefunden hatte. Ich bedankte mich freundlich. “Nein, der gehört mir nicht. Den muss  jemand anderes verloren haben.” Wir schauten uns um, aber niemand schien etwas zu suchen. Der Mann zuckte die Schultern, lächelte und versuchte den Ring auf einen seiner viel zu dicken Finger zu schieben, zog ihn wieder ab und hielt ihn prüfend gegen das Licht. “Ein sehr wertvoller Ring”, sagte er und verwies auf einen Karatstempel im Ringinneren. Dann nahm er meine Hand und schob mir den Ring auf den Ringfinger. “Sehen Sie: Ihnen passt er, wie angegossen! Behalten Sie ihn ruhig. Was soll ich damit anfangen?” Und noch während ich den Ring, als unverdiente Trophäe an meiner Hand betrachtete, verabschiedete der Mann sich mit einem freundlichen Nicken, hob die Hand zum Gruße und ging. Ich zog den Ring ab und rief ihm hinter her. “Warten Sie. Stopp, das kann ich nicht annehmen!” Nach einigen Schritten drehte sich der Mann um, kam schüchtern einige Schritte wieder auf mich zu und fragte nach ein paar Euro, um sich etwas zu Essen kaufen zu können. Eine noch unbewusste Ahnung durchlief mich, so ein ungutes aber noch vages Gefühl, und ehe ich mir dessen bewusst war, hatte ich schon mein Portemonnaie gezogen, um nach einigen Münzen zu schauen. Jetzt stand der Mann vor mir und schüttelte missbilligend den Kopf. Nein, für die paar Groschen bekäme man in Paris nichts Anständiges zu essen. Irgendwie widerwillig, aber unfähig richtig zu reagieren, hielt ich plötzlich einen Zehner in der Hand, den mir der Mann frech grinsend wegschnappte, um sich mit einem “Merci” schnell aus dem Staub zu machen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Herr Vorsitzender, da muss ich lachen!

Montagmorgen, mal wieder. Es geht um den Vorwurf des Betruges an einem Weinhändler, dessen Weinlieferung über 600 € nicht bezahlt wurde. Neben mir auf der Anklagebank sitzt der kleine, etwas korpulente Angeklagte. Durch ein großes Brandloch im Rückenteil seiner dicken Aldi-Jacke sieht man angesengte Teile des darunter gezogenen Pullis. Jemand hatte ihn vor ein paar Tagen am Bahnhof angezündet. Als er merkte, dass er brandte, wälzte er sich auf dem Boden, um das Feuer zu löschen.Es ist ihm sichtlich peinlich, aber er hat nur diese eine Jacke und seinen ramponierten Pullover. Nervös huschen seine rotgeäderten Augen zwischen Staatsanwalt und Richter hin und her. Mit der Zunge schiebt er sein schlechtpassendes Gebiss immer wieder zurück auf die „Beißleisten“. Ich berichte dem Gericht, von der Vergangenheit meines Mandanten. Den vorletzten Winter noch hatte er im Gefängnis verbracht. Im vergangenen Frühling wurde er freigesprochen, weil die Richter den Grund für sein damaliges falsches Geständnis durchschauten. Er hatte nur ein warmes Plätzchen zum Überwintern gesucht. Heute aber will er nicht zurück ins Loch. Wie ein Schulkind, das endlich einmal die richtige Antwort weiß, sagt er dem Richter artig seine neue Adresse auf. Ein gewisses Wohlwollen ist dem Richter ins Gesicht geschrieben, und so lasse ich den Angklagten weiter für sich selbst sprechen. Staatsanwalt und Gericht sollen merken, mit wem sie es zu tun haben. Als wir die 37 Vorstrafen des Angeklagten durchgehen, droht die bis dahin gute Stimmung für einen Moment zu kippen. Ich mache das Gericht auf die in der Vergangenheit eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten aufmerksam.  Bei der letzten Begutachtung wurde dem Mandanten verminderte Schuldfähigkeit attestiert. Langjähriger Alkoholabusus und intellektuelle Defizite hatte ihm der Gutachter bescheinigt. Für diese Diagnose hätte es keines Facharztes bedurft und doch, so lasse ich durchblicken, könnte eine erneute Begutachtung notwendig werden. Im Vorgriff auf die aktuelle Vorgangsliste, die der Staatsanwalt schon angriffslustig in den Händen hält, beichte ich eine noch nicht im Bundeszentralregister vermerkte neue Vorstrafe des Mandanten – die 38-igste.  Er war eine Woche zuvor von einem anderen Gericht wegen Diebstahls zu einer 4-monatigen Bewährungsstrafe verdonnert worden. Weswegen, will der Vorsitzende wissen. Der Angeklagte stabilisiert mit der Zunge sein Gebiss, konzentriert sich auf seine Antwort und sagt wie ein ernstes Kind: “Da hab ich Lidl leergeräumt. Sachen für 500 €, Kaffee, Salami, Brot, alles für einen Monat. Ich hab jetzt nämlich eine Küche.” Ich beiß mir amüsiert auf die Lippen und schaue zu meinem im Zuschauerraum sitzenden Referendaren. Auch er ist kurz vor einem Lachanfall und macht in dem Bemühen nicht loszuprusten ein so lustiges Gesicht, dass ich nicht mehr an mich halten kann.  Erfolglos täusche ich einen Hustenanfall vor, merke aber sofort, dass es Richter und Staatsanwalt nicht anders geht. Sie ringen um Ernsthaftigkeit. Eine solch entwaffnende Offenheit erlebt man selten im Gerichtssaal. Was er mit dem bestellten Wein für 600 € gemacht habe, will der Vorsitzende nun wissen. “Alles ausgesoffen!”, sagt der Angeklagte, der über seine eigene Courage und die damit ausgelösten Reaktionen verwundert ist. Er beginnt mit der Situation zu kokettieren. Am Ende der Beweisaufnahme frage ich den Richter, ob ich den vorsichtig in Aussicht gestellten Beweisantrag auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zur Frage der Schuldfähigkeit stellen muss. “Nein!”, antwortet er augenzwinkernd. “Ich neige zu Ihrer Auffassung, dass noch einmal – ein allerletzes Mal – eine Bewährungsstrafe in Frage kommt.” Aus pädagogischen Gründen beantragt der Staatsanwalt 6 Monate ohne Bewährung. Den Sieg bereits in der Tasche, reihe ich in meinem Plädoyer einige unhaltbare Argumente zur Begründung einer positiven Sozialprognose aneinander und mache dann den Fehler noch einmal einen Blick mit meinem Referendaren zu tauschen. Jetzt kann ich den Lachreiz nicht mehr unterdrücken. Ein schallendes – aber zum Glück ansteckendes – Lachen bricht aus mir heraus. Mit Tränen in den Augen entschuldige ich mich für meine wirklich hanebüchene Argumentation, setze mich und sage: ”Hauptsache das Ergebnis stimmt!” Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Ich war so schön auf Krieg gebürstet

In meinem Beitrag „Jetzt werden wir mal persönlich. Über die Leidenschaft, in fremden Schlafzimmern rumzuwühlen“ hatte ich meiner Wut  über einen gewissen Staatsanwalt und zwei Haftrichterinnen in Lochum (Namensähnlichkeiten sind rein zufällig) Luft gemacht. Gestern war die Hauptverhandlung, bei der ich mit dem Schlimmsten rechnete. Dementsprechend war ich auf Krieg gebürstet und ordentlich bewaffnet. In meiner Aktentasche befanden sich diverse bösartige Befangenheits- und Beweisanträge, ein Antrag auf Ablösung des Staatsanwalts „Charly“ als Sitzungsvertreter und – für alle Fälle – der noch bösartigere Beweisantrag eben diesen Staatsanwalt als Vernehmungsbeamten der beiden Angeklagten in den Zeugenstand zu rufen. Auf der einstündigen Fahrt nach Lochum spielte ich mehrere Schlachtpläne und Fantasiestreitgespräche durch und steigerte mich zur Einstimmung auf den zu erwartetenden Krawall so richtig  in Rage. Mit einem 180iger-Adrenalinwert und dazu passendem „Will-hier-einer-was-auf-die-Fresse-Gesichtausdruck“ betrat ich pünktlich den Gerichtssaal und noch ehe ich richtig verstand, kam Staatsanwalt Charly versöhnlich, ja geradezu freundlich, auf mich zu und schüttelte mir die soeben noch zur Faust geballte Hand. Die Richterin und die Schöffen nickten mir so freundlich zu, dass ich instinktiv meine Aktentasche verschämt mit dem Fuß unter den Tisch schob,  als befürchtete ich, man könne wegen der Ausbeulungen das dort versteckte Waffenarsenal vermuten. Jede etwaige Anfeindung hatte ich in meinen fiktiven Dialogen durchgespielt, aber auf einen solchen gemeinen Hinterhalt war ich gänzlich unvorbereitet.  „Verdammt, was ist hier los?“, durchfuhr es mich. Ich schielte unsicher rüber zu den Justizbeamten, die mir aufmunternd zunickten. Fieberhaft überlegte ich und begann Daten feierlicher Anlässe in Gedanken durchzurattern: „Internationaler Weltfrauentag, der ja auch für den Weltfrieden steht (?) … war am 8.März … nee … Weltmännertag … nee, ist erst wieder am 19.11.2012 … mein Geburtstag (?), woher sollen die den kennen und im Übrigen ist es erst im Mai wieder soweit. Ich war ratlos und so formte sich als Übersprunghandlung in meinem Unterbewusstsein ein Satz, und ich hörte mich sagen: „Schicken Anzug haben Sie an, Herr Charly!“ und  „Liegt hier eine Verwechslung vor? Ich bin´s Rechtsanwalt Meister. Erinnern Sie sich nicht? Vor 14 Tagen – die Haftprüfung. Mann war ich da sauer auf Sie!“ Aber auch hiermit gelang es mir nicht, die einträchtige Harmonie zu zerstören, um endlich wieder festen Kampfesboden unter die Füße zu kriegen. „Schwamm drüber“, hörte ich Charly sagen. „Ich rege ein Rechtsgespräch im Richterzimmer an.“ Der Vorschlag wurde von der Vorsitzenden mit begeistertem Nicken aufgegriffen und noch ehe ich „Mucks“ sagen konnte, verschwand der Tross aus Vorsitzender, Schöffen, Charly und Mitverteidiger im Gänsemarsch durch die Tür ins Beratungszimmer. Ich lächelte meinen Mandanten mit einer schiefen Grimasse an, zuckte die Achseln und trottete mit rasant in den Keller gehendem Adrenalinspiegel hinterher. Nach einer kurzen, verbrüdernden Diskussion und meinem verzagten Hinweis auf mögliche, griffbereite Waffenarsenale in unmittelbarer Reichweite,  zerplatzte  auch das letzte Adrenalinmolekül mit einem kaum hörbaren „Plopp“ und das von mir gewünschte Ergebnis stand fest:  Zwei Jahre mit Bewährung und – natürlich – sofortige Aufhebung des Haftbefehl. Nein, wir sind uns danach nicht in die Arme gefallen und es schmatzten auch keine Breschnew´schen Bruderküsse, aber irgendwie bin ich mit Charly und dem Amtsgericht Lochum für den Moment wieder versöhnt. Also, sorry.  Nichts gegen deinen Anzug und deine Brille, Charly!  Und auch den Begriff „Typ mollige Mutti“ aus meinem obengenannten Artikel nehme ich hiermit bis auf Weiteres zurück. Mann, wie kann ein so gut durchgeplanter Tag nur so entgleisen?!!! Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

In den Medien wird immer Zivilcourage gefordert – und jetzt sitze ich hier auf der Anklagebank

In einem „opening statement“  verweise ich auf gewisse typische Auffälligkeiten in der Ermittlungsakte: Die gleichlautenden, drehbuchähnlichen, übereinstimmenden und sehr ausführlichen polizeilichen Aussagen. Die sich aus der Ermittlungsakte nicht erschließende Notwendigkeit detailreicher Aktenvermerke, die den Eindruck hinterlassen, hier solle Vorwürfen entgegengetreten werden, die bei Abfassung des Vermerks offiziell noch nicht erhoben waren.  Dann reiche ich das Wort weiter an meinen Mandanten. Nachdenklichkeit erzeugt keine Geräusche. Im Gerichtssaal ist es ganz still geworden, nachdem der Angeklagte mit unterdrückter,  bebender Stimme seine ersten Sätze gesagt hatte: „Ich höre aus den Medien immer, die Bürger sollten bei Gewalt nicht wegschauen. Sie sollten eingreifen, Zivilcourage zeigen. Das habe ich gemacht. Was dann aber über mich kam …, ich bin immer noch schockiert. … Dass ich jetzt hier auf der Anklagebank sitze, macht mich fassungslos.“ Diese Sätze und Pausen sind wohl gesetzt. Sie erzeugen unmittelbare Glaubwürdigkeit. Man spürt, bei dem nicht vorbestraften 40jährigen Angeklagten handelt es sich um keinen Rowdy, keinen Schläger, dem man auch nur im Entferntesten Gewalt gegen Polizeibeamte zutrauen würde.  Auch der Staatsanwalt hört aufmerksam zu und erscheint betroffen. Hier sitzt ein  Bürger, der distinguiert von einem schlimmen Erlebnis mit der Staatsgewalt berichtet.  Der Richter lässt ihn ohne Unterbrechung erzählen, wie er in der Tatnacht auf dem Nachhauseweg versucht hatte, zwei sich streitende Jugendliche zu beruhigen, wie einer der Jugendlichen dem anderen plötzlich eine Kopfnuss verpasste und wie er nun eingeschritten sei, um Schlimmeres zu verhindern. Er habe es schließlich geschafft, den Angreifer in die Flucht zu schlagen und habe den blutüberströmten Verletzten aus der Gefahrenzone  in das Kiosk bugsiert, vor dem der Streit eskaliert war. Die türkische Kioskbesitzerin war durch den vor Schmerz und Wut schreienden Jugendlichen verängstigt und weigerte sich Tempo-Taschentücher zur Stillung der Blutung  zur Verfügung zu stellen. Offenbar schätzte sie die Situation falsch ein und verständigte die Polizei, die in nur wenigen Minuten mit mehreren Beamten im Kiosk erschien. Während er weiter versuchte, den Verletzten zu beruhigen, hatte dieser nichts Besseres zu tun, als die Polizisten anzupöbeln. Sie sollten sich verziehen, er brauche ihre Hilfe nicht. Er wolle jetzt nur noch nach Hause. Ohne Vorwarnung seien Polizeifäuste geflogen, mitten in das verletzte Gesicht. Der Jugendliche wurde brutal auf den Boden geworfen, ein Knie in seinen Rücken gerammt, Handschellen angelegt.  Er habe „Halt, was machen Sie denn da? Er ist das Opfer!“ gerufen und sei dabei einen Schritt auf die Beamten zugegangen. „Kümmern Sie sich lieber um seine Verletzungen, rufen Sie bitte einen Krankenwag…“ In diesem Moment habe er selbst einen kräftigen Schlag ins Gesicht erhalten, wurde zu Boden gebracht und in Handschellen gelegt. Die Polizisten hätten ihn bäuchlings in das Einsatzfahrzeug gestoßen, an den Haaren in eine Sitzposition gezerrt, geohrfeigt und ihm gedroht, „er solle bloß die Fresse halten, sonst gäbe es gleich auf der Wache die Abreibung seines Lebens.“ Und so sei es gekommen. Mit dem Kopf sei er mehrfach vor die stählerne Tür seiner Arrestzelle gestoßen worden, bis er fast ohnmächtig gewesen sei. Man habe ihm Schuhe, Gürtel und seine Jacke ausgezogen und mit einem Tritt in die kalte Zelle befördert.  Eine Decke wurde ihm  verweigert. Als er nach 1-2 Stunden nach einer Schmerztablette und einem Glas Wasser gerufen habe, sei niemand gekommen. Er habe gegen die Zellentüre geklopft bis schließlich ein Beamter die Sichtluke geöffnet habe. Er habe seine Bitte wiederholt, worauf ihm der Beamte einen vollen Wasserbecher ins Gesicht schüttete.  In den nächsten Stunden sei die Luke noch mehrfach geöffnet worden. Eine Hand mit einem vollen Wasserbecher habe sich ihm aus der Luke entgegengestreckt. Mit trockener, pelziger Zunge habe er sich von der kalten Betonpritsche hochgehievt, um das köstliche Nass entgegenzunehmen, aber jedesmal habe sich der Becherinhalt auf dem grauen Zementboden ergossen, noch ehe er zugreifen konnte. Am nächsten Morgen sei er dann kommentarlos aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden und nun sitze er hier – auf der Anklagebank – wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Die Art mit der der Angeklagte während seines Berichts immer wieder den Kopf schüttelt ist nicht alleine traurig. Er verzieht dabei das Gesicht zu einem vielleicht spöttischen oder zynischen Lächeln, als hätte er gerade eine unglaubliche Geschichte erzählt, die ihm wohl keiner glauben will. Nach einigen langen Sekunden räuspert sich der Staatsanwalt, schaut hoch zur Richterbank und sagt: „ Ich für meinen Teil verzichte auf weitere Zeugen. Ich rege an, das Verfahren nach § 153 StPO einzustellen und zwar auf Kosten der Staatskasse, die auch die notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen hat.  Ich stimme dem Verteidiger zu. Auch bei mir geht angesichts einer gewissen Aktenführung der Polizei eine rote Lampe an. Was von den polizeilichen Zeugen zu erwarten ist, antizipiere ich. Einen Freispruch kann ich bei dem jetzigen Verfahrenstand allerdings nicht beantragen, aber vielleicht kann sich der Angeklagte mit meinem Vorschlag arrangieren?“  Hierbei sieht mich der Staatsanwalt fragend an. P.S: 1. Das Verfahren wurde nach Rücksprache mit meinem Mandanten gemäß § 153 StPO eingestellt. Die ganze Sache spielte sich vor dem Jugendschöffengericht ab, da die beiden Jugendlichen mit auf der Anklagebank saßen. Sie hatten die Angaben meines ihnen unbekannten  Mandanten in ihren Einlassungen zur Sache im Wesentlichen bestätigt. Die Schöffen waren bezüglich meines „opening statements“ zunächst irritiert.  Mit einem vorweggenommenen Plädoyer nach der Einlassung meines Mandanten, berichtete ich über ähnliche Fälle aus meiner Praxis in den vergangenen Jahren.  Die weibliche Schöffin hatte hiernach Tränen in den Augen und auch der männliche Schöffe schaute einigermaßen entsetzt  drein. 2. Diese Geschichte soll keinesfalls Polizeibeamte unter Generalverdacht stellen. Ich kenne überwiegend korrekte Polizeibeamte, die trotz schwieriger Aufgaben und oft schwierigem Klientel durchaus rechtsstaatlich und fair mit ihrem Gegenüber umgehen. 3. Ob dieser Fall Konsequenzen für die betreffenden Polizeibeamten haben wird, steht in den Sternen. Aus verschiedenen Gründen wohl eher nein. 4. Folgende Links aus der süddeutschen.de lohnen sich für Interessierte: http://www.sueddeutsche.de/bayern/umstrittener-polizeieinsatz-in-rosenheim-das-vergisst-man-nie-1.1298407 http://www.sueddeutsche.de/bayern/polizeigewalt-bei-einsaetzen-wenn-beamte-zu-rambos-werden-1.1294594 http://www.sueddeutsche.de/bayern/prozess-um-polizeigewalt-bewaehrungsstrafe-fuer-pfefferspray-polizist-1.1283465 Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Ein Besuch in der JVA – eine kleine Geschichte zum Knastalltag

Atti ist ein kleiner Türke, der mir ungefähr bis zur Brustwarze reicht. Er hat ein freundliches Wesen, kann sich gut ausdrücken und ist kein bisschen anstrengend – irgendwie ein angenehmer Typ. Und dennoch sitzt er wegen versuchten Totschlags in Untersuchungshaft. Bis vor sechs Monaten lebte er mit seiner Frau und seiner 9jährigen Tochter in einem Mietshaus, in dem es mit einem neu hinzugezogenen rechtsradikalen Schlägertypen als Mitmieter erhebliche Probleme gab. Dieser neue Mitmieter hatte gegenüber den anderen Mietern im Vorfeld bereits angekündigt, dass er das „Türkenpack“ aus dem Haus haben wolle und führte sich seither dementsprechend auf. Atti und seine Frau – aber auch die kleine Tochter – wurden bei jeder Gelegenheit provoziert und als Ausländer diskriminiert. Die kleine Tochter hatte nach einigen Wochen so große Angst vor dem neuen Mieter, dass sie sich nicht mehr traute, alleine auf dem Hof zu spielen, da der „gute Deutsche“ jede Gelegenheit nutzte, das Kind anzuschreien und sinnwidrige Verbote auszusprechen. Als Atti am Tage seiner Verhaftung mit der kleinen Tochter von einer Fahrradtour zurückkehrte, begegnete er vor dem Haus diesem „Unsympathling“, der sinngemäß geäußert haben soll, „da ist ja wieder das dreckige Pack“. Atti stieg von seinem Rad und verbat sich diese Beleidigungen. Der Unsympathling ging auf Atti zu und sagte: „Was willst Du stinkender Zwerg denn?“ Atti warf dem Unsympathling sein Fahrrad vor die Füße, der daraufhin über das Fahrrad sprang, um Atti eine mit der Faust zu verpassen. In diesem Moment brannte bei dem kleinen Mann eine Sicherung durch, er zog sein Taschenmesser, das er bei Fahrradtouren immer mit sich führte, und stach blindlings auf den ihm deutlich überlegenen Unsympathling ein. Ein Gutachter hat ihm mittlerweile attestiert, dass er zum Zeitpunkt seiner Tat aufgrund eines Affektstaues vermindert schuldfähig war. Irgendwann ließ Atti von seinem Opfer ab und übergab freiwillig das Messer an seine inzwischen hinzugelaufene Frau. Er kann sich heute selbst nicht mehr erklären, wie er so ausrasten konnte und bedauert seine Tat außerordentlich. „Kein Mensch hat so etwas verdient – noch nicht einmal dieser grobe Klotz – ich kann mir meine Tat selbst nicht verzeihen!“ sagt er. Nach anfänglichen großen Schwierigkeiten hat er sich mittlerweile in der JVA – so gut es geht – eingelebt. Da auch die JVA Beamten schnell gemerkt haben, dass Atti ein umgänglicher und zuverlässiger Typ ist, hat er es mittlerweile zu einem der sehr begehrten Hausarbeiterjobs gebracht. Er muss morgens um 6 Uhr aufstehen und verlässt um 6:30 Uhr seine Zelle, um den anderen Mitgefangenen im Trakt C und D das Frühstück zu bringen. Es gibt regelmäßig Tee, Weißbrot, Graubrot und Butter – ganz selten auch einmal Marmelade oder Käse. Um 7:30 Uhr ist er mit der Essensausgabe fertig. Dann folgt die Materialausgabe. Die Gefangenen stellen ihre leeren Scheuermittel und Spülmittelflaschen vor die Zelle und Atti füllt sie aus einem 10-Liter-Kanister auf. Danach werden montags, mittwochs und freitags Putzeimer, Schrubber, Putzlappen und weiteres Putzzubehör an diejenigen Insassen verteilt, die an dem jeweiligen Morgen entsprechenden Bedarf zur Säuberung ihrer Zelle angemeldet haben. Danach werden die Zellengänge gefegt und gewischt, was ungefähr 1 ½ Stunden in Anspruch nimmt. Um 11 Uhr sind die morgendlichen Arbeiten erledigt. Dann erfolgt die Mittagessenausgabe. Heute gab es z.B. grüne Bandnudeln, Thunfischsauce, Joghurt und einen Liter Milch. Atti sagt, das Essen in der JVA sei gut und es gebe Insassen, die nur wegen des Essens unbedingt in dieser JVA bleiben wollten. Ab 13 Uhr muss er dann zurück in seine Zelle, wo er selber sein Mittagessen zu sich nimmt. Um 13:45 Uhr wird die Zellentür wieder geöffnet und Atti fegt weiter die Gänge und Treppen der Anstalt bis er dann gegen 17 Uhr mit der Abendessenausgabe beginnt. Montags, dienstags, mittwochs und freitags hat er dann meistens nachmittags die Möglichkeit jeweils eine Stunde im Fitnessraum mit den üblichen „Foltergeräten“ Sport zu treiben und danach die Möglichkeit zu duschen. Samstags beginnen die beschriebenen Routinearbeiten dann jeweils eine Stunde später. Bereits um 14:30 Uhr gibt es dann Abendessen und auch die Hausarbeiter müssen auf ihre Zelle. Als Hausarbeiter genießt er den Luxus einer Einzelzelle. Atti beschreibt die JVA Beamten grundweg als freundlich und korrekt. Er habe noch nie mit ihnen Probleme gehabt – auch nicht wegen seiner türkischen Herkunft. Er freut sich schon jetzt auf den nächsten Besuch seiner Frau und seiner Tochter, die dreimal im Monat für 45 Minuten zu Besuch kommen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Heulende Männer, die keinen Cent zahlen!

Dabei sollte es nach meinem Plan gestern entspannt zugehen. Die Hauptverhandlung in Koblenz hatte ich nach längerem Nervenkrieg mit dem Gericht im letzten Moment noch durch einen Deal über einen Strafbefehl abgebogen. Der Terminkalender war damit blank. Also, Zeit für gute gute Vorsätze. Nach der Erledigung von allgemeinem täglichen Bürokram (Post, Rückrufe, etc.) schnappte ich mir gegen Mittag einen Stapel Knastakten und machte mich auf den Weg in die JVA Mönchengladbach. Es wurde mal wieder Zeit, meine Jungs zu besuchen. Lag es am Montag oder an einer allgemeinen Tiefdrucklage? Schon die JVA-Beamten machten einen depremierten Eindruck und ließen sich von meiner noch guten Laune nicht anstecken. Knappe Antworten, mürrische Gesichter, wohin man guckte – und in den Besucherzellen wurde es nicht besser. Meine ansonsten nach außen hin coolen und gelassenen Jungs – die meisten mit Knasterfahrung – entpuppten sich heute als die reinsten Heulsusen. Heulsusen – also heulende Frauen – finde ich im allgemeinen schon grausam. Bei den ersten abgepressten Tränchen erinnere ich mich an die eine oder andere Ex und schalte instinktiv auf Durchzug, weil ich zwar nicht immer erkenne, was die Mädels mit dem Knopfdruck-Geweine erreichen wollen, mir die Methode in jedem Fall aber auf den Geist geht. Wie aber ist das mit weinenden Männern? Können Sie sich z.B. einen heulenden, muskelbepackten russischen 2-meter-Schrank mit Oberarmen wie meine Oberschenkel vorstellen, dem ich ein Tempotaschentuch über den Tisch reichen muss, weil Tränenströme aus seinen wasserblauen Augen auf meine teuer kopierten Ermittlungsakten tropfen? Wie verhält man sich da als Anwalt? Ich nahm Abstand davon, meine Hand tröstend auf seine Pranke zu legen und versuchte es mit ein paar heiser hervorgebrachten Floskeln im Knastcolorit: “Hey Waldemar, geh mir nicht auf den Sack mit dem Geschniefe und tropf meine Papiere nicht voll! Ja, ich verstehe, dass du deine Frau vermisst aber es sind nur noch maximal 14 Tage bis du in der Haftprüfung raus kommst. Nein, ich werde dir kein Handy reinschleusen, damit du nachts mit ihr telefonieren kannst. Das ist verboten und außerdem unterstütze ich prinzipiell keinen Telefonsex!” Und als auch das nichts half, versuchte ich es auf die sensible Art, mit der ich bei weinenden Mandantinnen schon oft Erfolg hatte: “Waldemar – wenn die Stimmung hier schon so zum Heulen ist – wie steht´s eigentlich mit dem Honorar, dass du mir vom letzten Fall noch schuldest?” Ich spürte eine leichte Veränderung in seiner Körperhaltung und setzte noch einen drauf: “Oder muss ich dir erst Arme und Beine brechen, damit du mich bezahlst?” Jetzt hatte ich ihn! Hinter den sich verflüchtigenden Tränen blitzten seine blauen Augen auf und ein breites Grinsen machte sich auf seinem unrasierten Gesicht breit: “Ich wusste, dass sie mich nicht im Stich lassen, Herr Meister!”, was wohl heißen soll, dass ich auch in Zukunft keinen Cent Honorar von ihm zu erwarten hab. In entspannter Atmosphäre sprachen wir noch ein bisschen über den bevorstehenden Haftprüfungstermin. Bei der Verabschiedung legte er mir seinen Baumstamm von Arm um die Schulter, drückte mich herzlich und versprach augenzwinkernd eine kleine Ratenzahlung – sobald er aus der Haft raus sei. So schlängelte sich der Nachmittag mit 5 weiteren Mandanten hin – bis die Tiefdruckfront auch mich überrollte. Die letzten Knast-Mandanten hielt ich nicht mehr aus, und ich brach mein Programm für diesen Tag ab. Es reichte! Ich nahm mir vor, auf besseres Wetter zu warten – oder jedenfalls auf Dienstag. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Was gibt es da zu grinsen, Frau Alice Schwarzer? Ein kurzer Einblick in die politisch unkorrekte Gefühlswelt eines Strafverteidigers.

Da sitzt sie wieder hinten im Zuschauerraum. Eine etwas jüngere Ausgabe von Alice Schwarzer – nicht ganz so gut aussehend, aber mit diesem schmallippigen, selbstzufriedenen Grinsen, das mich an den berühmten Werbespruch für Romika Schuhe erinnert. Ich betrete vor meinem Mandanten den kleinen Gerichtssaal und schleudere ihr freundlich lächelnd – und natürlich aus purer Boshaftigkeit – einen kleinen Scherz an den Kopf. Nein, sie hat mir unser letztes Scharmützel ebensowenig verziehen, wie die Tatsache, dass ich ein Mann bin. Ohne das Dauergrinsen abzustellen streicht sie sich in einer langsamen Armbewegung ihr hennarotes Haar aus der Stirn,  schlägt die Beine übereinander und wendet sich demonstrativ ihrem Schützling zu. Ja, was ist sie doch für ein guter Mensch, diese Dame vom Opferschutzverein „Wutdöschen“ (Name der Opferschutzorganisation geändert). Die Geschichte ist schnell erzählt: Auf der Anklagebank sitzt  kerzengerade der 31-jährige Ex-Leichtathletiktrainer. Sein gestählter Körper passt nicht zu seinem jungenhaften Gesicht. Mit sanfter, brüchiger Stimme trägt er sein umfassendes Geständnis vor. Durch seine Stahlbrille sucht er dabei den Blick „seiner“ 13-jährigen Athletin, in die er soviel Hoffnung auf eine künftige Teilnahme an den Olympischen Spielen gesteckt hatte.  Das Mädchen sitzt ihm mit einem streng nach hinten gebunden Pferdeschwanz gegenüber, neben der Staatsanwältin, da wo die Opfer bei Nebenklageverfahren Platz zu nehmen pflegen. Ihr Mund ist ein Strich. Sie meidet jeden Blickkontakt, schüttelt nur hin und wieder langsam ihren Kopf in tatsächlicher oder gespielter Empörung. Synchron schwenkt der Kopf der Opferschützerin – jede Erklärung des Angeklagten verneinend. Ihr Dauergrinsen wirkt wie eine Fratze. Ja, ihm sei bewusst gewesen, dass Sex mit einer 13-jährigen verboten sei. Kopfschütteln der Opferdame. Er habe versucht, seine Gefühle für das Mädchen zu unterdrücken. Kopfschütteln. Sie habe ihn unter Tränen gebeten, sie nicht zu ignorieren. Kopfschütteln. Sie habe ihm gestanden, dass sie auch in ihn verliebt sei. Kopfschütteln. Sie hätten sich heimlich auch bei ihm in der Wohnung getroffen. Kopfschütteln. Er habe sich selbst bei der Polizei angezeigt, nachdem die Eltern des Mädchens den Emailverkehr entdeckt hätten, um dem Mädchen eine Aussage zu ersparen. Kopfschütteln. Er habe sich in Therapie begeben, dreimal wöchentlich gehe er dahin, um sich selber zu verstehen. Kopfschütteln. Er biete dem Mädchen ein Schmerzensgeld an; er bedauere aufrichtig, ihr solche Probleme bereitet zu haben. Er werde aus der Stadt fortziehen, damit das Kind keine Angst vor einer Begegnung mit ihm haben müsse. Kopfschütteln. Als ich die junge Athletin befrage, räumt sie eine einvernehmliche Liebesbeziehung ein. Sie sei nur so enttäuscht. Ihre Eltern und die Dame vom Opferschutz hätten sie überzeugt, dass der Angeklagte, den sie mit Vornamen nennt, sie nicht wirklich geliebt habe. Sie fühle sich nun ausgenutzt. Bei diesen Worten nickt die Opferschutzdame heftig. Natürlich – so führe ich in meinem Plädoyer aus – sind die Taten des Angeklagten strafbar, aber bei der beschriebenen Konstellation, komme ein minderschwerer Fall des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und damit eine Bewährungsstrafe in Frage.  Ein minderschwerer Fall liege schon deshalb nach der Rechtsprechung des BGH nahe, weil das Mädchen zu den Tatzeitpunkten kurz vor Erreichen des 14. Lebensjahres gewesen sei. Heftiges Kopfschütteln der Opferdame. Das Gericht verkündet nach langer Beratung – sehr zu meiner Enttäuschung – eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und sechs Monaten. Triumphierend erhebt sich die Dame vom Opferschutz, schreitet an mir vorbei zur Richterbank und schüttelt dem verdutzten Vorsitzenden mit ihrem Dauergrinsen die Hand. Sie beugt sich über den Tisch und flüstert dem – so mein Eindruck – peinlich berührten Vorsitzenden etwas Schmeichelhaftes ins Ohr. Ich meine zu hören „ das haben Sie ganz toll gemacht!“ Naja, wer zuletzt lacht, lacht am besten. Ich hoffe, das Berufungsgericht wird die Sache anders beurteilen und sei es nur, um diese Dauergrinsen wenigstens für ein paar Sekunden auszuknipsen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Die verdutzten Putzfrauen mit den roten Augen oder Joints für den Stadtrat!

Böse Zungen behaupten, Bürgermeister Bernat Pellisa von der Partei der Republikanischen Linken habe erst einen mitgebrachten Sack mit Joints verteilen müssen. Als der süße Duft von Marihuana sich über und in die Köpfe der Stadtabgeordneten gelegt hatte und der dichte Rauch durch die Türschlitze des Gemeindesaals langsam nach draußen auf den Flur des Bürgermeisteramtes kroch, gelang es ihm die konservative Opposition des Dorfes Rasquera in der katalanischen Provinz Tarragona von seinem Projekt zu überzeugen. Als die Abgeordneten spät abends – es war schon gegen 22 Uhr – gut gelaunt und von Heißhunger ergriffen aus dem Ratssaal torkelten, wären sie fast über die ansonsten fleißigen Putzfrauen gestolpert. Diese hockten in einer kleinen Gruppe direkt vor der Türe des ehrenwerten Saals. Entweder hatten sie an der Türe die zunächst zähen, aber dann immer beschwingteren Verhandlungen belauscht oder aber waren von den feinen unter der Tür hervorströmenden Dämpfen in einen anderen Zustand versetzt worden. Jedenfalls blickten sie mit weitaufgerissenen, beängstigend roten Augen zu den Abgeordneten empor und kicherten dabei ohne jeden Respekt. In normalen Zeiten hätte dies Folgen gehabt. Aber nach der erfolgreichen Krisensitzung, die die Zukunft des kleinen Dorfes retten würde, stiegen die Abgeordneten ohne weiteres Federlesen über die Damen hinweg, traten hinaus auf den Palazzo und atmeten gierig die frische Nachtluft ein. Bernat Pellisa schloss mit einem überdimensionierten Bartschlüssel die schwere Eichentür des alten Rathauses ab und hatte bereits in diesem Moment die Putzfrauen vergessen. So wurde deren respektloses Verhalten zwar nicht von der Stadtautorität geahndet, was sie sich allerdings am nächsten Morgen von ihren wutentbrannten Männern anhören konnten, als sie mit dickem Schädel nach Hause schlichen, kann man sich denken. Okay, ich gebe es zu. Ich habe die Geschichte ein wenig ausgeschmückt. Ich bin die böse Zunge. Fakt aber ist, dass die Gemeindeversammlung an diesem Abend beschlossen hat, 5000 Quadratmeter fruchtbaren Bodens von Rasquera künftig dem Cannabis-Anbau zur Verfügung zu stellen. Cannabis soll dort bald im großen Stile angebaut werden. Bernat Pellisa möchte so die Gemeindekasse aufstocken, für Vollbeschäftigung in seinem Ort sorgen – und dann, naja – nie wieder diese langweiligen, unkreativen Ratssitzungen der Vergangenheit, wo doch schon bald der Rohstoff – man könnte auch sagen Frohstoff – vor der Türe wächst und gedeiht. Ach so! Sie zweifeln an meinen Worten? Verstehe! Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht? Hier ein Auszug aus dem Interview, das die Süddeutsche Zeitung mit dem Bürgermeister geführt hat: „SZ: Herr Bürgermeister, erzählen Sie uns von Ihrem Dorf. Bernat Pellisa: Nun, Rasquera hat 900 Einwohner, liegt 20 Kilometer vom Meer entfernt, unsere Produkte sind Olivenöl und Ziegen. Die Cabra Blanca ist geschätzt bei Köchen und Feuerwehrleuten, denn die Tiere fressen das trockene Unterholz, das verhindert Waldbrände. SZ: Und warum wollen Sie Ihr Dorf zu einem Wallfahrtsort für Kiffer machen? Pellisa: Wir legalisieren nur, was ohnehin üblich ist. Cannabis zum privaten Gebrauch wird doch überall am Mittelmeer angebaut. Das ist in Spanien auch nicht verboten. Aber es gab halt einen großen Schwarzmarkt. SZ: Und nun dealen Sie? Pellisa: Nein, wir wollen zunächst 5000 Quadratmeter Fläche an eine anerkannte private Initiative aus Barcelona verpachten, die Cannabis zu therapeutischen und ludischen Zwecken anbaut. SZ: Ludisch? Pellisa: Na ja, zum Vergnügen halt. SZ: Rauchen Sie selbst auch? Pellisa: Das tut hier nichts zur Sache … Na ja, wir verstehen uns: Wir sind der Meinung, jeder sollte seine Freiheitsrechte ausüben können. Damit befinden wir uns im Einklang mit den Vereinten Nationen. Die Prohibition ist doch gescheitert. Wir fühlen uns als Pioniere. SZ: Was bringt Ihnen das finanziell? Pellisa: 1,3 Millionen Euro. Wir haben Außenstände, denn wir haben zuletzt viel investiert in Kanal- und Straßenbau. SZ: Spanien hat sehr viel Arbeitslose. Bringt der Cannabis-Anbau neue Jobs? Pellisa: Wir rechnen mit 40 Stellen in der Verwaltung und für die Bewachung. Das reicht bei uns für Vollbeschäftigung. Wir hoffen, dass junge Leute zurückkommen. Wir wollen langfristig ein Zentrum für Cannabisforschung werden.“ Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Die Schildkröte

Vor ca. zwei  Wochen hatte ich bei einem Landgericht in einem anderen Bundesland wieder einmal eine Begegnung der besonderen Art. Die Vorsitzende Richterin – nennen wir sie mal „Schlagendöver“ – nein, wir verpassen ihr noch ein adliges “von”, nicht weil sie adelig wäre, aber dieser herrlich blasierte Gesichtsausdruck wirkt einfach adelig und kann nur das Ergebnis jahrelang gepflegter Verbitterung sein. Oder hat da ein Arzt zuviel Botox gespritzt, dass die Arme keine Miene mehr verziehen kann? Egal, nennen wir die Grand Dame “von Schlagendöver”, das passt. Sie versprüht den Charme einer griechischen Landschildkröte, redet aber deutlich schneller und meistens ziemlichen Unsinn, von dem sie aber kraft Ihres Amtes überzeugt zu sein scheint. Mit ihrer arroganten Ausstrahlung steckte sie ihre armen Beisitzer und selbst die Schöffen an, deren Gesichtsausdrücke während der Verhandlung in einer erstaunlichen Metamorphose immer schildkrötenähnlicher wurden – und ich hatte keine Pilze gegessen. Kalt, unnahbar und technokratisch wickelte sie ihre Hauptverhandlung ab (wahrscheinlich wollte sie schnell nach Hause, um noch ein bisschen Botox nachzuspritzen). Einen kleinen Scherz von mir, den immerhin der nette Staatsanwalt verstand, quittierte sie mit der Bemerkung, jemand habe schon einmal aufgrund eines Scherzes bei der Flughafenkontrolle seinen Flug verpasst. Man müsse sich überlegen, wo Scherze angebracht seien. Die schon zu einem verzagten Lächeln hochgezogenen Mundwinkel der Beisitzerin und der Schöffen erstarrten übergangslos wieder zu Schildkrötenvisagen. Aha, immerhin hatte die Vorsitzende verstanden, dass es sich um einen Scherz handeln sollte. Da für sie in diesem Moment aber kein Keller erreichbar war, musste diese Bemerkung wohl ebenso sein wie meine Antwort darauf: “Lassen Sie mich raten. Sie sprechen aus Erfahrung. Sie haben bestimmt einmal einen Flug verpasst, weil jemand am Flughafen, ihren köstlichen, unwiderstehlichen Humor nicht verstand.“ Haben Sie schon einmal gesehen, wenn Schildkröten tief Luft holen und dabei ihre Wangen nach innen ziehen? Sieht wirklich süß aus. Ich mag Schildkröten. Die Verhandlung plätscherte weiter dahin, und der Vorwurf des Handeltreibens mit Waffen verflog, als  der Mandant der Schildkrötendame detailliert die Spielregeln von „baseball“ erklären konnte und damit die Anwesenheit seines Baseballschlägers im Kofferraum. Von Sportsgeist schien die Vorsitzende nicht beseelt, denn eh die Kammer sich zur Beratung zurückzog, zeigte die Dame, was für eine schlechte Verliererin sie ist und offenbarte dabei – ganz untypisch für ein Möchtegern-Adelige – ausgesprochen schlechte Manieren und einen desolaten Geschmack. Sie hatte die Chuzpe, mich auf meine (immer) fehlende Krawatte anzusprechen. Schildkröten sind naturbedingt nicht sehr lernfähig, und so mag es sie gewundert haben, dass ich ihr dafür noch einmal einen einschenkte: “Frau Vorsitzende, jetzt kennen wir uns schon seit so vielen Jahren, und ihnen fällt heute erst auf, dass ich nicht wie ein Versicherungsvertreter daherkomme. Als Richter sollte man schon über eine gewisse Beobachtungsgabe verfügen, finden Sie nicht?” Die Bemerkung, dass ihr ein weißer Schal zur Abdeckung ihres Schildkrötenhalses ganz gut stehen würde, ersparte ich mir. Schließlich halte ich mir wenigstens hin und wieder eine gute Kinderstube zugute. Und für ihren Hals kann die Schildkröte ja nichts. Arme Schildkröte. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach