Die Schildkröte

Vor ca. zwei  Wochen hatte ich bei einem Landgericht in einem anderen Bundesland wieder einmal eine Begegnung der besonderen Art. Die Vorsitzende Richterin – nennen wir sie mal „Schlagendöver“ – nein, wir verpassen ihr noch ein adliges “von”, nicht weil sie adelig wäre, aber dieser herrlich blasierte Gesichtsausdruck wirkt einfach adelig und kann nur das Ergebnis jahrelang gepflegter Verbitterung sein. Oder hat da ein Arzt zuviel Botox gespritzt, dass die Arme keine Miene mehr verziehen kann? Egal, nennen wir die Grand Dame “von Schlagendöver”, das passt. Sie versprüht den Charme einer griechischen Landschildkröte, redet aber deutlich schneller und meistens ziemlichen Unsinn, von dem sie aber kraft Ihres Amtes überzeugt zu sein scheint. Mit ihrer arroganten Ausstrahlung steckte sie ihre armen Beisitzer und selbst die Schöffen an, deren Gesichtsausdrücke während der Verhandlung in einer erstaunlichen Metamorphose immer schildkrötenähnlicher wurden – und ich hatte keine Pilze gegessen. Kalt, unnahbar und technokratisch wickelte sie ihre Hauptverhandlung ab (wahrscheinlich wollte sie schnell nach Hause, um noch ein bisschen Botox nachzuspritzen). Einen kleinen Scherz von mir, den immerhin der nette Staatsanwalt verstand, quittierte sie mit der Bemerkung, jemand habe schon einmal aufgrund eines Scherzes bei der Flughafenkontrolle seinen Flug verpasst. Man müsse sich überlegen, wo Scherze angebracht seien. Die schon zu einem verzagten Lächeln hochgezogenen Mundwinkel der Beisitzerin und der Schöffen erstarrten übergangslos wieder zu Schildkrötenvisagen. Aha, immerhin hatte die Vorsitzende verstanden, dass es sich um einen Scherz handeln sollte. Da für sie in diesem Moment aber kein Keller erreichbar war, musste diese Bemerkung wohl ebenso sein wie meine Antwort darauf: “Lassen Sie mich raten. Sie sprechen aus Erfahrung. Sie haben bestimmt einmal einen Flug verpasst, weil jemand am Flughafen, ihren köstlichen, unwiderstehlichen Humor nicht verstand.“

Haben Sie schon einmal gesehen, wenn Schildkröten tief Luft holen und dabei ihre Wangen nach innen ziehen? Sieht wirklich süß aus. Ich mag Schildkröten. Die Verhandlung plätscherte weiter dahin, und der Vorwurf des Handeltreibens mit Waffen verflog, als  der Mandant der Schildkrötendame detailliert die Spielregeln von „baseball“ erklären konnte und damit die Anwesenheit seines Baseballschlägers im Kofferraum. Von Sportsgeist schien die Vorsitzende nicht beseelt, denn eh die Kammer sich zur Beratung zurückzog, zeigte die Dame, was für eine schlechte Verliererin sie ist und offenbarte dabei – ganz untypisch für ein Möchtegern-Adelige – ausgesprochen schlechte Manieren und einen desolaten Geschmack. Sie hatte die Chuzpe, mich auf meine (immer) fehlende Krawatte anzusprechen. Schildkröten sind naturbedingt nicht sehr lernfähig, und so mag es sie gewundert haben, dass ich ihr dafür noch einmal einen einschenkte: “Frau Vorsitzende, jetzt kennen wir uns schon seit so vielen Jahren, und ihnen fällt heute erst auf, dass ich nicht wie ein Versicherungsvertreter daherkomme. Als Richter sollte man schon über eine gewisse Beobachtungsgabe verfügen, finden Sie nicht?”

Die Bemerkung, dass ihr ein weißer Schal zur Abdeckung ihres Schildkrötenhalses ganz gut stehen würde, ersparte ich mir. Schließlich halte ich mir wenigstens hin und wieder eine gute Kinderstube zugute. Und für ihren Hals kann die Schildkröte ja nichts. Arme Schildkröte.

Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach


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