Privatschnüffler im Auftrag der Polizei
Eine Ehefrau will ihren wegen eines BtM-Verbrechens beschuldigten Ehemann in den Genuss der Kronzeugenregelung des § 31 BtMG bringen. Sie bietet der Polizei an, den noch nicht ins Visier geratenen Mittäter zu einer ihn überführenden Aussage zu veranlassen. Das zuständige Amtsgericht erlässt einen Beschluss nach § 100 f StPO, der es ihr erlaubt, das nicht öffentliche Gespräch mit dem Mittäter aufzunehmen. Ausgestattet mit polizeilichen Abhörgeräten besucht sie unter einem Vorwand den Mittäter, schleicht sich in sein Vertrauen ein und bringt ihn unter Zusicherung der Vertraulichkeit des Gesprächs zum Reden. Der so Überführte wird vom Landgericht Düsseldorf zu 7 J. 6 M verurteilt, wobei sich das Gericht maßgelblich auf die heimliche Tonbandaufnahme der Ehefrau stützt. In seinem Beschluss vom 31.3.2011 (3 StR 400/11) verwirft der 3. Strafsenat des BGH die Rüge des Verurteilten, es liege ein Verstoß gegen §§ 136, 136 a I,2, 163 IV StPO sowie eine Verletzung des Gebots des fairen Verfahrens vor. Das heimlich gewonnene Beweismittel unterliege – trotz rechtzeitigen Widerspruchs – keinem Verwertungsverbot. Die Argumente des BGH stichwortartig zusammengefasst lauten: Kein Verstoß gegen Belehrungspflichten, da keine Vernehmung durch Auskunftsperson in amtlicher Funktion; Keine Täuschung, da die heimliche Vernehmung durch eine Privatperson trotz Zusicherung von Vertraulichkeit nicht mit den in § 136 a I StPO genannten Willensbeeinträchtigungen zu vergleichen sei; Kein Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit, die zwar zum Kern des Art. 6 I EMRK (Gebot des fairen Verfahrens) gehöre, hier aber nicht tangiert sei, weil Verurteilter zur Zeit der „Privatbefragung“ weder in Haft, noch bereits von der Polizei vernommen war. Das Vorgehen der Ermittlungsbehörden wiege deshalb weniger schwer, weil sich die Ehefrau von sich aus als Informantin zur Verfügung gestellt habe. Sie sei weder von der Polizei instruiert noch angeleitet, sondern nur mit technischen Mitteln ausgestattet worden. Die glänzende Anmerkung von Claus Roxin im aktuellen Strafverteidiger beginnt mit einem Zitat aus der Allan – Entscheidung des EGMR (StV 2003, 257) aus dem Jahre 2002 (die auch vom BGH gesehen wurde): „Der Anwendungsbereich des Schweigerechts und des Schutzes vor Selbstbelastung ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Beschuldigte Zwang widerstehen musste. “ Zum Kernbereich des fairen Verfahrens gehöre „die Freiheit einer verdächtigen Person zu entscheiden, ob sie … aussagen oder schweigen will. Eine solche freie Entscheidung wird effektiv unterlaufen, wenn die Behörden … eine Täuschung anwenden, um dem Beschuldigten belastende Eingeständnisse zu entlocken, die sie in der Vernehmung nicht erlangen konnten und die so erlangten Geständnisse in den Prozess einführen.“ Sodann zitiert Roxin die Bykov – Entscheidung des EGMR (NJW 2010, 213), mit dem der Gerichtshof später zurückgerudert ist. Dort heißt es zu einem ganz unserem Fall ähnelnden Sachverhalt einer im Auftrag der Polizei aushorchenden Privatperson: Es sei „gegenüber dem Beschwerdeführer in keiner Weise Druck ausgeübt worden, V. in seinem Gästehaus zu empfangen, mit ihm zu sprechen oder sich zu der von ihm angesprochenen Angelegenheit zu äußern … Aus diesen Gründen ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass die Beweise durch Zwang oder Druck erlangt worden sind, die er im Fall Allan als Verletzung des Rechts des BF. zu schweigen angesehen hatte.“ Roxin zeigt, wie der BGH versucht diese gegensätzlichen Entscheidungen des EGMR zu dem Einsatz von „Schnüffel-Privatpersonen“ mit dem üblichen Griff in die juristische Werkzeugkiste in Einklang zu bringen. „Ob die Anwendung einer Täuschung das Schweigerecht in einem solchen Maße beeinträchtigt, dass eine Verletzung des Art. 6 I EMRK vorliegt, hängt … (Überraschung!) von den Umständen des Einzelfalles ab …“ Im Folgenden kritisiert Roxin die hierdurch geschaffene Rechtsunsicherheit. Eine Antastung dieses Kernbereichs von Art. 6 EMRK dürfe nicht zur Disposition des jeweiligen Gerichts gestellt werden, sondern müsse zu einem Verwertungsverbot führen. Das Aushorchen durch die Ehefrau als Agentin des Staates sei ein funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung und stelle auch eine Umgehung des § 136 StPO dar. Dieser beschränke sich spätestens seit der Allen – Entscheidung nicht darauf eine irrtümliche Annahme einer Aussagepflicht zu verhindern, sondern habe den Sinn, eine autonome Entscheidung des Beschuldigten sicherzustellen, ob er sich verwertbar überhaupt äußern wolle. Dies liege auf der Linie des BVerfG (BVerfGE 56, 37 (43)), wonach „die Menschenwürde gebiete, dass der Beschuldigte frei darüber entscheiden könne, ob er als Werkzeug zur Überführung seiner selbst benutzt werden dürfe.“ Wie leicht § 136 StPO auszuhebeln wäre, folgte man dem BGH, macht Roxin an einem schönen Beispiel klar: „Es kann doch wohl ein Polizist sich seiner Belehrungspflicht nicht dadurch entziehen, dass er sich als Privatmann verkleidet und als scheinbarer Sympathisant dem Beschuldigten selbstbelastende Äußerungen entlockt.“ Sodann greift Roxin auf die Untersuchung von Mahlstedt (Die verdeckte Befragung des Beschuldigten im Auftrag der Polizei, 2011) zurück, den er zitiert: Bei einer „durch Täuschung provozierten Äußerung“ sei „ die Autonomie des Betroffenen nicht minder untergraben als bei einer abgenötigten … Einen Beschuldigten deshalb für weniger schützenswert zu erachten, weil ihm nicht bewusst ist, dass er von der Polizei zur Abgabe strafverfahrensrelevanter Informationen veranlasst wird, ist unverständlich. Auch wenn infolge gezielt belassener Unkenntnis die Ausübung eines Rechts faktisch ausgeschlossen wird, bleibt das Recht selbst bestehen, da mit seiner Einräumung zugleich die Freiheit vorausgesetzt ist, darüber zu disponieren, unter welchen Bedingungen es aufgeben wird.“ Die weiteren stichhaltigen roxinischen Argumente erspar ich Ihnen. Man kann sie im Strafverteidiger 3, S. 131 ff. nachlesen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
In Memoriam an Bastian Dörper
Ich meide kirchliche Zeremonien im Allgemeinen wie der Teufel das Weihwasser. An der Beerdigung von Bastian Dörper teilzunehmen aber war mir ein tiefes Bedürfnis. Nicht, dass er mir besonders nahe gestanden hätte; er war ein langjähriger Mandant, den ich zuletzt vor ca. 2 Wochen verteidigt hatte, aber er war erst 19 Jahre alt, als er sich in einer Arrestzelle der Jugendvollzugsanstalt Heinsberg erhängte. Das macht betroffen. In der Friedhofskapelle ist es eiskalt. Mein Kollege Felix Menke und ich sitzen in einer der hintersten Reihen und betrachteten traurig das Geschehen. Hinter uns zwei freundliche Damen von der Jugendgerichtshilfe, die Basti seit Jahren kannten. Etwas weiter vorne ein Kripobeamter, der Basti schon mehrfach festgenommen hat und nun stumm auf den Altar mit dem blumengeschmückten Sarg starrt. Bastis Freunde, von denen ich viele kenne, seine Brüder und Schwestern und schließlich seine Mutter, gestützt von Bastis Freundin, defilieren langsam an uns vorbei, den Mittelgang hinauf, nach vorne zum Sarg, an dem ein gerahmtes Foto von Basti lehnt. Ernst blickt er darauf in die Kamera, und er sieht jung und frisch und optimistisch aus auf dem Bild. Sein jüngerer Bruder verteilt mit Tränen in den Augen rote Rosen an die Trauergäste, und ich sehe, wie schwer es ihm fällt, gefasst zu bleiben. Mit hängendem Kopf geht er wieder nach vorne und setzt sich in die erste Reihe neben die engsten Angehörigen. Vereinzelt höre ich Schluchzen in der ansonsten stillen Kirche. Seltsam eindringlich durchbrechen plötzlich Glockentöne die Stille. Als ihr letzter dumpfer Klang verebbt, erklingt eine Orgel, die ein mir unbekanntes Kirchenlied spielt und die Melodie und der Satz gefallen mir. Mit dem letzten Ton öffnet sich eine schmale Türe neben dem Altar und der Pastor betritt feierlich die Kapelle. Mit wenigen Schritten steht er vor der seitlich gelegenen Kanzel und schaut ernst in sein Publikum. Der Stimme des Pastors fehlt der einstudierte heilige Singsang, und nach wenigen Sekunden ertappe ich mich beim ernsthaften Zuhören. Ohne Pathos erinnert der Pastor an einen einschneidenden Zeitpunkt vor ziemlich genau einem Jahr, als die ersten Sitzreihen der Kapelle beinahe gleich besetzt gewesen waren wie heute. Nur das auch Basti da vorne zwischen seinen Angehörigen gesessen und den plötzlich verstorbenen Vater beweint hatte. Und nun liege er selbst da vorne im Sarg, auf dem Weg, dem Vater in den Himmel zu folgen, sagt der Pastor. Und das werde er. Basti sei trotz seiner Verfehlungen im Grunde ein guter Mensch gewesen, der sich Mühe gegeben habe, sich zu bessern, und darauf komme es an. Der Pastor steigt von seinem Podest hinab in den Kirchenraum, blickt Bastis Mutter in die Augen und fragt, wie man angesichts einer solchen Tragödie an einen guten Gott glauben könne. Dann geht er weiter zur Schwester und sagt, er wisse es nicht. Seit Menschengedenken trügen Angehörige ihre Liebsten zu Grabe und irgendwie gehöre der Tod zum Leben. Dass aber ein so junger Mensch wie Basti keinen anderen Ausweg mehr gesehen habe, das erschüttere ihn und alle Anwesenden. Dann geht er weiter zu Bastis Bruder, schaut auch ihm freundlich in die Augen und erzählt von Basti, seinen Vorlieben, seinen Stärken – wie gerne er für seine Familie gekocht habe, wie er sich gekümmert habe, und dass er, wenn es darauf ankam, immer für sie alle dagewesen sei. So solle man sich an Basti erinnern. Und weil er es mit ihnen allen gut gemeint habe und noch immer meint, schaue er nun auf sie herab und wünsche ihnen die Stärke, auch in verzweifelten Momenten noch stärker zu sein als er es war. Das sei nun Bastis Botschaft: Habt Mut und Gottvertrauen. Dabei schaut der Pastor insbesondere die Jugendlichen an – einen nach dem anderen – und nickt dabei. Ich beobachte, wie die Predigt Wirkung zeigt und bewundere die tröstende Rhetorik des Kirchenmannes. Nicht schlecht, denke ich, auch wenn damit letztlich nichts beantwortet ist. Aber vielleicht hat der Pastor Recht, und es gibt eben auf manches keine befriedigende Antwort. Basti hatte eine sehr überschaubare Jugendstrafe vor sich. Er hatte eine Freundin, eine Familie, die zu ihm stand. Seine Freundin hatte mir erzählt, dass er sehr an dem Vater gehangen habe, dass er ungewaschene Kleidungsstücke des Vaters aufbewahrt hatte, an denen er immer wieder roch, um sich an den Vater zu erinnern. Was mag ihn geritten haben, dass er versuchte aus dem Jugendgefängnis auszubrechen und sich damit eine Sonderzelle einhandelte, in der er sich in den frühen Morgenstunden des 30.11.2012 mit seinem weißen Gürtel erhängte? Aber auch wenn es keine befriedigende Antwort gibt, ist die Frage, ob man Bastis Freitod hätte verhindern können, nicht müßig. Noch am Morgen seines Todes hatte er einen Besuch der Anstaltspsychologin erbeten, die ihn dann drei Stunden später tot in seiner Zelle fand. Die Anstalt wusste von einem vorangegangenen Selbsttötungsversuch im Gefängnis. Niemand scheint erkannt zu haben, wie sensibel Basti wohl offensichtlich war. Es ist leicht, die Schuld bei anderen zu suchen – ich weiß. Trotzdem, sein Tod sollte uns nachdenklich machen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Gedanken im Nachgang zu einem Tötungsverfahren beim Landgericht Krefeld – oder warum es schwer ist, ohne Feindbild zu leben.
Der liebe Feind. Wie sehr ihn doch die meisten brauchen, oder jedenfalls das gepflegte Bild von ihm, dem Feind. An ihm kann man sich aufrichten. Er zeigt, wie viel besser man doch selber ist, wie viel schlauer, ehrbarer und menschlicher, und natürlich hat der Feind einen miesen Charakter, jedenfalls vergleichsweise. Für Richter und Staatsanwälte sind die Verteidiger das ideale Feindbild. Für Strafverteidiger sind es die Richter und Staatsanwälte, wobei ich zugeben muss, nur bezüglich der Strafverteidiger kann ich das mit Bestimmtheit sagen. Nur da bin ich präsent und bei den anderen keine Fliege an der Wand. Aber Richter und Staatsanwälte sind Menschen. So grenzt meine Vermutung, was sie betrifft, an Bestimmtheit. Warum sollte es auch anders sein, wo wir ihn doch alle gleichermaßen schätzen, den belauerten, geschmähten Feind. Wie herrlich kann man über ihn herziehen und sich dabei selber auf die breiter werdende Brust schlagen. Und wie gerne hören es vielleicht die Mandanten, wenn prahlend von dem Idioten auf der anderen Seite gesprochen wird, dem Schmutzbuckel und Büttel, der einem Böses will. Aber brauchen wir ihn wirklich, den Feind? Wenn man mit manchen Kollegen spricht, könnte tatsächlich der Eindruck entstehen. In meinem Beitrag „Herr Vorsitzender, Sie sind der Erste, der mir das verweigert! Zur Zulässigkeit eines „Opening Statements“ durch die Verteidigung“ hatte ich darüber geschrieben, dass wir in unserer Kanzlei – und das gilt für alle meine Kollegen – dem Feindbild grundsätzlich trotzen. Wir haben das Feindbild nie aufgehangen, und sollte es einstmals nach einer frustrierenden Verhandlung mitgebracht worden sein, so steht es vermutlich verstaubt und mit Spinnweben verklebt irgendwo schön golden eingerahmt– vielleicht im Aktenkeller. Doch aus zwei Gründen fällt es zuweilen schwer, sich nicht doch mit einem Putzlappen bewaffnet nach unten ins Gewölbe zu begeben und es zu suchen. Und ich erinnere mich, so manches Mal die Treppe hinabgestiegen zu sein, den Kellerschlüssel in der Hand und dann doch unverrichteter Dinge wieder hochgestiegen zu sein ans Tageslicht. Der eine Grund liegt im Gruppendynamischen. Man kann bei den Strafverteidigerkollegen oder dem Mandanten ins Abseits geraten, wenn man sich dem (kulturellen) Erbe verweigert, auf die andere Seite einzuhacken und nur müde gequält lächelt, wenn z.B. in Verhandlungen von den Nachbarn Despektierliches über „den Spinner“ da vorne auf der Richterbank geraunzt, oder abwertende Scherze geflüstert werden. Zuweilen kommt man in den Ruf unsolidarisch zu sein, wenn man nicht jede Pöbelei mitmacht, die auch gerne von der Anklagebank bejubelt wird. Damit kein Missverständnis auftaucht. Es geht nicht um die Vermeidung oder gar Ablehnung einer aktiven Verteidigung, sondern die Abgrenzung vom Destruktiven zum Konstruktiven. Ich jedenfalls bin mit meinen Verfahrensanträgen bisher nur selten auf Unverständnis oder gar Ablehnung gestoßen, und sollte es einmal doch soweit kommen, ist klarer Widerstand gefordert. Es gibt halt auch tatsächlich unverständige Richter und schwierige Staatsanwälte. Die meisten sind jedoch durchaus vernünftigen, sachlichen Argumenten gegenüber aufgeschlossen, und nach meiner Erfahrung kann man hierdurch eine Menge zugunsten des Mandanten bewegen. Es sind die Ergebnisse am Ende eines Instanzenzuges, die rechtskräftigen Urteile, die dann so manches gerade rücken und wettmachen. Der andere Grund ist deutlich schwerer zu fassen, und auch er hat etwas mit Psychologie zu tun. Der Verteidiger kennt den Delinquenten persönlich und erfährt hautnah dessen Qual, einem rigiden Strafverfahren ausgesetzt zu sein. Der empathische Verteidiger kann oftmals gar nicht anders, als mit ihm zu fühlen. Trotz aller rechtstheoretischen Thesen empfindet sein Mandant sich oftmals nicht als Subjekt des Verfahrens, sondern als ohnmächtiges Objekt. Das hat verschiedene Gründe, die primär im Rechtspolitischen liegen, und dennoch ist man (auch ich) geneigt, dem Entscheidungsträger, also dem Richter oder Staatsanwalt persönlich krumm zu nehmen, dass er eine negative Entscheidung getroffen hat, wo doch alternativ auch eine andere, positivere auch gesetzlich möglich gewesen wäre, für die der Verteidiger zu Recht gekämpft hatte. Man wirft damit letztlich dem gesetzlich bestimmten Entscheidungsträger vor, dass er der Entscheidungsträger ist, wenn einem im Einzelfall die Entscheidung nicht passt. Der Verteidiger unterliegt psychologisch betrachtet der Gefahr, darüber verletzt zu sein, dass er nicht entscheiden darf. Er projiziert seinen Frust darüber auf den Richter und ist – um im Bild zu bleiben – schon unterwegs in den besagten Keller, um das Feindbild zu polieren. Bei genauerer Betrachtung wird man dem Richter oder Staatsanwalt aber seine Rolle im Verfahren kaum vorwerfen können und auch nicht, dass er möglicherweise andere Wertmaßstäbe anlegt, denn diese gibt es in einer pluralistischen Gesellschaft, mögen sie einem im Einzelfall gefallen oder nicht. Es gilt sie in einem komplizierten Verfahren über den jeweiligen Einzelfall hinaus auszutarieren und nicht gewissermaßen diktatorisch durch den eigenen, subjektiven Maßstab ersetzen zu wollen. Plakativ gesprochen: Jeder der sich über die Rolle eines Schiedsrichters beim Fußballspiel nachdenkt, wird dem zustimmen müssen. Man mag sich über die Spielregeln Gedanken machen, aber dem Schiedsrichter, der sich gewissenhaft an die Regeln hält, persönlich einen Vorwurf zu machen, kann nicht richtig sein. Und doch hinkt das Beispiel, da Fußballregeln deutlich einfacher zu bewerten sind als die Strafgesetze und die strafprozessualen Regelungen. Beim Spiel wird man eindeutige Fehlentscheidungen etwa durch Kameraaufzeichnungen kurz und bündig feststellen und benennen können, beim Recht ist das schon aufgrund des großen Spielraums, den der Gesetzgeber dem Richter einräumt, eindeutig schwieriger. Dafür gibt es aber hier Rechtsmittelverfahren, die der Kontrolle dienen und die vom Verteidiger eben ausgeschöpft werden müssen. So geht das Spiel hier, und wenn man ein guter „Spieler“ ist, kann man auch hier mit akribischer Überzeugungsarbeit und ohne Feindbild gewinnen. Aber auch wenn man das alles weiß und theoretisch nachvollziehen kann, ist es angesichts der Dramatik eines Strafprozesses oft schwer, die Spielregeln zu akzeptieren und nicht ins Persönliche abzutriften. Klar ärgert man sich bei manchen Entscheidungen und fragt sich, warum nicht wohlwollender entschieden wurde, wo es doch gegangen wäre, ohne das Recht zu verbiegen. Aber auch in diesen Fällen, hat das Persönliche in einem streng formalisierten Verfahren nichts zu suchen. Es gibt zumeist das Rechtsmitel und kein Richter oder Staatsanwalt nimmt es umgekehrt persönlich, wenn es vom Verteidiger ausgeschöpft wird. Vor Kurzem endete vor dem Landgericht in Krefeld ein Tötungsverfahren. Der Angeklagte hatte nach einem Familienstreit seine Frau erwürgt. Der psychiatrische Sachverständige war
Heinrich der Löwe – der Prozess
Einer der umstrittensten deutschen Herrscher im Mittelalter war Heinrich der Löwe, der ca. 1129 geboren und zunächst ein Vierteljahrhundert von seinem Vetter, Kaiser Friedrich I (wegen seines roten Barts auch Barbarossa genannt), als treuer Verbündeter gefördert wurde. Beide hatten zuvor den Machtkampf der Staufer, denen Barbarossa angehörte, und der Welfen, zu denen Heinrich der Löwe gehörte, beigelegt und Heinrich diente seinem Kaiser als treuer Vasalle im Kampf gegen den Papst und die ihn unterstützenden norditalienischen Städte. Wenige Jahre nachdem Barbarossa 1156 zum König gewählt und zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt worden war, überließ er Heinrich, der bereits den Titel des Herzogs von Sachsen trug, auch das allerdings um die Mark Österreich verkleinerte Herzogtum Bayern. Wahrscheinlich vor dem Hintergrund der Annäherung zwischen Staufern und Welfen, gewährte ihm Barbarossa das königliche Privileg der Investitur zur Einsetzung der Bischöfe von Oldenburg, Mecklenburg und Ratzeburg sowie aller Bistümer, die Heinrich noch im Heidenland jenseits der Elbe zu errichten gedachte. Damit überließ Barbarossa seinem Schützling den Nordosten des Reiches als Betätigungsfeld. Heinrich nutzte die ihm gewährten Freiräume und erwies sich zumal in Sachsen als skrupelloser Territorialpolitiker, mit nicht eben wenigen Feinden unter den anderen deutschen Fürsten. So sehr er einerseits auf der Seite des Kaisers stand und ihn bei seinen Kriegen gegen Norditalien unterstützte, so sehr suchte er seinen Einfluss im Reich auszudehnen. Er gründete München und Lübeck und dehnte seinen Herrschaftsbereich geschickt mehr und mehr aus. Noch ignorierte der Kaiser die sich häufenden Klagen der ins Abseits gestellten anderen deutschen Fürsten. Durch die aus politischem Kalkül von Barbarossa geförderte Heirat mit der Schwester von Richard Löwenherz und Tochter des englischen Königs Heinrich II, steigerte sich Heinrichs ohnehin ausgeprägter Hochmut ins Unerträgliche. Er begann sich wie ein König zu fühlen und handelte dementsprechend rücksichtslos. Als Barbarossa 1169 sich von dem angestrebten Bündnis mit England abwandte und eine Annäherung an Frankreich suchte, stieß er bei dem Löwen erstmals auf Widerstand. 1176 berief Barbarossa den Löwen nach Chiavenna. Er benötigte dringend die Unterstützung seines Vasallen für seinem 5. Feldzug gegen die widerspenstigen Norditaliener, da er im Vertrauen auf den gescheiterten Vorfrieden von Montebello (1175) voreilig große Teile seines Heeres nach Deutschland entlassen hatte und nun dringend neue Soldaten für einen neuen Waffengang benötigte. Heinrich folgte zwar dem Ruf seines Kaisers, forderte aber für die Bereitstellung neuer Truppen die mit großen Silbervorkommen ausgestattete Reichsvogtei Goslar und damit einen der wirtschaftlich wichtigsten Stützpunkte im Norden des Reiches. Indirekt verlangte er damit nahezu eine Gleichstellung mit dem Kaiser. Damit hatte er den Bogen überspannt, denn Barbarossa riskierte lieber eine militärische Niederlage in Norditalien als diesem Erpressungsversuch Heinrichs nachzukommen. Die Verweigerung Heinrichs wog um so schlimmer, als der Kaiser seiner Bitte um Unterstützung durch einen Kniefall vor Heinrich bekräftigte. Die hierin liegende Fehleinschätzung Heinrichs markiert den Anfang vom Ende des persönlichen Verhältnisses zwischen dem Kaiser und seinem Vasallen. Der Zeitgenosse Arnold von Lübeck formulierte es so: „Der Kaiser verbiss für den Augenblick den Ingrimm, der durch die gewaltige Beschämung, die er empfand, in ihm erzeugt war … Da nun der Kaiser sah, dass die Fürsten dem Herzog übel wollten, so begann er mit großer Klugheit auf seinen völligen Sturz hinzuzielen. Weil er aber wohl erkannte, dass er ihn mit Leichtigkeit nicht vernichten konnte, so setzte er mit außerordentlicher Verschlagenheit jedes Mittel in Bewegung in der Hoffnung, ihn, den er mit Gewalt zu überwinden sich nicht getraute, allmählich durch List besiegen zu können.“ Und aus Sicht der zuvor ebenfalls von Heinrich gedemütigten Landesfürsten las sich das nach einem sächsischen Zeitgenossen so ähnlich, aber aus einer anderen Perspektive: Es war „die Missgunst der Fürsten gegen den Ruhm des Herzogs. Weil aber Ruhm den Neid erzeugt und im Menschenleben nichts von Dauer ist, so sahen alle Fürsten Sachsens scheel auf den Ruhm eines solchen Mannes. Denn Heinrich stand bei seinem ungeheuren Reichtum und seinen glänzenden Siegen so hoch in seinem Ansehen, dass es allen Fürsten und Edlen in Sachsen unerträglich erschien. Doch die Furcht vor dem Kaiser band den Fürsten die Hände, dass sie ihre geplanten Umtriebe nicht ins Werk setzten. Als aber der Kaiser den vierten Zug nach Italien vorbereitete und die Zeit eine günstige Gelegenheit brachte, trat die alte Verschwörung sofort offen hervor und es entstand ein mächtiges Bündnis aller gegen einen.“ Fest steht, dass Barbarossa – auch wenn ihm Arnold von Lübeck List unterstellte – sich in der folgenden Auseinandersetzung mit Heinrich streng an die Normen des damaligen Rechts hielt, ohne den Löwen weiterhin zu begünstigen. Nachdem sich der Kaiser nach einer militärischen Niederlage gegen die Lombardenstädte bei Legano mit dem Papst 1177 im Frieden von Venedig versöhnt hatte, griff er erstmals in innersächsische Angelegenheiten ein und verfügte, dass Heinrich bischöfliches Eigentum zurück zugewähren habe. Die Kirche machte ihre somit vom Kaiser unterstützten Ansprüche geltend und Heinrich antwortete mit Waffengewalt. Doch diesmal konnte er nicht mehr auf die kaiserliche Unterstützung hoffen. Barbarossa nahm die Klagen der mit Heinrich verfeindeten Gegenspieler an und lud beide Parteien zum Hoftag zu Worms auf den 13. Januar 1179. Da Heinrich nicht erschien, wurde wahrscheinlich schon an diesem Tage ein Feststellungsurteil gegen ihn zumindest formuliert, wonach Heinrich bei einer weiteren Rechtsverweigerung der Acht verfallen sollte. Der nächste Gerichtstag wurde für den 24. Juni des gleichen Jahres in Magdeburg bestimmt. Da Heinrich auch diesen Termin nicht wahrnahm, wurde das Feststellungsurteil verkündet und damit wirksam. Die hiermit gegen Heinrich beschlossene Acht war als Rechtloserklärung kein abschließendes Urteil, sondern ein prozessuales Zwangsmittel, um den Verurteilten dazu zu zwingen, sich dem Gerichtsverfahren zu stellen. Der Achtspruch konnte zudem durch Zahlung einer Geldbuße innerhalb von 1 Jahr, sechs Wochen und drei Tagen abgewendet werden. Heinrich erkannte den Ernst der Lage und bat Barbarossa um Vermittlung. In Erinnerung an Chiavenna, muss es für Barbarossa eine besondere Genugtuung gewesen sein, die fällige Geldbuße auf die enorme Summe von 5.000 Mark Silber festzusetzen und dabei seinen Gegner richtig einzuschätzen. Heinrich verweigerte erwartungsgemäß die Zahlung, und Barbarossa eröffnete ein sog. Kontumazialverfahren gegen den Löwen nach Lehnsrecht, weil der Herzog weiterhin das Recht nicht befolge, seine Lehnspflichten missachte und durch mehrfaches Nichterscheinen vor Gericht
Sokrates hätte einen guten Strafverteidiger gebraucht!
Das von einem athenischen Gericht verhängte Todesurteil gegen Sokrates im Jahre 399 v. Chr. gilt als einer der großen Justizskandale der Weltgeschichte ,und das will bei all den Justizskandalen schon was heißen. Schriftliches ist von Sokrates nicht überliefert und auch Gerichtsprotokolle liegen den Historikern nicht vor. Unser Wissen über diesen Philosophen und seinen Prozess stammt aus den literarischen Andenken seiner beiden Schüler Xenophon und Platon, aus Interpretationen von Cicero, Augustin bis hin zu Erasmus von Rotterdam, der den Tod Sokrates mit dem christlichen Martyrium verglich und in ihm einen Heiligen sah. In der Aufklärung änderte sich dieses Bild. Sokrates wird als Kämpfer gegen christliche und staatliche Bevormundung verklärt, und weil die Gelehrsamkeit des Volkes so schön zur Aufklärungsidee passte, wurde hinzugedichtet, das Volk habe nach dem Tod von Sokrates voller Reue dessen Ankläger mit dem Tode bestraft. Auch wenn man die Werke der unmittelbaren Zeitzeugen Xenophon und Platon heranzieht, bleibt der tatsächliche dem Prozess zugrunde liegende Sachverhalt kompliziert. Von beiden “Zeugen” existieren Apologien (Verteidigungsreden), die Sokrates gehalten haben soll, aber beide sind sehr unterschiedlich. In fast allen Dialogen Platons taucht Sokrates als Protagonist auf und spielt zumeist sogar die Hauptrolle. Die Dialoge sind voller anschaulicher Details, wodurch ein lebendiges, plastisches Bild gezeichnet wird. Aber inwieweit sind die Dialoge fiktiv? Was wurde dem Protagonisten in den Mund gelegt? Was ist daran sokratisch und was platonisch? Die Zweifel werden noch dadurch verstärkt, dass Xenophon Sokrates – auch in den Details – z.T. ganz anders beschreibt. Mit aller Vorsicht wird man von Folgendem ausgehen können: Die Anklage gegen Sokrates lautete, er habe nicht an die in Athen anerkannten Götter geglaubt, neue Götter eingeführt und die Jugend verdorben. Ihm wird damit der Straftatbestand der Asebie – also der Unfrömmigkeit vorgeworfen. Von den 501 durch Los aus der attischen Bürgerschaft bestimmten Geschworenen sprachen ihn 280 gegen 221 Stimmen schuldig. Da die Strafe für Asebie im Gesetz nicht festgelegt war, fand eine 2. Abstimmung statt, durch die die Todesstrafe gegen Sokrates festgestellt wurde. Nach Platon soll sich Sokrates mit dem Argument verteidigt haben, er habe stets versucht, die Bürger besser zu machen. Ihm gebühre daher keine Strafe sondern die höchste Ehre der Stadt als Belohnung für sein Tun, nämlich die Teilnahme am täglichen Mahl im Prytaneion, dem Amtsgebäude der obersten Stadtbeamten. Nach Konsultation mit seinen Anhängern soll er für sich dann selbst nur einer Geldstrafe beantragt haben. Doch da war es bereits zu spät. Das Gericht fühlte sich durch sein uneinsichtiges Verhalten verspottet, was auch daran abzulesen ist, dass die Zahl der für die Todesstrafe stimmenden Geschworenen höher war als die, die ihn überhaupt für schuldig befunden hatten. Nach Xenophon soll Sokrates hingegen keinen eigenen Strafantrag gestellt haben, da er damit seine Schuld eingestanden hätte. Da das Urteil gegen ihn nicht sogleich vollstreckt wurde, hätte Sokrates mit Hilfe seiner Anhänger fliehen können, und wahrscheinlich hätten die Ankläger sogar ein Auge zugedrückt, wenn er ins Exil gegangen wäre. Aber als treuer Athener weigerte er sich und musste schließlich den berühmten Schielingsbecher trinken. Die Frage, wer Sokrates war, und was ihn für die Athener Bürgerschaft so gefährlich erscheinen ließ ist damit freilich nicht beantwortet. Sokrates wurde ca. 470 v. Chr. als Sohn eines Steinmetzes geboren. Er erlernte das Handwerk seines Vaters und gehörte damit zur Mittelschicht, die als sog. Hoplit durch ihr Einkommen in der Lage war, sich für den Kriegsdienst selbst auszurüsten. Sokrates muss seine Bürgerpflichten sehr ernst genommen haben. Er übernahm Ämter, die ihm – wie in Athen üblich – durch Los auferlegt wurden und zog sogar für seine Stadt in den Krieg. Seine wahren Interessen gingen aber weit darüber hinaus. Er wollte die Welt verstehen und durchlief deshalb zunächst die Schule des bedeutenden Naturphilosophen Anaxagoras, der damals in Athen lehrte. Schon bald überwand er die naturphilosophischen Spekulationen seines Lehrers und widmete sich den Menschen und ihren Handlungsmotiven. Athen befand sich damals in einem ungeheuren Aufschwung, der zu neuen Ideen inspirierte. Von einem vor sich hinlebenden Provinzstädtchen hatte sich Athen etwa 10 Jahre vor Sokrates` Geburt zu einer Großmacht entwickelt, die sich mit einer großen Flotte an die Spitze der griechischen Verteidiger gegen die heranrückenden Perser gestellt hatte. Plötzlich musste Athen in seiner Politik das ganze östliche Mittelmeer berücksichtigen und großräumig Kriege planen und verantworten. Die Dynamik der sich ständig ändernden Ereignisse ließ keine Routine mehr aufkommen. Ständig musste improvisiert und neu gedacht werden. Als Sokrates acht Jahre alt war, wurde die Verfassung umgestürzt und eine konsequente und radikale Demokratie eingeführt. Alle Regierungsentscheidungen wurden von den ungebildeten Handwerkern und Tagelöhnern, die die Mehrheit in der Volksversammlung hatten, wesentlich mitbestimmt. Auch wenn es wundert, funktionierte die Gesellschaft, und Athen blühte auch wirtschaftlich auf. Waren aus aller Welt wurden in der Stadt gehandelt, und Athen wurde zum geistigen Mittelpunkt der griechischen Welt. Das neue Selbstbewußtsein äußerte sich beispielhaft in einem Satz aus einer damals beliebten Komödie, der an die Werbung von Toyota erinnert: “Was ist dieser Stadt zu tun unmöglich?” Als Sokrates im Jahre 431 v. Chr. knapp 40 Jahre alt war, begann Athen unter Führung von Perikles den großen Peloponnesischen Krieg. Weitere ungeahnte gesellschaftliche Kräfte wurden freigesetzt, und man glaubte selbst Sizilien und Karthago erobern zu können. Je höher die Erwartungen wurden, so empfindlicher die Niederlagen. Die Politik bagann sich zu ändern, wurde unter dem äußeren und inneren Druck willkürlicher, grausamer und ungerechter. 404 v. Chr. folgte schließlich der Zusammenbruch, Sokrates war nun in der Mitte seiner 60iger Jahre. Wie die damals vorherrschenden Sophisten beschäftigte sich auch Sokrates mit der Relativität aller Standpunkte, und wie sie kam er zur Einsicht in die Fragwürdigkeit alles Gegebenen. Seine Fragen waren kritisch und anspruchsvoll. Er entwickelte das, was Platon die “sokratische Ironie” nannte. So schmeichelte er in seinen Gesprächen etwa dem kleinen Handwerker, indem er seine Kunst und sein Wissen lobte, um dann aus dem Gespräch heraus einfache Gegenfragen zu stellen – bis offensichtlich wurde, dass die Antworten falsch, unzureichend oder unbegründet waren. Damit wollte er zeigen, dass seine Gesprächspartner letztlich nicht einmal wussten, wie wenig sie wussten. Er nahm für sich in Anspruch, jedenfalls erkannt zu haben, dass
Die Catilinarischen Reden des Anwalts Cicero
Der um 108 v. Chr. geborene Lucius Sergius Catilina entstammte einer der alten römischen Patrizierfamilien, die seit jeher entscheidenden Einfluss auf die römische Regierung hatten. Wie viele andere Aristokraten seiner Zeit (dürfte heute nicht viel anders sein!), führte er den Ehrenkodex der römischen Aristokratie “gloria und dignitas” im Munde, wie ein verfaultes Gebiss. Catalina war zunächst Scherge des Feldherrn und Politikers Lucius Cornelius Sulla und soll in dessen Auftrag mehrere Morde auch innerhalb der eigenen Familie begangen haben. 67 und 68 v. Chr. war er Statthalter in der Provinz Afrika, wo er sich – skrupellos und korrupt wie er war – bereicherte und sich schnell den Ruf eines Hasardeurs eintrug. Vielleicht war das der Grund, warum er bei seiner Rückkehr nach Rom im Jahre 65 v. Chr. bei seiner Kandidatur zum höchsten römischen Amt des Konsuls gar nicht erst zugelassen wurde. Seine Kandidatur im nächsten Jahr scheiterte, weil er sich einem Prozess wegen Erpressung stellen musste. Stattdessen fiel das Amt ausgerechnet an zwei Männer, die Catilina nicht wohlgesonnen waren und sich das Amt des Konsuls teilten: An Gaius Antonius und – für Catilina viel schlimmer – den eloquenten Anwalt Cicero, der sich aus kleinsten Verhältnissen bis ganz nach oben gearbeitet hatte, was die standesbewusste Oberschicht selten zuließ. Als Catilina sich schließlich 63 v. Chr. wiederum für das höchste Staatsamt bewarb, ging bereits im Senat das Gerücht um, Catilina wolle die allgemeine Unzufriedenheit des teilweise verarmten Volkes für einen gewaltsamen Umsturz nutzen. Catilina erkannte, dass das einst für einen Stadtstaat entworfene Regierungssystem, sich als unfähig erwies, das zum Weltreich gewordene Rom zusammenzuhalten. Wie Politiker heute, versprach er seinen Anhängern das Blaue vom Himmel, um an die Macht zu kommen. Schnell zeigte sich, dass an dem Verschwörungsgerücht was dran war. Der Senat beschloss daher das “senatus consultum ultimum”, eine Art Ermächtigungsgesetz, mit dem sich der Senat selbst erlaubte, alles zu tun, um einen Volksaufstand niederzuwerfen. Als Cicero dann noch nur knapp einem von Catilina angestiftetem Mordanschlag entging, ergriff er die Initiative und hielt am 7. November des Jahres 63 v. Chr. die erste von den in die Geschichte eingegangenen Catilinarischen Reden vor dem Senat. Sie beginnt mit den Worten: ” Wie lange, Catalina, willst du unsere Geduld noch missbrauchen? Wie lange soll diese deine Raserei ihr Gespött mit uns treiben? Bis zu welchem Ende soll die zügellose Frechheit ihr Haupt erheben?… Was für Zeiten, was für Sitten!” Die zweite “Catilinarische Rede” am nächsten Tag überzeugte schließlich den Senat, der Catilina noch im gleichen Monat zum “hostis populi Romani”, also zum Staatsfeind erklärte. Damit verlor Catilina seine Bürgerrechte und durfte von jedem ungestraft getötet werden. Die enttarnten Mitglieder der Verschwörung wurden umgehend verhaftet, und Catilina floh zu seinen ihm immer noch treu ergebenen Truppen. Mit seiner dritten Rede über die Verhaftung der Catilianer löste Cicero im Senat eine leidenschaftliche, kontroverse Debatte aus. Was sollte mit den catilinarischen Verschwörern passieren? Cicero plädierte für Härte. Nach dem Gesetz hatte aber das Volk über Kapitalverbrechen zu entscheiden und nicht der Senat, dem keine Rechtsprechungsgewalt zukam. Der damals noch junge Caesar warnte davor, das Gesetz zu missachten und quasi per Notstandsgesetzgebung die staatliche Ordnung zu umgehen. Damit würde auch für die Zukunft staatlicher Willkür Tür und Tor geöffnet. Caesar sprach sich für Milde gegenüber den gefangenen Verschwörern aus. Sie sollten lediglich verbannt und ihr Vermögen eingezogen werden. Nach seiner vierten Catilinarischen Rede erhielt Cicero unerwartete Stützenhilfe von dem mächtigen Senator Cato, der darauf hinwies, dass geständige Verbrecher auch ohne Prozess hingerichtet werden konnten. Deshalb seien die Hochverräter mit dem sofortigen Tode zu bestrafen. Ob die Verschwörer damals tatsächlich geständig waren oder nicht: Cato und Cicero setzten sich durch, und die Catilianer wurden im Rahmen des Notstandsgesetzes auf Anordnung des Senats erdrosselt. Wenig später starb auch Catilina im Kampf gegen die nach ihm ausgessandten Truppen des Senats. Der damit begangene Verstoß gegen die römische Verfassung blieb allerdings auch für Cicero nicht folgenlos. Er wurde wegen der juristisch zweifelhaften Todesurteile gegen die Catilianer im Jahre 58 v. Chr. aus Rom verbannt. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach Die Informationen zu diesem Artikel stammen u.a. aus dem Buch „50 Klassiker – Prozesse“ von Marie Sagenschneider, Gerstenberg Verlag
Angeklagter, sie sind ein Schwein!
Dieser Ausspruch eines fiktiven Richters aus dem Mittelalter beinhaltete keine Beleidigung, sondern nur die Feststellung, wer da auf der Anklagebank saß. Noch bis ins 19. Jahrhundert wurden Tiere von weltlichen und kirchlichen Gerichten bestraft – zumeist mit dem Tod durch Erdrosseln, z.T. auch durch Verbrennen, Steinigen, Blenden, Auspeitschen, Teeren und Federn, Abschlagen von Gliedmaßen oder Haupt sowie Ausdärmen. Ca. 150 solcher Tierprozesse sind seit dem 9. Jahrhundert dokumentiert, ein Großteil davon in Frankreich. Tierprozesse waren wie die Hexenverfolgungen ein Versuch, Katastrophen, Unfälle oder Verbrechen erklärbar zu machen. Insofern enthält der 1993 von Leslie Megaheys gedrehte Film “The Hour of the Pig” (Pesthauch des Bösen) durchaus einen wahren Kern. In dem Thriller geht es um einen jungen Pariser Anwalt, der mit der Verteidigung eines Schweins beauftragt wird, das in einem noch im Mittelalter verhafteten französischen Dorf ein Kind ermordet haben soll. Er hält diese Aufgabe zunächst für Schwachsinn, stößt bei seinen Nachforschungen aber auf Ungereimtheiten in der Anklage, die ihn zum wahren Täter führen. Die Schweinehaltung hatte sich seit dem Mittelalter in weiten Teilen Europas bis in die Städte ausgedehnt, wo sie sich unter dem Schutz des Heiligen Antonius frei in den Häusern und Straßen bewegen konnten. Nicht selten verursachten sie dabei Unfälle oder fraßen in einem unbeaufsichtigten Moment den ungeschützten – aber für Schweine anscheinend leckeren – Säugling ihres Besitzers. Gerade Schweine – vielleicht auch weil sie dem Menschen so ähnlich sind – erhielten deshalb öfters als andere Tiere förmliche Vorladungen zu Gericht und wurden so nicht nur Opfer von Metzgern, sondern auch der Justiz, die ja schon immer gerne in fremden Handwerken herumgepfuscht hat. Noch im 18. Jahrhundert wurde einem englischen Schwein in einem ordentlichen Gerichtsverfahren mit Richter, Ankläger und Verteidiger in öffentlicher Hauptverhandlung der Prozess gemacht, weil es ein Kind getötet hatte. Zur Abschreckung mussten alle Schweine der Region zusehen, wie das arme Schwein gehenkt wurde. In einem ähnlich gelagerten Fall in Frankreich, wurde 1379 gleich die ganze Schweineherde wegen unterlassener Hilfeleistung zum Tode verurteilt, weil sie tatenlos zusah, wie ein Mitschwein dem Sohn des Schweinhirten den Garaus machte. Um die mit dem Urteil verbunden wirtschaftliche Katastrophe für den Schweinehirten abzuwenden, begnadigte der Herzog von Burgund in einem lichten Moment die Herde. Aber nicht nur Schweine wurden vor Gericht gezerrt. Obwohl auch den mittelalterlichen Juristen durchaus klar war, dass Tiere einem Prozess intellektuell kaum folgen konnten und sogar streitig war, ob Tiere überhaupt eine Seele besäßen, wurden Missetaten von Pferden, Eseln, Kröten und Insekten aller Art in förmlichen Gerichtsverfahren behandelt. Prozesse gegen Haus- und Nutztiere wurden zumeist vor weltlichen Gerichten verhandelt, während sich die Kirche eher mit Schädlingen, wie z.B. Ratten, Mäusen, Kröten und Insekten befasste. Bei den Schädlingsprozessen ging es zumeist um territoriale Fragen. Hatten etwa Heuschrecken das Recht, sich auf dem bäuerlichen Feld aufzuhalten und die Ernte zu fressen? So bestimmte ein angerufenes Gericht im 17. Jahrhundert, dass den Raupen im Tessin zwar ein Lebensrecht zustehe, sie aber die Felder zu verlassen hätten. Sie sollten ihr Lebensrecht gefälligst im Wald austoben. In einem besonders schönen Prozess klagten 1713 Franziskanermönche in San Antonio / Brasilien gegen riesige weiße Ameisen, die ihr Klostergelände beanspruchten. Den Ameisen wurde ein kluger Anwalt beiseite gestellt, der darauf hinwies, dass die Ameisen schon viel länger in Südamerika lebten als die Mönche und überdies auch deutlich fleißiger als die Kläger seien. Das Gericht verlas das Urteil vor dem Ameisenhaufen und verwies diese auf eine von den Franziskanern zu beschaffendes Ersatzgrundstück. Das Kirchengericht der Bischofsstadt St. Jean de Maurienne urteilte 1546 ebenfalls sehr christlich und stellte fest: “Gott hat die Erde mit Früchten und Pflanzen bedeckt, sodass sie alle seine Geschöpfe ernähre.” Mit dieser Begründung wies es die Klage von Weinbauern ab, die sich gerichtliche Hilfe gegen gefräßige grüne Käfer auf ihren Weinfeldern erhofft hatte. Die Welt war damals halt noch in Ordnung – unterteilt in das Gute und das Böse – so wie der zum Glück ausgeschiedene amerikanische Präsident Busch und sein Gefolge es noch heute gerne sehen würden. Der Teufel trat häufig in Gestalt eines Tieres auf, und so führten Aberglaube und religiöse Vorstellungen zu den bizarrsten Prozessen, von denen wir heute als Strafverteidiger nur träumen können. Im Mittelpunkt stand die böse Tat, die z.T. auch vom Opfer gesühnt werden musste. So besonders in Fällen von Sodomie, die seit 1532 durch Einführung der “Constitutio Criminalis Carolina” – dem von Karl V. erlassenen Strafgesetzbuch – nun auch offiziell in Europa geahndet werden konnte. In Art. 116 der Carolina heißt es: “So ein Mensch mit einem Viehe, Mann mit Mann, Weib mit Weib Unkeuschheit treiben, die haben auch das Leben verwirkt, und man soll sie der gemeinen Gewohnheit nach mit dem Feuer vom Leben zum Tode retten.” Aber auch außerhalb von Europa war Sex mit Tieren für beide Seiten, also Tier und Mensch, strafbar. Dies musste der auf einem Bauernhof in New Haven lebende Mr. Potter 1662 leidvoll erfahren, nachdem ihn seine Frau mit der Familienhündin inflagranti erwischt hatte. In dem nachfolgenden Prozess kam das ganze Ausmaß von Mr. Potters Verbrechen zu Tage. Er wurde – nachdem der arme Hund schon zuvor gemeuchelt worden war – zusammen mit einer Kuh, zwei Kälbern, drei Schafen und zwei Ziegen zum Galgen geführt. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach Der Artikel basiert auf „Prozesse gegen Tiere“ in dem Buch 50 Klassiker – Prozesse von Marie Sagenschneider; Gerstenberg Verlag
Nicht Fleisch, sondern Fisch! Juristen waren schon immer findig.
Für Juristen muss es kaum ein schöneres Zeitalter als das Elisabethanische in England um 1600 gegeben haben. Wunderschöne Gesetze und Verordnungen, die das Alltagsleben der Menschen bis ins Kleinste reglementierten, mussten zum Machterhalt der verrückten Königin Elisabeth (1558 bis 1603) und zur notwendigen Terrorisierung der Bevölkerung erdacht, ausgelegt und angewandt werden. Eine verantwortungsvolle, sadistische und sicher einträgliche Aufgabe für einen Berufstand, von dem ketzerische Zungen bestimmt zu Unrecht behaupteten und immer noch behaupten, er löse Probleme, die es ohne ihn kaum gäbe. Deshalb galt: Nieder mit den Ketzern und schnell ein paar ausgeklügelte Vorschriften zur Begründung des damals häufig verkündeten Urteilsspruchs: „Du sollst von hier zu dem Ort geführt werden, von da du kamst … und dein Leib soll geöffnet, dein Herz und dein Gedärm herausgezogen und dein Gemächt abgeschnitten und vor deinen Augen ins Feuer geworfen werden.“ Und schon wieder war ein wunderbares juristisches Auslegungsproblem geschaffen: Was sollte mit den weiblichen oder blinden Delinquenten – und noch verzwickter – mit weiblichen und blinden Delinquenten geschehen, denen man vielleicht wegen einer kleinen Vorstrafe bereits zuvor die Augen ausgestochen hatte? Aber zum Glück gab es ja damals schon nicht nur die grammatikalische Auslegung, sondern auch die nach Sinn und Verstand, also die teleologische, die breiten Raum für wissenschaftliche Dispute, Aufsätze, vielleicht sogar Dissertationen, eröffnete. Ich weiß nicht, wie das konkrete Problem seinerzeit gelöst wurde, aber sicher kam man schnell auf die Idee, Augenhöhlen ausreichen zu lassen, und sicher fand sich auch bei dem verurteilten Weibe ein passendes Körperteil, das man als Äquivalent für´s „Gemächt“ abschneiden und ins Feuer werfen konnte – z.B. die Nase? Ja, es war eine fantastische Zeit, damals im alten England – zumindest für Juristen. Absurde Luxusgesetze legten präzise fest, dass bei einem Jahreseinkommen von 20 Pfund zwar ein Satinwams, aber keinesfalls eine Satingewand getragen werden durfte. Verdiente man hingegen 100 Pfund, durfte man so viel Satin tragen, dass es albern wirkte, aber nur unten rum oder als Wams, nicht aber als Oberbekleidung, und auch nur dann, wenn der Samt nicht purpurfarben oder blau war, denn diese Farben waren den Rittern des Hosenbandordens und ihnen gesellschaftlich Gleichgestellten zugedacht. Seidene Strümpfe wiederum standen Rittern und ihren ältesten Söhnen sowie manchen Gesandten und königlichen Bediensteten zu. Unzählige komplizierte Vorschriften bestimmten die Menge des Stoffes, den man für gewisse Kleidungsstücke verbrauchen durfte und ob der Stoff gefältelt oder glatt zu tragen war. Um den schädlichen Export von Hüten einzudämmen, wurde flugs ein Kappengesetz erlassen, wonach bei Geldstrafe keine Hüte, sondern nur noch Kappen – natürlich von einheimischen Kappenmachern – getragen werden durften. Auch die Mahlzeiten waren detailreich und je nach Stand reglementiert. So standen einem Kardinal neun Gänge zu, während Menschen mit einem Einkommen von 40 Pfund im Jahr nur zwei Gänge und eine Suppe gewährt wurden. Zum Glück gab es wenigstens diesbezüglich für die durch Ernteknappheit und horrende Rüstungsausgaben gebeutelte arme Bevölkerung keine Vorschriften. Sie durften straflos verhungern. Eine geradezu liberale Neuerung war es, dass man seit König Heinrichs VIII. Bruch mit der katholischen Kirche in Rom nicht mehr mit dem Tod durch den Strang bestraft wurde, wenn man freitags Fleisch statt Fisch zu sich nahm. Beging man diesen Frevel allerdings in der Fastenzeit, konnte man für drei Monate im Kerker landen, wenn man sich dabei erwischen ließ. Auch hier zeigte sich, wie findig die Juristen schon damals waren. Man konnte der Strafe durch Zahlung eines kleinen Obolus an die Kirche entgehen und schließlich fanden die Juristen, die offenbar selbst lieber Fleisch als Fisch aßen, einen geradezu genialen Auslegungstrick. So wurde das meiste helle Fleisch, z.B. vom Kalb oder Geflügel, kurzerhand als Fisch eingestuft, wodurch die Juristen endlich die Gelegenheit nutzten, sich jedenfalls mit den fleischessenden Ketzern auszusöhnen. Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach Informationen zum Artikel stammen u.a. von Bill Bryson, „Shakespeare wie ich ihn sehe“, Goldmann, 1.Aufl. 2010
Egon Schiele war doch kein Kinderschänder!
Ich gebe es zu. Die Tatsache, dass der zusammen mit Gustav Klimt und Oskar Kokoschka bedeutendste Künstler der Wiener Moderne, der Expressionist Egon Schiele, wegen des Verdachtes des sexuellen Missbrauchs am 13. April 1912 in der westlich von Wien gelegenen Stadt Neulengbach verhaftet wurde, ist bloß ein Aufhänger, um im Strafblog – völlig am Thema vorbei – einen Kulturtipp zu geben. Vor einigen Wochen hörte ich auf der Autofahrt zu irgendeinem Gericht einen Bericht auf WDR 5. Es ging um die Auszeichnung des Comic-Biografen Willi Blöß mit dem Deutschen Biografiepreis 2012. Der Mann begann mich zu interessieren und so forschte ich am Abend ein wenig im Internet, um mehr über den Preisträger zu erfahren. In den Westfälischen Nachrichten wurde ich fündig. Dort stand sinngemäß zu lesen, dass der Aachener Autor und Illustrator Willi Blöß seit 2002 ca. 20 Künstlerbiografien als Comics im Taschenkalenderformat erstellt hat, die sowohl inhaltlich als auch künstlerisch besonders gelungen seien. In dem WDR 5-Bericht hatte ein Kunsthistoriker behauptet, man könne die Heftchen in 15 Minuten durchlesen und erführe alles Wichtige über den Werdegang des jeweiligen Künstlers. Ich rief die Homepage von Blöß www.kuenstler-biografien.de auf und bestellte alle Biografien für den Spottpreis von 3€ pro Heft. Einige Tage später erhielt ich mit der Post einen richtigen, kleinen Schatz: Comicbiografien von Heronymus Bosch Pablo Picasso Caspar David Friedrich und William Turner Nam June Paik Paula Modersohn-Becker Hundertwasser Andy Warhol Frida Kahlo Salvador Dali Horst Janssen Gustav Klimt Ottmar Alt David Hockney Vincent van Gogh Der Blaue Reiter Joseph Beuys Klaus Staeck Keith Haring George Grosz Niki de Saint Phalle und eben Egon Schiele, von dem ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Ich nahm das kostbare Heftchen in die Hand, betrachtete die sehr gelungenen Illustrationen und las mit Begeisterung die knackige Story von Egon Schieles Leben im Wien um das Jahr 1900. So sehr seine damals provozierende Malerei das damalige Establishment aufregte, so sehr schienen Kinder und Jugendliche von dem jungen Künstler fasziniert gewesen zu sein. Sie besuchten ihn in seinem Atelier und Freundschaften entstanden. Als ihm aber ein 13jähriges Mädchen von Wien aus nach Neulengbach, wo er sich vor den Protesten spießiger Kritiker hingeflüchtet hatte, nachreiste, platzte der Obrigkeit der Kragen. Man beschuldigte ihn der Entführung und des Missbrauchs. Der Vorwurf wurde wenig später von den Eltern des Mädchens zurückgezogen. Übrig blieb aber eine Anklage wegen seiner pornographischen Bilder. Ein Richter verurteilte ihn in beispielhafter Doppelmoral schließlich zu 24 Tagen Gefängnis, aber nicht etwa wegen der Fertigstellung pornographischer Bilder, sondern weil diese überall offen herumgelegen hatten. Jetzt freue ich mich auf die nächsten Heftchen, die ordentlich gestapelt vor mir liegen. Im November soll übrigens die 22. Biografie über Edward Hopper erscheinen. Die werde ich mir natürlich auch besorgen! Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Kunstraub im Louvre! Stahl Picasso die Mona Lisa? Eine nahezu wahre Geschichte!
Der Kommissar war klein und dünn, von überschäumendem Temperament und fest entschlossen, diesen Fall von nationaler Bedeutung aufzuklären. Er lehnte sich in seinem ausgesessenen Lederstuhl quietschend zurück und sah den spanischen Delinquenten – über seinen mit verstaubten Akten überquellenden Schreibtisch hinweg – mit Widerwillen an. Der Delinquent war ebenfalls klein aber drahtig, soweit man das unter seinem mit noch frischer Farbe besprenkelten Mechaniker-Outfit* beurteilen konnte. Seine Augen waren tiefbraun, und normalerweise beobachtete er damit die Welt mit unersättlicher Neugierde. Nun aber hatte er die Beine übereinandergeschlagen und saß zusammengesunken auf einem morschen Holzstuhl vor dem Tisch des Kommissars. Nachdenklich betrachtete er – wie Barack Obama beim 1. Fernsehduell mit Mitt Romney – seinen rechten Schuh, mit dem er nervös wippte. Der Kommissar überlegte, wie dieser Gnom aus der schäbigen Holzbaracke „Bateau Lavoir“ am Momartre an dies schöne Frau kam, die nun vor seinem Dienstzimmer mit ihrem Stöckelschuh-Stakkato auf und ab ging und auf ihren Liebsten wartete. Und wie verachtend sie ihn angesehen hatte, als er sie für das Verhör nach draußen auf den Gang des Polizeireviers komplementiert hatte – diese Schlampe. Wie hieß sie noch gleich? Der Kommissar beugte sich vor und blätterte in seinen Notizen. Fernande Olivier – von Beruf „Modell“. Na, was das für ein Beruf war, konnte sich der Kommissar lebhaft vorstellen und dennoch: Diese Beine, der knackige kleine Hintern … und jetzt stolzierte sie da draußen vor seiner dünnen Pinientür hin und her und erzeugte mit ihren Stöckelabsätzen bei jedem Schritt kleine Dellen im grünen Linoliumboden. Der Kommissar spürte wie ihm die Hose langsam zu eng wurde und eine gewisse Hitze ihn plötzlich von unten nach oben überflutete. Er nahm seinen Notizen, lehnte sich wieder zurück und legte sich die Papiere in Verdeckungsabsicht auf seinen Schoß, aber schon war der Anfall vorbei. Er warf die Notizen mit einem bedrohlichen Knall zurück auf den Schreibtisch. „Also, Monsieur Picasso – oder soll ich sie lieber mit ihrem vollständigen Namen anreden?“ Wieder griff sich der Kommissar einen Zettel vom Schreibtisch und las mit höhnischem Tonfall vor: „Pablo Diego Jose Francisco de Paula Juan Nepomuceno Maria de los Remedios Crispin Crispriano Santisima Trinidad Ruiz Picasso, geboren am 25.10.1881 in Malaga, Spanien?“ Der Kommissar runzelte die Stirn. „Das erinnert mich irgendwie an Karl May. Sie wissen schon – Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah. Irgendwie seid ihr alle ein wenig durchgedreht, ihr Künstler! Sie bezeichnen sich doch als Künstler, wie ich gehört habe?“ Der kleine Mann vor ihm hörte auf mit dem Fuß zu wippen und schaute ihn freundlich, ja fast neugierig, an. Dann erwiderte er in einer kaum verständlichen Mischung aus Spanisch und Französisch. „Herr Kommissar, ein Künstler namens Hadschi … ist mir noch nicht begegnet. Selbst Karl May würde ich allenfalls als Lebenskünstler bezeichnen. Aber vielleicht wird irgendjemand in ferner Zukunft Ihre These stützen und behaupten, jeder Mensch sei ein Künstler *. Das Durchgedrehte macht den Künstler aus, und tatsächlich sind wir Menschen – jeder auf seine Art – alle ein wenig durchgedreht, wobei ich Ihnen natürlich nicht zu Nahe treten möchte. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich bin ein verarmter Maler, auch wenn ich mich in einem Selbstportrait mal als „Yo- el rey“ (Ich bin der König) bezeichnet habe. Davon dürfen Sie sich nicht irritieren lassen. Das war nach meinem Debüt auf der Weltausstellung 1900 in Paris. Ich war damals erst 19 und kam gerade von der Kunstakademie „La Lonja“ in Barcelona nach Paris. Der Ruhm ist mir damals zu Kopf gestiegen. Seither ging es ein wenig bergab. Selbst an den Farben musste ich sparen, Herr Kommissar. So malte ich in der Zeit von 1901-1904 fast nur mit blau*, weil ich günstig an die Farbe kam und sie – die Gunst der Stunde aufgreifend – direkt eimerweise erstand. Die zwei Jahre danach kam ich günstig an rosa*. Sie können es meinen Bildern ansehen. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Und zurzeit, naja. Sagt Ihnen der Name Cézanne etwas? Ein teuflisches Genie, das in seinen Bildern die Natur in Kugeln, Kegeln und Zylinder zerlegt. Mein Freund Georges, Georges Braque, falls Sie schon mal was von ihm gehört haben, wir experimentieren mit seinem künstlerischen Ansatz. Leider ohne allzu großen Erfolg. Man hält mich demzufolge für einen irren Salonkubisten. Aber, die Leute werden sich noch wundern, das verspreche ich Ihnen, Herr Kommissar. Dürfte ich bei der Gelegenheit fragen, warum Sie mich eigentlich vorgeladen haben?“ Der Kommissar zündete sich gemütlich eine Zigarette an. Dann nahm er erneut die Gauloises-Packung vom Tisch, schnippte routiniert mit dem Zeigefinger gegen den Boden der Schachtel und beförderte damit geschickt eine einzelne, filterlose Zigarette zu einem Drittel hervor. Diese bot er mit einem ironischen Lächeln großzügig seinem Gegenüber an. „Entspannen Sie sich! Welchen Tag haben wir heute, Herr Picasso, oder wie auch immer Sie richtig heißen?“ „Nun, ich würde sagen der 9. September 1911, Herr Kommissar? Oder verwechsele ich das Datum?“ „Nein, nein, genau richtig, Herr Künstler! Was haben Sie am 21. August gemacht? Das will ich von Ihnen wissen!“ „Am 21. August – mmh? Keine Ahnung. Was für ein Wochentag war das?“ „Das war ein Montag. Und bitte, ich will jedes Detail wissen!“ Pablo dachte angestrengt nach: „Bestimmt stand ich morgens oder gegen Mittag auf, putzte mir die Zähne und wusch mir das Gesicht. Danach Frühstück. Croissants, Butter, Café au lait. Hierdurch gestärkt fiel ich wahrscheinlich wieder über meine Freundin Fernande her. Ich vermute, dass ich ihr die Zeitung abnahm, die sie morgens immer liest, ihr die gerade erst frisch angezogenen Klamotten vom Leib riss und sie wieder ins Bett zog. Sie müssen wissen, dass unsere Beziehung gerade irgendwie in der Krise ist. Da muss ich mir eben besondere Mühe geben. Sie verstehen … Wollen Sie wirklich jedes Detail wissen?“ Eigentlich hätten den Kommissar genau diese Details viel mehr interessiert als den Kunstraub, den es aufzuklären galt – wenn er ehrlich zu sich gewesen wäre. Er öffnete seinen obersten Hemdknopf, stand von seinem Sessel auf und stützte sich schweratmend mit beiden Händen auf seinen Schreibtisch. In dieser Sekunde war ihm noch nicht klar, was in ihm vorging, und von Sigmund Freud, der